Читать книгу Die Efeufrau - Nieke V. Grafenberg - Страница 5
ZWEI
ОглавлениеAuf dem Weg in die Stadt versuchte Eva, die Ruhe zu wahren. Vor der Polizei hatte sie Angst, seit sie auf dem Dorf eine Schaufensterscheibe zerschlagen hatte. Feixende, pubertäre Fresse, sie sah den Knaben noch vor sich, war kopflos gewesen vor Wut. Ihr Schneeball hatte ihn verfehlt, Hals über Kopf war sie weggerannt, hatte später Ärger bekommen, obwohl sie die Juwelen nicht geklaut hatte. Seither bereitete der Anblick eines Polizisten ihr Unbehagen, machte ihr wider jede Vernunft ein schlechtes Gewissen. Bei heulenden Sirenen in der Nähe wusste sie: Sie kamen wegen ihr.
Tuut, tu-tut, tuut - das wilde Hupkonzert an der Ampel galt ihr. Grüner wird's nicht, du blöde Kuh! Im Rückspiegel, gut ausgeleuchtet von der Nachmittagssonne, das nur mühsam beherrschte Mienenspiel eines Unbekannten. Ernst konnte auch so stier gucken, Augen wie grauer Kitt, kalte, stumpfe Murmeln, wenn er wütend war. Konnte strafen, indem er sie ignorierte und tagelang nur mit den Kindern sprach. Der Knall der Arbeitszimmertür, die hinter ihm ins Schloss fiel, ihre Empörung über die unausgesprochene Zurückweisung. Eva sah sich in sein Refugium dringen, sie hörte sich brüllen:
„Das hält ja kein Schwein aus! Sofort redest du mit mir!“
Doch die verbale Attacke war Wunschdenken, reine Illusion. In Wirklichkeit hatte sie sich nicht getraut.
Kurz nach halb drei erreichte Eva die Innenstadt. Sie bog in die Herrenstraße mit ihren prachtvoll restaurierten Hausfassaden. Von Anfang bis Ende Barock, zuckerbäckerfarben, sie schloss die Augen vor der blendenden Pracht. Die nie gewesene heile Welt, an dieser Stelle kredenzte man sie ihr als Tränen treibendes, unverdauliches Sahnebaiser. Förderschule im lang gestreckten Puppenhaus, Eva rümpfte die Nase. Rosarote Zukunftsmalerei, wo die Zukunft keinesfalls rosig schien.
Gegenüber, schwarz hingetuscht auf den Bürgersteig, bizarr und gespenstisch zugleich das Schattenzerrbild eines Balkenskeletts. Die Musikschule im Malergerüst als grotesker, hohlwangig grinsender Sensenmann. Davor und dahinter eingeschränktes Halteverbot, Be- und Entladen war zwar erlaubt, aber Nina ließ ungewöhnlich lange auf sich warten. Eva löste den Haltegurt. Der Beifahrersitz lag im Schatten, sie reckte sich und kurbelte das Seitenfenster herunter. Gerade wollte sie den Häuserblock umrunden, da schlenderte Nina durch das Portal. Sie steckte den Kopf ins Auto und hielt Eva die flache Hand hin.
„Die G-Seite ist gerissen! Acht Euro - ich hab's für dich ausgelegt!“
Evas Finger umspannten das Lenkrad.
„Nicht jetzt! Nun mach schon, beeil dich!“
Nach einem Blick auf die gereizte Miene der Mutter riss Nina die Hecktür auf und verstaute den Geigenkoffer auf der Rückbank. Dann setzte sie sich betont langsam auf den Beifahrersitz.
Das Polizeirevier, gleichfalls barock, lag gleich um die Ecke. Vor dem Gebäude eine Reihe freier Parkplätze. Eva kniff die Augen zusammen, vor Aufregung schien ihr Sehvermögen getrübt. Wo waren die Hinweisschilder für schuldig und unschuldig? Plötzlich war ihr Mund wie ausgedörrt, sie schluckte und fragte:
„Bist du ganz sicher, dass du mit rein willst?“
„Mama - ich bin kein kleines Kind mehr!“, fauchte Nina, sie war doch sonst nicht so. Spitze Eckzähne gruben sich in die Unterlippe, ihr Griff ging zur Jacke und zum Türhebel. Mit langen Schritten steuerte sie die doppelflügelige Glastür des Polizeigebäudes an.
Als Anmeldung diente ein schäbiger Raum mit zwei ramponierten Stühlen, auf denen sie bitte Platz nehmen sollten. Trüben Blickes musterte Eva die Abgrenzung. Eine auf Unterschränke gedübelte Arbeitsplatte teilte den Raum, war Kommunikationstresen und Distanzhalter zugleich. Ein hüftbreites Teilstück war aufklappbar. Unterhalb der Klappe Uniformbeine in festen Schuhen, oberhalb ein neutrales Jungengesicht über dem Kurzarmhemd. Die Stimme kam Eva vage bekannt vor. War er es, mit dem sie am Morgen gesprochen hatte? Der Schreibtisch mit dem Telefon befand sich unter dem Fenster. Ein Streifen Sonnenlicht glitt durch die Scheiben, verwandelte tanzende Staubpartikel in Schwärme von glänzenden Irrlichtern, der blanke Strahl hob dort, wo der Wasserkocher stand, das aufgeworfene Furnier überdeutlich hervor.
Die rissigen Blasen im Holz versetzten Eva einen Schlag in die Magengrube. Ihre Hand mit der Kaffeetasse über Ernsts Arbeitsplatz. Seine gereizte Bewegung aus dem Handgelenk, mit der er den mousepad als Untersatz heranzog. Die unverhohlene Missbilligung in seiner Stimme: Mach bloß keine Macken!
Die Bilder jagten sich: angriffslustig gebleckte Zähne, ein durchbohrender Blick. Behaarte Urwaldfäuste trommeln auf imposanter Brust, der hohle Ton lässt das Zwerchfell vibrieren. Das hier ist mein Revier ... Hatte Ernst nicht schon schief geguckt, wenn sie nur ihre Hand auf die eichene Platte stützte?
Der Polizist hinter der Abgrenzung klemmte sich eine Akte unter den Arm und steuerte den Schreibtisch an. Er nahm den Telefonhörer auf und räusperte sich. Der Faxapparat spie immer neue, druckfrische Seiten aus.
Müde ließ Eva den Kopf in den Nacken sinken. Er traf auf eine Kante, sie wandte sich um. In Hinterkopfhöhe war eine solide Holzdiele angenagelt. Die ohnehin schmutzig gelbe Wand, sollte sie etwa vor Fettflecken bewahrt bleiben? Das stahlblaue Klappsofa fiel ihr ein, das umhäkelte Schondeckchen für Großvaters Spiegelglatze. Das Brett hinter ihrem Kopf, es war mit Sicherheit als Schutzschild gedacht.
Das gemurmelte Telefongespräch brach ab, mit geübtem Griff stemmte der Beamte die Klappe hoch, zwängte sich durch den schmalen Durchlass und führte sie einen verlassenen Flur entlang.
Rätselhafte Geräusche hinter den stahlgrauen Türen, eine so wenig einladend wie die andere, wie Zellentüren kamen sie Eva vor. Reste von Tageslicht mühten sich durch das gläserne Viereck im oberen Drittel, zwei Leuchtröhren schwächelten unter der hohen Decke. Außen verspielter Barock, innen funktionaler Tunnel - drei Paar Schuhsohlen marschierten in trügerischer Harmonie, polterten hohl wie die Stiefelabsätze der Spuksoldaten in den historischen Kasematten unter der Stadt.
Am Ende des Ganges ließ der Beamte sie allein. Eva starrte auf das Schild neben der Türfüllung. Zimmer dreizehn war ein gutes Omen, sie war am dreizehnten geboren, aber unterhalb der Zahl dick und fett das Wort Kriminalpolizei! Eva suchte den Blick ihrer Tochter. Vermisstenmeldungen waren bei Mord und Totschlag angesiedelt? Schwer stützte sie sich auf die Lehne des einzigen Stuhls weit und breit.
„Mama, warum setzt du dich nicht?“
Nina drückte sie auf den hölzernen Sitz und ließ ihre Jacke auf Evas Schoß gleiten. Falls ihr aufgefallen war, dass sie bei der Kripo gelandet waren - sie ließ sich nicht beeindrucken. Sie studierte den Aushang am schwarzen Brett. Ein Terrorist ordentlich aufgereiht neben dem anderen, Augen vor dem Blitzlicht in Höhlen versteckt, mürrischer Mund, die Haare meist strähnig. Alles in allem wirkten die jungen Gesichter ähnlich verblasst wie das einmal schwarzweiße Plakat. Ohne die frisch gewaschenen Haare, dachte Eva, und das sorgfältig aufgelegte Make-up hätte sie ihr Abbild mit Leichtigkeit darunter mogeln können. Für die Rubrik besondere Kennzeichen wären der Leberfleck über dem Mundwinkel und die Partie von den Schläfen zum Kinn in Frage gekommen, die war ihr vom Vater mitgegeben und ein wenig lang geraten. Eva musterte Nina von der Seite. Die Gesichtszüge der Großmutter hatten sich durchgesetzt. Beide Töchter hatten das perfekte Oval geerbt und die kurze, gerade Nase. Nase wie Gesichtsform hatten eine Generation übersprungen, die anderen Frauen der Familie mit ihren länglichen Gesichtern und den breiten Stupsnasen konnten sich nicht messen.
Endlich sprang die graue Tür mit der Milchglasscheibe auf, ein Mann in Jeans bat sie herein. Nina, die Hände auf dem Rücken verschränkt, reagierte nicht, sie las in der Rubrik hausinterne Nachrichten für Beamte, als ginge sie das alles nichts an. Erst als er sich räusperte und die Tür abwartend für sie offen hielt, trat sie doch noch mit ein.
„Nehmen Sie ruhig Platz - dort bitte - der Kollege kommt gleich!“
Eine auffordernde Geste, zwei nebeneinander stehende Stühle, und wieder waren sie allein, warteten still und stumm, dass jemand sich zeigte, der zuständig war. Würde er jung sein und unerfahren - Eva suchte vergeblich, die Füße ruhig zu halten - oder würde ein lang gedienter, erfahrener Kriminalbeamter sich ihrer annehmen? Durch die angelehnte Tür zum Nebenraum hörte sie dumpf: Die Kundin ist da.
Eine seltsame Bezeichnung für einen Ort wie diesen, dachte Eva, auch wenn sie einer Bezeichnung wie verdächtiges Subjekt oder Verdächtige vorzuziehen war. So ausgelaugt wie sie sich fühlte, bang wie in den Minuten vor einer Operation, wäre Patientin wohl am ehesten angebracht gewesen.
Beklommen ließ Eva den Blick durch das Vernehmungszimmer wandern. Bestimmt sah eins wie das andere aus, glich, wie die grauen Türen im Flur, aufs Haar dem Büro ein Stockwerk darüber. Möbel auf Rohrstahlfüßen, der Boden wie Latex, hellgrau mit dunkleren Sprenkeln, dem schonungslosen Licht der Neonröhre fehlte der Blendschutz. Ein taschenrechnergroßes Diktiergerät neben dem Computer, vier Keramikbecher akkurat aufgereiht im ansonsten leeren Regalfach, einer davon mit dunkelrotem Lippenabdruck. Es roch nach eingebranntem Kaffee, unangenehm metallisch zwar, aber nicht annähernd so Brechreiz erregend wie an dem Tag, an dem sie Eierkohlen statt Ostereier erzeugte, weil sie wie Großmutter früher die Herdplatte angestellt und gleich darauf aus dem Gedächtnis gestrichen hatte. Verstohlen reckte Eva den Hals. Eine Kaffeemaschine war nicht zu entdecken, würde vielleicht nebenan stehen, passte auch nirgendwo hin.
Ein graues Leinensakko lag achtlos hingeworfen über einer der Armlehnen des Schreibtischstuhls vor dem Fenster. War der, auf den sie warteten, ein lockerer, vielleicht sogar kreativer Typ? Eine verkappte Künstlerseele? Warum nicht? Wäre sie der eines akribisch ermittelnden Polizeibeamten nicht in jedem Fall vorzuziehen?
Endlich wurde die Tür zum Nebenraum aufgedrückt, ein Beamter mittleren Alters reichte ihnen die Hand. Untersetzt von Statur, aber keineswegs fett, eher muskelbepackt, die kurzen Oberschenkel sprengten beinahe die Hosenbeine. Grübchen im Kinn, die grauen Haare militärisch kurz geschoren. Nein, keinesfalls die fürsorgliche Vaterfigur, wie Eva sie sich gewünscht hätte. Andererseits aber auch kein Anzeichen eines Bluthundes, das wäre ihr bestimmt nicht entgangen. Evas verschwitzte Handflächen schien er nicht wahrzunehmen, behende umrundete er den hochbeinigen Schreibtisch, beugte sich vor und klickte Vorgänge im Computer an, die Nina und sie nicht einsehen konnten. Klick, klick, klick - als Personen schienen sie ihn nicht zu interessieren, sein Augenmerk galt dem Bildschirm, sein zielstrebiges Gebaren hieß sie weiter schweigen. Er schob einen niedrigen Stapel Papier in den Drucker, ein grünes Licht leuchtete auf, die Maschine jedoch blieb still.
„Sie haben heute Morgen angerufen?“
Er setzte sich hin und verschränkte die Hände über der Gürtelschnalle. Ein flüchtiger Blick aus hellen Augen streifte Mutter und Tochter, fiel dann auf den unter einen Locher geklemmten, gelben Zettel. Er zog ihn heraus.
„Wie es aussieht, geht es um eine Vermisstenmeldung? Ihr Mann wandert und hat sich seit ...“, seine Augen suchten die Notiz zu entziffern, „seit ein paar Tagen nicht gemeldet?“
„Seit acht Tagen, ja ...“, setzte Eva an, er aber unterbrach sie.
„Augenblick noch, Frau ...“
Der Name war wohl ebenfalls unleserlich, er runzelte die niedrige Stirn.
„Zunächst einmal brauchen wir ein paar Angaben zur Person. Ihr Mann, wie heißt er, und wann ist er geboren?“
„Ernst Brandner“, gab Eva an und spürt den aufgeregten Pulsschlag in Mutters Knie, an das sie den Kopf gelehnt hat. Mutters angestrengte Stimme, die Suchmeldung nach dem Krieg. Eva hört sie den Namen Georg hervorpressen, der ihr Vater war und vermisst. Der einen Teil von ihr mitgenommen und bewahrt hat, als er nach dem Heimaturlaub einfach so wegblieb. Seither fehlt ihr etwas, sie ist nicht komplett, hätte der Mann sonst das Wort Halbwaise in den Mund genommen, das ähnlich verstörend klang wie der Flüchtling?
Viel später hat Eva im Lexikon nachgelesen, dass eine Waise nicht zwingend das Letzte und Wertlose ist. Der Begriff Waise konnte ebenso gut dem heutigen Solitär entsprechen. Oder dem Stein der Weisen, beide stellten das Eine, ganz Besondere dar. So, wie sie es verstand, waren Waise wie Stein etwas sowohl Wertloses als auch Wertvolles - ein Gegensatzpaar, das Eva vertraut war. Hatte sie nicht oft das Gefühl gehabt, entweder das Letzte oder das Erste zu sein?
Der Riesenkloß im Hals, wem eigentlich galt er, musste Eva sich fragen, war es doch lange her, dass ihr Vater sie beide so elend im Stich gelassen hatte. Aber sie würde so wenig weinen wie ihre Mutter auf dem Stuhl vor dem Schubladentisch in der Amtsstube, sie hatte Dringenderes zu tun.
„B-r-a-n-d-n-e-r.“ Eva ertappte sich, wie sie, wie ihre Mutter damals, mit belegter Stimme den Nachnamen buchstabierte. „Geboren 1950, am 30. Februar.“
Das Datum klang fremd, sie stutzte, verbesserte sich: „Was sage ich denn! Dreißigster, das ist korrekt, aber Januar natürlich.“ Seine Finger blieben über der Tastatur in der Schwebe, er sah sie abwartend an. Schuldbewusst senkte sie den Blick auf die Hände, dachte angestrengt nach. „30. Januar 1950“, nickte sie dann, schob nach kurzem Zögern ein bekräftigendes „definitiv“ hinterher. „Tut mir leid, aber Zahlen und Daten ... damit habe ich es nicht so.“
„Und sein Beruf?“ Er räusperte sich.
„Lehrer“, gab Eva zur Antwort. „Oberstudienrat am Richard-Wagner-Gymnasium in Baden-Baden.“
Der Beamte tippte es ein.
„Zirka einsneunzig groß“, - auf den Zentimeter genau wusste Eva es nicht, sie musste schätzen - „er hat eine Narbe auf der rechten Stirnseite.“
Er hörte auf zu tippen und sah sie an.
„Andere hervorstechende Merkmale?“
Eva zögerte. „Eigentlich nicht ... oder vielleicht doch, ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist: Bevor er losging, hat er den Bart abrasiert. Er wird einen Stoppelbart haben - mit grauen Stellen darin.“
Während er tippte und ab und zu klick, klick, klick machte, fragte sie sich, wie er sie wohl sah.
Vor ihm, die Füße artig gekreuzt, saß eine Frau mittleren Alters - die Augen besorgt, aber weder zu klein noch zu groß. Nase nicht unbedingt gerade, aber auch nicht krumm. Durchschnitt bis auf den ausgeprägten Mund, wie beim Vater liefen die Gipfel der Oberlippe ungewöhnlich spitz zu. Für den Termin heute hatte sie die Spitzen mit hautfarbener Grundierung gemildert und einen kräftig rosa Lippenstift kurvig aufgetragen. Jetzt saß sie mit artig gebogener Oberlippe, Mittelmaßmutter eines ungelenken Teenagers, der seine Unsicherheit hinter mürrischer Miene zu verbergen suchte - und dies hier war keinesfalls ein Spiel! Ab sofort steckten sie mit Rang und Namen in der Kartei des Kriminalamtes, vermutlich bundesweit.
Eva setzte sich aufrecht. Sorgfältig schloss sie die zerknitterte Leinenjacke über der munteren Blütenpracht ihres sommerlichen Tops, als wolle sie sich für weitaus intimere Fragen wappnen. Die würden kommen, unausweichlich, denn dazu war sie da.
Der Polizist löste die strammen Unterarme von der Schreibunterlage. Er schob seinen Drehstuhl zurück, tat einen Schwenk in ihre Richtung, setzte beide Füße auf das Rollengestell. Sein ausdrucksloser Blick wanderte von ihr zu Nina und wieder zurück.
„Ihr Mann, Frau Brandner, wo wollte er hin? Und ist jemand bei ihm?“
„Niemand, nein, er ist ganz allein unterwegs.“ Eva wich seinem Blick nicht aus. „Endpunkt der Wanderung sollte Venedig sein.“
„So, so, Venedig. Ganz schönes Stück.“ Der Beamte kaute auf seiner Unterlippe. „Und die Wanderstrecke - ist Ihnen die geläufig?“
„Schwarzwald, Bodensee, Alpen, Gardasee, Verona, Venedig.“
Evas Hand fuhr wie von selbst zur Handtasche. Ernsts ausgeklügelten Wanderplan trug sie bei sich.
„Nein, nein, lassen Sie nur!“ Abwehrend hob er die Hand. „Was hatte Ihr Mann an, trug er spezielle Wanderkleidung, als er das Haus verließ?“
„Nein, bis auf die Wanderschuhe hatte er ganz alltägliche Sachen an. Roter Baumwollpulli mit Rollkragen ... dazu blaue Jeans mit Gürtel - dunkelbraun, glaube ich.“ Eva schluckte schwer. Sie beschrieb den knallroten Trekkingrucksack, sprach von den in Schlaufen hängenden Aluminiumflaschen für den täglichen Wasservorrat und sah an ihm vorbei aus dem Fenster. „Der Rucksack ist ziemlich schwer, weil er immer sein Zelt dabei hat.“
„Was wiegt der denn so, haben Sie eine Ahnung?“
„So um die zweiundzwanzig Kilo“, gab Eva zur Antwort und sah Ernst zuerst ohne, dann mit Rucksack ihre Personenwaage besteigen.
“Ist er häufig allein unterwegs?“
„Erst in den letzten Jahren ...“, Herr Kommissar lag ihr auf der Zunge, aber das Schildchen, es fehlte, nichts deutete auf seinen Dienstgrad hin, „ ... erst seit er regelmäßig wandert.“
Sie holte tief Luft.
„Er geht allein, damit er sein Tempo selbst bestimmen kann.“
Und weil er nicht reden will, fügte sie im Geiste hinzu, jedenfalls nicht mit mir.
„So, so.“ Sein gespaltenes Kinn hob sich, er wiederholte wie zu sich selbst: „Hm, ja, er geht also gern allein. Und der Zeitraum seiner Abwesenheit, war der vorher genau festgelegt?“
„Haargenau. Mein Mann druckte aus, an welchem Wochentag er sich wo befinden wollte. Reliefkarte und Zeitplan, ich kann sie Ihnen zeigen. Schon seine erste Wanderung kam auf den Tag genau hin. Nina ...“ Eva wandte sich ihrer Tochter zu, konnte deren Blick aber nicht einfangen, „Nina hat damals täglich Fähnchen gesteckt, und als er das erste Mal anrief, stimmten sie in jedem Punkt mit seinem Streckenplan überein. Mein Mann ist auf die Stunde genau im Urlaubshotel eingetroffen.“
Abgemagert, durchtrainiert und sexuell ausgehungert. Eva ertappte sich, wie sie auf den gebräunten Hals ihres stämmigen Gegenübers starrte. Wie eine römische Säule ragte er aus dem weit geöffneten Hemdkragen. Sie errötete, als sie seinem aufmerksamen Blick begegnete. Rasch senkte sie die Augen auf ihre fest verschränkten Hände.
„Das war unser Urlaubshotel in Kärnten. Eine Familienwoche im Anschluss, darauf haben wir uns alle gefreut! Und mein Mann konnte sich, wenn er denn wollte, bei weniger anspruchsvollen Wanderungen erholen.“
Als er schwieg, fuhr sie hastig fort: „Im Jahr darauf haben die Kinder und ich dort wieder die Ferien verbracht. Im selben Hotel, denn die zweite Wanderung, die führte meinen Mann nach Genua. Von dort aus nahm er den Abendzug nach Villach, wo wir ihn abgeholt haben.“
Wandern macht süchtig, Eva meinte es zu wissen. Ernst war süchtig geworden, wie berauscht war er aus dem Zug gestiegen, hatte sie alle umarmt und im selben Atemzug angekündigt, dass er jetzt jedes Jahr losziehen wolle. Sie könne ja mit, obwohl er wusste, ihre Begeisterung für das Wandern hielt sich in Grenzen.
„Hat er sich denn damals gleich gemeldet?“
Der Beamte wippte mit der Rückenlehne. Er wippte und schaute von Nina zu ihr, diesmal blieb sein Blick an Nina hängen. Die sah aus, als sei sie den Tränen nahe. Sie presste die Lippen zusammen, schüttelte heftig den Kopf, brachte aber kein Wort heraus, und Eva beeilte sich mit der Antwort: „Nein, nicht gleich. Ich habe alles versucht. Er schien sich nicht vorstellen zu können, dass wir uns Sorgen machten!“
Nina zog geräuschvoll die Nase hoch, Eva unterbrach sich. War das ein Zeichen, dass das Kind doch noch sprechen würde? Doch Nina wischte sich nur mit dem Handrücken die Nase und sah den Beamten von unten herauf schief an. Ihr beharrliches Schweigen füllte den Raum. Und während er ungerührt ihren Blick erwiderte, kroch es wie Nebel in alle Ecken, wurde undurchdringlich wie schmieriger Londoner Fog. Evas Hand fuhr zum Hals, als drohe sie zu ersticken. Dann erinnerte sie sich, wo sie war. Sie riss sich zusammen und ließ die Hand in den Schoß sinken.
„Selbstverständlich fürchteten wir, es könne ihm etwas passieren, so allein. In den Medien wird ja häufig genug von Bergunfällen berichtet. In meiner Not habe ich ihm sogar gedroht, wir würden die Bergwacht informieren, falls er sich nicht alle zwei Tage meldet!“ Eva schüttelte ratlos den Kopf. „Ich hatte gehofft, das würde ihn aufrütteln, aber auf dem Ohr war er taub. Ob im Ernst oder Spaß, kein Versuch hat gefruchtet. Wie sollen wir ruhig schlafen können, habe ich zu bedenken gegeben, wenn du dich wochenlang so allein in den Bergen amüsierst und nicht meldest!“
Der letzte Satz, er klang irgendwie falsch, der Beamte hob seine Brauen. Wieder wollten Evas Füße sich selbständig machen, sie zwang sich zur Ruhe, noch musste sie ausharren, an Flucht war nicht zu denken.
Wenn du dich wochenlang so allein in den Bergen amüsierst ...
Hier im faden Neonlicht des streng möblierten Büroraums klang die Formulierung viel zu neckisch - ein misslungener Versuch zur Diplomatie, die ihr ohnehin nicht in die Wiege gelegt war. Dem Wesen nach war sie viel eher geradeheraus, nicht unbedingt jedermanns Sache, das wusste sie wohl. Aber Ernst hatte so seine wunden Punkte. Wie oft in der Vergangenheit hatte sie sich Kontrollversuche vorwerfen lassen müssen, wie oft hatte sie sich gezwungen gesehen, ihn bei Stimmung zu halten! Einmal schlecht gelaunt, verzog er bei der pragmatischsten Frage den Mund. Ihr: Wo gehst du hin? zum Beispiel, wenn er mit dem Schlüsselbund rasselte! Hatte sie seinen bitterbösen Blick verdient, nur weil sie wissen wollte, wie lange er wegblieb, und ob sie pünktlich zum Essen mit ihm rechnen konnte?
„Mein Mann wehrte sich dagegen, seine Route, wie er es nannte, nach Telefonzellen auszurichten. Sein Tagespensum hatte Vorrang, das spulte er ab. Und wenn es dunkelte, baute er sein Zelt auf, damit er hineinkriechen konnte, bevor es endgültig finster war.“
„Trug er denn keine Taschenlampe bei sich?“
Ungläubig runzelte der Beamte die Stirn, als Eva den Kopf schüttelte. „Und ein mobiles Telefon, wie ist es damit? Haben Sie ihm das niemals vorgeschlagen?“ Er angelte sich einen angenagten Bleistift und kaute selbstvergessen darauf herum.
„Selbstverständlich“, sagte Eva mit Nachdruck, „und nicht nur einmal! Nein, nein, der Rucksack sei schwer genug. Er würde sich rechtzeitig melden und basta. - Nun ja“, seufzte Eva, „drei oder vier Tage ohne Nachricht - ob es uns passte oder nicht, damit mussten wir uns abfinden!“ Sie suchte Ninas Blick. „Natürlich haben wir ungeduldig auf seinen ersten Anruf gewartet, aber Sorgen im eigentlichen Sinn haben wir uns keine gemacht. Bisher ist ja auch alles gut gegangen.“ Evas Stimme wurde flach. „Aber acht Tage ohne Lebenszeichen, das ist noch nie dagewesen!“
Der Beamte schien unbeeindruckt, ein neues Strichmännchen gesellte sich zu den anderen. Ein Nachbar hatte sich interessierter gezeigt.
„Hat Ihr Mann angerufen? Kommt er gut voran?“
„Ich denke schon ... na ja, eigentlich warten wir noch auf Nachricht.“ Eva hatte herumgedruckst und sich gewunden. „Wissen Sie, er ruft nicht allzu oft an, wenn er wandert ... Ich nehme an, er wird sich heute noch melden.“
Sie hatte zusehen können, wie seine freundliche Miene sich verdüsterte. Weil du zu Hause bleibst - der geheime Vorwurf stand ihm auf die Stirn geschrieben. Sie hatte sich unwohl gefühlt, als er in sie drang: „Haben Sie denn gar keine Lust mitzuwandern?“
„Hatten Sie denn nie Lust mitzuwandern?“
Eva schrak zusammen. Konnte ihr Gegenüber Gedanken lesen?
„Mitwandern? Ich?“, echote sie. „Ja, vielleicht! Aber wenn, dann ohne Gepäck!“
Sie zögerte, lächelte ein wenig verlegen.
„Na ja, abends möchte ich duschen können, daraus habe ich nie ein Hehl gemacht. Und warm essen. Mein Mann hingegen liebt es ganz ursprünglich. Und seinen Tagesdurchschnitt, den schaffe ich ohnehin nicht. Dreißig Kilometer und mehr, je nachdem, damit wäre ich total überfordert gewesen.“ Eva rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich hätte mich als Klotz am Bein gefühlt.“
Lächelte der Beamte in seinem Drehstuhl? Er legte den Bleistift aus der Hand, streckte die Beine unter den Schreibtisch, führte die Hände im Nacken zusammen und dehnte sich ausgiebig. Als er die Arme auf die Stuhllehnen sinken ließ, rutschte sein Sakko auf den gesprenkelten Boden.
„Und was haben Sie üblicherweise gemacht, während er weg war?“
Seine Nasenflügel blähten sich, die Jochbeinlinie verkrampfte. Er lächelte nicht, stellte Eva fest, unterdrückte viel eher ein Gähnen.
„Wir haben ebenfalls Touren gemacht, Tagestouren zu Fuß oder mit dem Auto“, antwortete Eva. „Abends waren wir immer erreichbar. Bei Bedarf hätte er im Hotel anrufen können, egal wo, in wenigen Stunden wären wir bei ihm gewesen.“
„Hat er aber nicht gemacht. Er hat immer bis zum Endpunkt durchgehalten.“
Ninas kleines Kinn hob sich dem Kriminalbeamten entgegen. Ihre Handrücken ruhten auf den Oberschenkeln, die Finger schlossen und öffneten sich, als wolle sie den Vater herbeiwinken. Sie sagte trotzig: „Er war nämlich topfit!“
Der Beamte schien überrascht, seine plötzlich hellwachen Augen ruhten auf Nina, die wieder teilnahmslos aus dem Fenster sah.
„Das ist wahr, er hat lange vorher dafür trainiert, ist gelaufen und Fahrrad gefahren“, schaltete Eva sich ein, „aber trotzdem. In Kärnten fühlte ich mich einfach näher für den Fall“, sie befeuchtete ihre trockenen Lippen, „nun ja, für den Fall, dass etwas passiert, das ist ja nicht immer auszuschließen! Und außerdem - das Hotel ist so schön, auch für die Jugend war immer was los!“
„Aber in diesem Sommer, Frau Brandner, sind Sie nicht dorthin gefahren. Hat das einen besonderen Grund?“
„Ja, schon. Meine große ... äh - unsere große Tochter Anna ist ...“
Eva unterbrach sich. Das Sakko auf dem Linoleum, er bückte sich danach, hängte das lässige Kleidungsstück an das Drehkreuz des hohen weißen Fensterrahmens.
Ernst mochte es nicht, wenn sie meine sagte. Meine Hochzeit, meine Kinder, mein Haus ... Er behauptete, dass es am Einzelkind lag, das sie war, das nicht teilen konnte. Was sie stets von sich gewiesen hatte, wollte sie sich doch keinesfalls als Egoist abgestempelt sehen. Es war nun einmal so, das Mein war ihr unendlich viel geläufiger als das Unser, aber Ernst wollte sich nicht damit abfinden, immer wieder hatte er sich beißend zur Wehr gesetzt.
„Dein Kind hat angerufen, es kommt heute später“, oder „dein Kind hat eine Fünf geschrieben, es braucht Nachhilfeunterricht.“
Sein: „Deine Tochter in Australien hat angerufen, du musst ihr Geld überweisen“, obwohl er alle finanziellen Angelegenheiten regelte, war noch gar nicht so lange her.
Eva sah zu, wie der Beamte wieder Platz nahm. Sie krauste die Stirn und setzte neu an: „Anna ist für ein Collegejahr in Australien. Wir hatten verabredet, dass wir sie dort besuchen. Aber ... mein Mann“, ein Zögern, beinahe hätte sie unser gesagt, „mein Mann hat sich kurzfristig anders entschieden, er wollte nicht auf seine Wanderung verzichten.“ Sie sah dem Kriminalbeamten offen in die Augen. „Es ist mir nicht gelungen, ihn zum Mitkommen zu bewegen, und so ganz allein wollte ich nicht verreisen, eine Freundin begleitet mich jetzt.“ Seinem Blick folgend, nickte sie dem gesenkten Kopf ihrer Tochter zu. „Nina bleibt hier, wegen der Schule. Reisebeginn ist gegen Ende der Sommerferien.“
Wenn mein Mann wieder da ist, hätte Eva gern ergänzt, fand es aber der Situation nicht angemessen. Also senkte sie die Augen und hielt den Mund.
„Seine Pläne ...“, der angenagte Bleistift klickte ein paar Mal gegen die makellosen Vorderzähne eines kräftigen Gebisses, „könnte Ihr Mann seinen ursprünglichen Plan geändert haben? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“
Eva und Nina sahen auf.
„Geändert? Er? Seine Pläne?“
Verdattert blickte Eva erst ihn an, dann Nina, die mit offenem Mund dasaß.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat immer durchgezogen, was er sich vorgenommen hat!“
Er sah sie schweigend an und plötzlich verstand sie. Sie waren absolut kein Einzelfall, im Gegenteil, sie waren tagtägliche Routine! Abwarten, der Mann dieser Frau ist erwachsen, kann machen, was er will ... Vielleicht ist der Kerl unterwegs versackt ... Oder er hat die Frau seines Lebens getroffen ... Nichts ist unmöglich, alles schon einmal da gewesen ... - das waren die Dinge, die ihm durch den Kopf gehen mussten!
„Frau Brandner“, ein Ruck, sein Oberkörper kam ihr entgegen, „heute ist Freitag, und wie die Dinge liegen, sollten wir das Wochenende verstreichen lassen. Sagen wir Montag. Falls Sie bis dahin kein Lebenszeichen erhalten, rufen Sie mich gleich morgens an ... persönlich.“
Er schob ihr sein Kärtchen hin: Rolf Zacher, Oberkommissar, die Durchwahl dick unterstrichen. Weil Eva auf ihrem Stuhl sich nicht rührte, erhob er sich halb aus seinem Sitz, reichte ihr quer über den Schreibtisch die Hand.
„Ich verstehe ja, Sie machen sich Sorgen, aber in Ihrem Fall ist das wohl kaum angebracht.“
Er nickte Nina aufmunternd zu.
„Dein Vater ist gesund und fit, er wird sich bestimmt bald melden.“
Dann wandte er sich an Eva.
„In der Zwischenzeit sollten Sie sich trotzdem umhören. Freunde und Verwandte ... womöglich hat er sich ja bei jemandem gemeldet?“
Er griff zum Telefonhörer und sprach hinein.
„Wir sind hier soweit, schickt mir doch mal den Jan vorbei.“
Aus und vorbei, sie waren entlassen.
Der junge Polizist begleitete Mutter und Tochter zum Ausgang. Während sie schweigend den langen Flur durchschritten, dem Augen und anderen Sinnen entzogenen Sommertag entgegen, nahm Eva aus den Augenwinkeln die abweisend glatten Flurtüren wahr. Sieben Zellentüren, allesamt grau in grau. Zügig ließen sie eine nach der anderen hinter sich, rückten den wärmenden Sonnenstrahlen mit jedem Schritt ein kleines Stück näher. Ihr uniformierter Begleiter hatte den Kopf zur Seite gewandt, beäugte Nina mit unverhohlenem Interesse. In dem extrem weiten T-Shirt mit den verrutschten Schulternähten wirkte sie wie ein Kind, das Kleidung eines älteren Geschwisterteils auftragen muss. Abgetragene Joggingschuhe zu überlangen, ausgefransten Jeans erzeugten den Eindruck von Ärmlichkeit und täuschten darüber hinweg, dass ihr Aufzug keinesfalls zufällig war. Trotz des Sommertages trug sie Evas kratzige Burberry-Jacke lässig hingeworfen über eine eckige Schulter.
Ninas Miene, wie sie so neben Eva her zum Auto trottete, war die eines verdrossenen, der Erwachsenenwelt überdrüssigen Teenagers, der jegliche Einsichtnahme in sein Innenleben verweigert. Während Eva den Wagen anließ, sprach Nina mit tonloser Stimme wie zu sich selbst:
„Er hat sich so gut wie keine Notizen gemacht.“
„Das macht er, wenn er für sich ist, da bin ich mir sicher!“, sagte Eva schnell und warf ihrer Tochter einen aufmunternden Seitenblick zu.
„Macht er nicht, Mama!“
Ninas Kopf flog in den Nacken.
„Der denkt doch, der Papa ist abgehauen!“