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2 DER TAG, AN DEN SICH ALLE ERINNERN WERDEN

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Es war ein klassischer «Wo warst du, als …»-Moment. Am Montagnachmittag, 16. März 2020, um 15.15 Uhr gab der Schweizerische Bundesrat bekannt, dass um Mitternacht sämtliche Geschäfte, alle Restaurants, Freizeitaktivitäten, Hotels, ja, einfach alles bis auf Lebensmittelgeschäfte und Apotheken schliessen würde. Auf unbestimmte Zeit. Der Schweiz wurde, wie das zuvor schon in anderen Ländern geschehen war, buchstäblich der Stecker gezogen, um die Ausbreitung des neuartigen, sich in der Schweiz wie anderswo rasch verbreitenden Coronavirus zu verlangsamen und so das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu schützen. Ob das der richtige Entscheid war oder nicht, wird heute noch kontrovers diskutiert. Um diese Fragen geht es hier nicht. Es geht um die Auswirkungen des Entscheids.

Wo war ich? Mitten im Auge des Sturms. An besagtem Montag hatte ich einen meiner in letzter Zeit nur noch spärlichen Einsätze als Radiomoderator und ging kurz vor 15 Uhr «on air». Schon in den Tagen zuvor war spekuliert worden, wann der Schweiz – wie anderen Ländern zuvor – der Lockdown drohen würde. Wir wussten, dass für den Montagnachmittag eine Pressekonferenz angesagt war, aber der Inhalt war unklar, und so plante ich gemeinsam mit meinem Produzenten eine normale Feierabendsendung. Nur wenige Sekunden nach den 15-Uhr-Nachrichten rief mich der Redaktionsleiter im Studio an. Ich hatte gerade erst den Kopfhörer abgelegt, und es lief eines dieser Lieder, in denen ein aufsteigendes deutsches Popsternchen das schöne Leben besang. Ganz im Kontrast zu dem Unwetter, das da draussen heranzog.

Der Redaktionsleiter teilte mir in kurzen Sätzen mit, was wir bereits vermutet hatten: «Der Bundesrat wird den Lockdown kommunizieren … um Viertel nach drei startet die Medienkonferenz … Die Fakten liegen aber schon vor … Wir senden ‹Breaking News›, sobald der Bundesrat die Massnahmen verkündet hat», wies er uns an. Der bisherige Sendungsablauf, das sauber getextete Manuskript … alles, was ich für meine Sendung vorbereitet hatte, konnte ich nach diesen ersten Sendeminuten gleich wieder löschen. Ich war mir bewusst, was eine solche Nachricht für den weiteren Verlauf der Sendung bedeutete. Und fühlte mich energiegeladen und bereit. Als Radiomoderator liebt man solche Situationen. Es galt nun, zu improvisieren, zu informieren, und das, was man da gerade tat, hatte plötzlich nicht mehr die Leichtigkeit der beiläufigen Unterhaltung; auf einen Schlag wurde man für die Hörerschaft zum Leuchtturm in stürmischen Zeiten. Das Auge des Sturms hatte uns erreicht, aber wir kannten solche Situationen und wussten, was zu tun war.

11. September 2001, Hochwasserkatastrophen, Amokläufe, Tsunami … ich hatte schon viele solche Sondersendungen moderiert, und eine Krise ist für einen Radiosender immer auch eine Chance. Jetzt kann man zeigen, dass Radio noch immer das schnellste und dem Publikum am nächsten gelegene Medium ist.

Aber leider braute sich noch ein anderes Unwetter über mir zusammen. Als sich schon am Vormittag abzuzeichnen begann, dass der Lockdown unausweichlich war, lief mein Telefon heiss. Vor zwei Jahren hatte ich meinen Job als Chef des Radiosenders, bei dem ich am fraglichen Montag, nun in der Rolle eines freien Mitarbeiters, die Sendung moderierte, an den Nagel gehängt. Ich hatte mich mit verschiedenen Tätigkeiten selbstständig gemacht. Den grössten Teil meiner Arbeitszeit beanspruchte ein Reiseunternehmen, das Musikevents auf Kreuzfahrtschiffen organisiert. Daneben hatte ich mir als Coach für Medien- und Tourismusbetriebe ein weiteres Standbein aufgebaut und war Dozent in Medienausbildungsinstitutionen im In- und Ausland.

Der andere Sturm, der an besagtem Montag um mich zu toben begann, bezog sich auf all diese Tätigkeiten. Bei den Kreuzfahrten waren die Buchungen schon seit Tagen eingebrochen, nun erhielten wir stündlich Annullationen. Und im Halbstundentakt erreichten mich am Montagvormittag Anrufe mit Hiobsbotschaften zu meinen anderen Mandaten. Das Luxushotel rechnete mit der kompletten Schliessung und war nicht mehr auf meine Beratungen angewiesen. Ein Radiosender wollte keine Moderationscoachings mehr, weil Betriebsfremde nicht mehr ins Haus durften. Die Schule, für die eigentlich in Kürze neue Mandate als Dozent anstanden, schloss ihre Tore für die nächsten drei Monate. Ich verlor innerhalb von vier Stunden nahezu 100 Prozent meiner Mandate. Nach jedem Anruf rechnete ich innerlich zusammen, um wie viel mein Einkommen eben geschrumpft war. Und es wurde mir angst und bange. Der Sturm hatte mich persönlich erreicht.


DER INNOVATOR

Die Innovationskraft ist seine Superwaffe. Er überrascht die Gegner mit Fähigkeiten, die sie nicht erwarten.

Die Stimmung am Montagabend war düster. Alle waren völlig verunsichert. Die Leute auf der Strasse wirkten bedrückt bis verängstigt. In den Lebensmittelläden begannen die Hamsterkäufe. Ich wurde ebenfalls unsicher: Musste ich nun auch einkaufen gehen? Was, wenn die Versorgung der Geschäfte in den nächsten Tagen zusammenbrach? Ich entschied mich dagegen und wollte nur möglichst rasch nach Hause. Viele gingen ein letztes Mal in eine Bar oder ins Restaurant. Der Lockdown galt ja erst nach Mitternacht, und so gab es einige Bars, die noch ihre Bestände reduzieren wollten, und mindestens so viele Gäste, die sich dessen bewusst waren, dass dies wohl für Wochen ihr letzter Barbesuch würde. Ich ging nach Hause und zog es vor, mit einigen Freunden zu telefonieren.

Bis zum Ende der Sendung hatte ich wie eine Maschine funktioniert, hatte versucht, die Entscheidungen der Regierung zusammenzufassen, einzuordnen, und mit Experten gesprochen. Aber man entwickelt als Moderator in solchen Situationen eine gewisse Distanz zum Thema, um sich selbst zu schützen, um nicht selbst emotional zu werden. Umso mehr holten mich die Emotionen am Abend nach der Sendung ein, als ich plötzlich realisierte, dass das Ganze kein schlechter Traum war, aus dem man gleich aufwachen würde, sondern die Realität. Die Existenzsorgen des Vormittags kehrten zurück. Ich rechnete noch einmal zusammen, wie mein Kontostand Ende des Monats ohne all diese Mandate aussehen würde. Ich lud mir sogar zum ersten Mal in meinem Leben eine App aufs Handy, mit der ich die nächsten Tagen meine Ausgaben dokumentieren wollte – etwas, was ich zu meinen Studienzeiten das letzte Mal gemacht hatte. Ich schlief schlecht.

Aber es war nicht alles schlecht, was an diesem Montagabend geschah. Ich verschickte eine Textnachricht, die einen der Grundsteine für die Internetplattform «Local Hero» legen sollte. Und diese Nachricht veränderte den Verlauf des Lockdown für meine beiden Freundinnen Janine und Manu und für mich komplett, ohne dass wir das zu diesem Zeitpunkt wussten. Janine war bei dem Radiosender, bei dem ich Programmleiter war, viele Jahre verantwortlich für die Umsetzung von Promotionspartnerschaften und die Organisation von Events. Wir organisierten damals im Netzwerk unserer Sender grosse Hallen- und Stadionkonzerte, und solche Grossprojekte hatten uns zusammengeschweisst. Inzwischen arbeitete Janine zum einen in meiner Kreuzfahrt-Eventfirma mit, zum anderen war sie Marketingleiterin eines anderen Radiosenders. Die zweite Empfängerin meiner Botschaft, Manu, war langjährige Moderatorin und meine Nachfolgerin als Programmleiterin beim Radiosender, bei dem ich am besagten Montag wieder einmal moderiert hatte. Sie hatte gerade einen kurzen Abstecher zu einem öffentlich-rechtlichen Radiosender der Schweiz hinter sich und stand kurz davor, mit einem kleinen Pensum wieder beim vorherigen Arbeitgeber einzusteigen.

Schon einige Wochen zuvor hatten wir uns für den Dienstagabend, 17. März 2020 verabredet. Wir wollten miteinander ein Glas Wein trinken und uns grundlegende Überlegungen machen, ob wir nicht zusammen eine neue Firma starten wollten. Wir hatten nur vage Ideen, was wir genau tun wollten, eben das wollten wir gemeinsam erörtern. Wir arbeiteten schon sehr lange zusammen, kannten uns ausserordentlich gut, ergänzten uns ideal und hatten alle drei freie Ressourcen. Entscheidend für den weiteren Verlauf des Lockdown und für das Projekt «Local Hero» war, dass ich am Montagabend am Dienstagstermin festhielt. Ich gratulierte Janine, die an dem Montag Geburtstag hatte, und fragte, ob wir uns nicht einfach per Skype am Dienstagabend austauschen wollten. Beide sagten zu. Dass wir an unserem Treffen festhielten, war der letzte, aber entscheidende Baustein, dass unser erster Hero-Moment entstehen konnte.

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