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2. Bestände und Ereignisse

Schon bei oberflächlichem Hinblick ist am Thema Vertrauen ein problematisches Verhältnis zur Zeit erkennbar. Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Man könnte meinen, er überwinde die Zeit, zumindest Zeitdifferenzen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Ethik aus einem heimlichen Vorurteil gegen die Zeit heraus Vertrauen empfahl als eine Haltung, die sich vom Zeitfluß unabhängig zu machen und so der Ewigkeit nahezukommen sucht. Aber die Vorstellung von Zeit, die solch einem Urteil zugrunde liegen könnte, ist, wie das Urteil selbst, unzulänglich geblieben. Die Zeit kann nicht als Fluß, als eine Bewegung, und auch nicht als Maß der Bewegung gedacht werden. Im Bewegungsbegriff ist ja in unerkannter Weise der Zeitbegriff schon vorausgesetzt.

Noch weniger hilft die in der Soziologie übliche Unterscheidung von Struktur und Prozeß. Von ihren offenkundigen Mängeln abgesehen – daß sie nämlich weder die Änderbarkeit der Strukturen noch die Strukturiertheit der Prozesse erfaßt –, benutzt sie objektivierende Begriffe von etwas Feststehendem und etwas Fließendem, in deren Entgegensetzung das Wesen der Zeit verborgen bleibt. Wir würden zögern, Vertrauen, sei es als Struktur, sei es als Prozeß zu identifizieren, und das zeigt schon Grenzen dieser Unterscheidung, zeigt die Unzulänglichkeit der herrschenden soziologischen Theorie, wenn es um das Thema Vertrauen geht, und zeigt schließlich eine Nähe dieses Themas zu einem noch nicht erfaßten Begriff von Zeit an.

[10]Eine Theorie des Vertrauens setzt eine Theorie der Zeit voraus. Diese Voraussetzung führt in ein so schwieriges, dunkles Gelände, daß wir sie hier nicht einlösen können. Immerhin bieten neuere systemtheoretische Überlegungen einige Anhaltspunkte. Sie betreffen den Zusammenhang von System/Umwelt-Differenzierungen und Zeitlichkeit.

Sobald Systeme durch Ausdifferenzierung Grenzen gegenüber ihrer Umwelt bilden, entsteht ein Zeitproblem, das heißt zunächst eine Verschiebung der Prozesse, die die Ausdifferenzierung erhalten, in ein Nacheinander. Denn nicht alle Beziehungen zwischen System und Umwelt können momenthafte Punkt-für-Punkt-Korrelationen sein; vielmehr erfordert die Erhaltung der Differenz, zumindest bei komplexeren Systemen, Umwege, die Zeit brauchen. Auf Umweltereignisse wird teils überhaupt nicht, teils später, teils antizipatorisch reagiert und nur in sehr geringem Maße sofort. Hierauf gründet Talcott Parsons sein berühmtes Vier-Felder-Schema der Systemprobleme, konstruiert durch Gegenüberstellung der Differenz von System und Umwelt und der Differenz gegenwärtiger und künftiger Erfüllung1. Parsons wertet diesen Gedanken nur für eine Theorie der Systemdifferenzierung aus. Er hat jedoch sehr viel weittragendere Bedeutung für die Konstitution von Zeitlichkeit selbst und für daraus folgende Probleme systeminterner struktureller Generalisierung.

Wenn diese Ableitung zutrifft, geht es in der Zeitlichkeit um ein durch Ausdifferenzierung ausgelöstes Zusammenbestehen von Veränderung und Nichtveränderung. Dieser Sachverhalt findet sich in sinnhaften Systemen menschlichen Erlebens und Handelns wieder und bestimmt auch hier die Erfordernisse struktureller Generalisierung.

Allem menschlichen Zeiterleben liegt als in der Reflexion erreichbarer letzter Befund ein Erleben von Dauer trotz Wechsels von Impressionen zugrunde2. Dieser Befund bietet, was immer er sein [11] mag3, der Interpretation zwei entgegengesetzte Ansatzpunkte: die Dauer und den Wechsel. Aus diesem Befund wird durch einen Prozeß intersubjektiver Konstitution die „objektive Zeit“ gebildet als ein für alle Menschen gleiches Kontinuum von Zeitpunkten, in dem etwas dauern oder wechseln kann, das aber selbst gegen diesen Unterschied neutral ist. Die Paradoxie dieses Unterschiedes wird also gleichsam durch den Zeitbegriff unterlaufen, aber sie bleibt erhalten als Gegensatz zweier einander ausschließender Weisen der Identifikation in der Zeit.

Entweder kann nämlich etwas als Ereignis identifiziert werden, das an einem Zeitpunkt feststeht, unabhängig vom je gegenwärtigen Erleben, das auf der Skala der Zeitpunkte voranschreitet, unaufhörlich Zeitpunkt für Zeitpunkt aus der Zukunft in die Vergangenheit überführend. Das Ereignis hat seine zeitpunktbezogene Identität also unabhängig von der Qualifikation als künftig, gegenwärtig oder vergangen, und der Sinn seiner Identität ist gerade diese Invarianz gegenüber dem Wechsel der Zeitqualitäten. Es bedarf aber dieses Wechsels, um in der Gegenwart Wirklichkeit werden, um sich ereignen zu können.

Oder etwas kann als Bestand identifiziert werden, der unabhängig vom Wechsel der Zeitpunkte dauert. Solche Dauer hat lediglich die je kontinuierlich aktuelle Gegenwart, während alles Zukünftige kommt, alles Vergangene wegfließt. Bestände können also nur als gegenwärtig identifiziert werden. In der Zukunft oder der Vergangenheit lassen sie sich allenfalls als Ereignisserien fassen und in der abgewandelten Form von kontinuierlich gegenwärtigen Erwartungen oder Erinnerungen zu Beständen machen4. So [12] hat denn auch die Antike mit gutem Recht sich ewigen Bestand nur als Gegenwart vorstellen können, während es der heutigen Auffassung, die sich an der Identität der Zeitpunkte orientiert und sich deshalb die Gegenwart als bewegt vorstellen muß, näher läge, Ewigkeit als Gesamtereignis der Welt, etwa als creatio continua, zu begreifen und die Zeit demgemäß als eine Historie von Ereignissen zu sehen.

Beide Perspektiven schließen sich wechselseitig aus, da jede als ihr Identitätsprinzip das konstant hält, was die andere variieren muß, um ihr eigenes Identitätsprinzip zu gewinnen. Sie können deshalb nicht gleichzeitig gebraucht werden. Gerade durch diese Ausschließung aber fundieren beide Identifikationsformen sich auch als komplementäre Negationen. Variation ist als solche nämlich unbegreiflich, wenn man nicht Identitäten voraussetzen kann, in bezug auf die sich etwas ändert. Beide Identifikationsformen negieren (und machen dadurch begreiflich), was sich an der je anderen ändert. Sie beleuchten dadurch das, was die Zeit für die jeweils andere Art von Identität bedeutet: Die Identität der Ereignisse konstitutiert das, was die zeitliche Problematik der Bestände ausmachte, nämlich das Fortschreiten der Gegenwart als eines je aktuellen Momentes, der seine Bestände nicht ohne weiteres mitnehmen kann, sondern sich immer um Erhaltung und Neuerwerb bemühen muß; die Identität der Bestände konstituiert das, was die Zeitproblematik der Ereignisse ausmacht, nämlich ihr unbeständiges Wegfließen aus der Zukunft in die Vergangenheit und ihre nur zufällige, glückhafte Allianz mit den Beständen.

Der Widerspruch dieser Identifikationsweisen erlaubt keinen Rückschluß auf die vermeintliche „Unrealität“ der Zeit5. Ein solcher Schluß wäre besonders dann unergiebig und irreführend, wenn man einen Realitätsbegriff unterstellt, der von der Zeitlichkeit [13] bereits abstrahiert. Vertrauen bezieht sich keineswegs auf ein unreal gestelltes Problem. Vielmehr konstituiert sich die Zeitlichkeit als jene doppelte Möglichkeit der Negation, die als Möglichkeit ebenso wie als Negation real ist, nämlich wirklich und mit nachweisbarer Leistungsfähigkeit orientiert6. Erst diese doppelte Negation des am je anderen Variierten ergibt ein vollständiges Schema der Zeit, die sich selbst der Erfassung entzieht. Weder der antike, gegenwartsbezogene noch der moderne, zeitpunktbezogene Zeitbegriff reichen aus. Mit diesen an je eine der beiden Perspektiven sich bindenden Zeitbegriffen gewinnt man lediglich ein Schema der Problematisierung der Bestände bzw. Ereignisse, das durch ein gegenperspektivisches Zeitdenken korrigiert werden müßte.

Durch diese kursorischen Überlegungen wird jedenfalls so viel klar, daß Vertrauen nicht einfach als „Überwindung der Zeit“ begriffen werden kann. Auch schließt weder die eine noch die andere Zeitperspektive als dominierende Form der Erlebnisverarbeitung Vertrauensbildung aus. Es wäre höchst fragwürdig, wollte man behaupten, daß das antike Zeiterleben, weil es Bestände ganz als dauernd-aktuelle Gegenwart und nicht bloß als Ereignisreihen erfassen konnte, faktisch mehr Ansatzpunkte für: Vertrauensbildung bot als das unsrige. Eine wesentliche Einsicht können wir unserer Analyse jedoch entnehmen, daß nämlich Bestandssicherheit, und das heißt Sicherheit schlechthin, nur in der Gegenwart möglich ist und daher auch nur in der Gegenwart sichergestellt werden kann7. Dasselbe gilt für Vertrauen als einer Form der Sicherheit. Vertrauen kann nur in der Gegenwart gewonnen und erhalten werden. Nicht die ungewisse Zukunft, aber auch nicht die Vergangenheit, kann Vertrauen erwecken, da auch das Gewesene nicht vor der Möglichkeit künftiger Entdeckung einer anderen Vergangenheit sicher ist. Diese Gegenwartsbezogenheit des Vertrauens kann nicht begriffen und in ihren Konsequenzen ausgearbeitet werden, wenn man die Gegenwart nach Art eines am Zeitpunkt haftenden Ereignisses als bloßen Moment versteht, als [14] den Augenblick, in dem ein Ereignis sich ereignet. Grundlage allen Vertrauens ist vielmehr die Gegenwart als dauerndes Kontinuum im Wechsel der Ereignisse, als Gesamtheit der Bestände, an denen Ereignisse sich ereignen können.

Das Problem des Vertrauens besteht nämlich darin, daß die Zukunft sehr viel mehr Möglichkeiten enthält, als in der Gegenwart aktualisiert und damit in die Vergangenheit überführt werden können. Die Ungewißheit darüber, was geschehen wird, ist nur ein Folgeproblem der sehr viel elementareren Tatsache, daß nicht alle Zukunft Gegenwart und damit Vergangenheit werden kann. Die Zukunft überfordert das Vergegenwärtigungspotential des Menschen. Und doch muß der Mensch in der Gegenwart mit einer solchen, stets überkomplexen Zukunft leben. Er muß also seine Zukunft laufend auf das Maß seiner Gegenwart zurückschneiden, Komplexität reduzieren.

Wir können dieses Problem schärfer erfassen, wenn wir zwischen gegenwärtiger Zukunft und künftigen Gegenwarten unterscheiden8. Jede Gegenwart hat ihre eigene Zukunft als offenen Horizont ihrer künftigen Möglichkeiten. Sie vergegenwärtigt sich eine Zukunft, von der nur eine Auswahl künftig Gegenwart werden kann. Im Fortschreiten in die Zukunft produziert sie durch Selektion aus diesen Möglichkeiten neue Gegenwarten und zugleich neue Zukunftshorizonte für diese Gegenwarten. Sie produziert Bestände in dem Maße, als ihre gegenwärtigen und ihre künftigen Gegenwarten identisch bleiben; sie produziert Ereignisse in dem Maße, als sie Diskontinuitäten erzeugt. Soweit ein Erleben sich jene Differenz seiner gegenwärtigen Zukunft und seiner künftigen Gegenwarten bewußt macht, entsteht mit der Chance bewußter Selektion zugleich Unsicherheit und ein Bedarf für die Sicherung von Zusammenhängen zwischen gegenwärtigen und künftigen Gegenwarten, die durch die gegenwärtige Zukunft als gefährdend erscheinen.

[15]Diese Anforderungen sind unvertagbar. Entsprechende Leistungen werden dem Menschen in der dauernden Gegenwart permanent abverlangt. Vertrauen ist eine der Möglichkeiten, sie zu erbringen. Demnach befaßt die Vertrauensbildung und -vergewisserung sich mit dem Zukunftshorizont der jeweils gegenwärtigen Gegenwart. Sie versucht, Zukunft zu vergegenwärtigen und nicht etwa, künftige Gegenwarten zu verwirklichen. Alle Planungen und Vorausberechnungen künftiger Gegenwarten, alle indirekten, langfristig vermittelten, umweghaft konzipierten Orientierungen bleiben unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens problematisch und bedürfen eines Rückbezugs in die Gegenwart, in der sie verankert werden müssen. Die zunehmende Komplexität solcher Planungen macht in wachsendem Umfange eine Vertagung von Befriedigungen und Entscheidungen erforderlich, deren zeitpunktmäßige Vorplanung und Terminierung kein Gewißheitsäquivalent zu bieten vermag. Daher steigt mit zunehmender Komplexität auch der Bedarf für Vergewisserungen der Gegenwart, zum Beispiel für Vertrauen. Dieser Sachverhalt läßt sich mit Hilfe der Unterscheidung von instrumentellen und expressiven Variablen verdeutlichen, die, aus der Kleingruppenforschung stammend, in der neueren soziologischen Systemtheorie wachsende Bedeutung gewinnt9.

In dieser Unterscheidung, deren Grundlagen noch wenig geklärt sind10, ist ein Zeitproblem11 vorausgesetzt. Während instrumentelle [16]Orientierungen sich auf Zwecke, also auf die in der Zukunft erwarteten Wirkungen beziehen, dient der expressive Gehalt von Erlebnissen der Stabilisierung der Gegenwart in der Sicherheit ihrer Bestände, und zwar nicht einer ereignisartigen, momenthaft aufblitzenden Gegenwart, sondern einer Gegenwart, die sich mit Hilfe je eigener Zeithorizonte der Zukunft und Vergangenheit als dauernde Basis wechselnder Ereignisse konstituiert12.

Das Vordringen instrumentell spezifizierter Orientierungen auf Kosten der Gegenwart ist eine Bedingung rationaler Leistungssteigerung. Es führt aber, wie in der Industriesoziologie durchgehend beobachtet wird, zu einer Sinnentleerung der Gegenwart und damit zu einem wachsenden Bedarfsdruck auf expressive Variable. In diesem Druck erblickt die herrschende Auffassung in Theorie und Praxis ein Problem und damit eine Aufforderung zur Planung, zur Instrumentalisierung und zur organisatorischen Sicherstellung einer zweckmäßigen Expression13. Das impliziert den gewaltsamen Versuch, aus der unausweichlichen Gleichzeitigkeit des gemeinsamen menschlichen Lebens auszubrechen, die Gegenwärtigkeit des anderen Menschen in die Zukunft zu projizieren und damit Zeit zu gewinnen, sie zu planen und durch selektive Manipulation von Darstellungen zu beeinflussen. Aber alle Menschen leben und altern zusammen in stets gegenwärtig-gemeinsamem Dauern14. Wer die Gegenwart anderer manipulieren will, [17] müßte sich ihr entziehen und in eine andere Zeit entfliehen können. Da das nicht möglich ist, läuft alle Manipulation Gefahr, selbst in ihrer eigenen Gegenwart sichtbar, also zur Expression zu werden und damit sich und ihr Ziel zu verraten. Dem kann zwar durch soziale Differenzierung, Rollentrennungen, Kommunikationsschranken und Informationskontrolle, kurz durch soziale Organisation weitgehend vorgebeugt werden. Aber damit wird nur bewirkt, daß der Verdacht auf Manipulation universell wird und sich dadurch von Bestätigungen oder Widerlegungen im Einzelfall unabhängig festsetzt. Vertrauen läßt sich nur dann erhalten, wenn es eine Form findet, in der es mit diesem Verdacht leben kann und gegen ihn immun wird15.

Dieses Dilemma von Instrumentalität und Expressivität bzw. von zukunftsbezogener Ereigniskontrolle und gegenwärtiger Bestandssicherheit, das schärfer wird in dem Maße, als die Komplexität der Verhältnisse zunimmt, gewinnt deutlichere Konturen, wenn wir es mit dem Thema des vorigen Kapitels, dem Problem der Komplexität, in Verbindung bringen. Dazu muß zunächst unsere Zeitanalyse um einige Gedanken weitergeführt werden.

Die Konstitution der objektiven Zeit, die Interpretation des subjektiv erlebbaren Gegensatzes von Dauer und Wechsel durch den objektiven Gegensatz identischer Bestände und identischer Ereignisse, dient der Eröffnung eines Spielraums der Variation. In der Ereignisperspektive werden mit der Gegenwart die Bestände, in der Bestandsperspektive mit der Zukunft und der Vergangenheit die Ereignisse bewegt, das heißt für andere Möglichkeiten aufgeschlossen. Diese Variabilität erfaßt alles, was ist, ohne Ausnahme16. Die Zweiheit der sich wechselseitig ausschließenden Perspektiven garantiert diese Vollständigkeit und erspart dem Menschen die für ihn unvollziehbare Vorstellung, daß alles mit [18] allem auf einmal variieren könnte. Die Zeit wird, mit anderen Worten, als grenzenlose und doch reduzierbare Komplexität konstituiert. Die Zeitdimension ist mithin, wie die Sozialdimension auch, eine Auslegung der Welt unter dem Gesichtspunkt äußerster Komplexität. Sie zeichnet vor, daß alles anders werden kann. Der Boden dieses Weltentwurfs aber, der noch die Zeit selbst, noch die Welt selbst, ja noch die äußerste unbestimmte Komplexität selbst zu einem Bestand werden läßt, ist die faktisch dauernde Gegenwärtigkeit des aktuellen Erlebens. Alle Komplexität anderer Möglichkeiten wird durch diese Gegenwart auf erlebbare Aktualität reduziert, die Welt selbst zum Beispiel auf den miterlebbaren „Horizont“ des Erlebens. Die Bestände, die an der Aktualität der Gegenwart teilnehmen können, dienen der Erfassung und Reduktion jener äußersten Komplexität, der Bestimmung des Bestimmbaren, oder – in der traditionellen, die Zeit ausklammernden Sprache der ontologischen Metaphysik – der Formung der Materie. Sie leisten dies, indem sie die Welt auslegen, strukturieren und so vereinfachen, daß Ereignisse Informationswert gewinnen und mit menschlichem Handeln zu einem Prozeß selektiver Auswahl verschmolzen werden können. In dieser ihrer Funktion als Reduktionhilfen schaffen die Bestände des Erlebens gegenwärtige Sicherheit.

Man kann die Zeit deshalb auch als Reduktion der Komplexität begreifen, – sei es, daß man die Gegenwart als in die Zukunft voranschreitenden Standpunkt des subjektiv-selektiven Erlebens ansieht, sei es, daß man sie als feststehenden, in den „Fluß der Zeit“ eingebauten Filter auffaßt, der Mögliches in Wirkliches transformiert. Beide Bewegungsbilder sind, das wissen wir, inadäquate Metapher für jenen Vorgang der Vermittlung zwischen Komplexität der Welt und Aktualität des Erlebens, den wir Reduktion nennen.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen tritt die Funktion des Vertrauens deutlicher ins Relief. Sie stärkt die Gegenwart in ihrem Potential, Komplexität zu erfassen und zu reduzieren; sie stärkt die Bestände gegenüber den Ereignissen und ermöglicht es daher, mit größerer Komplexität in bezug auf Ereignisse zu leben und zu handeln. Vertrauen stärkt, um auf eine bekannte psychologische [19]Theorie anzuspielen, die „Toleranz für Mehrdeutigkeit“17. Diese Leistung ist mithin nicht zu verwechseln mit instrumenteller Ereignisbeherrschung. Wo solche Beherrschung sichergestellt (also „vergegenwärtigt“) werden kann, ist Vertrauen unnötig. Vertrauen braucht man zur Reduktion einer Zukunft von mehr oder weniger unbestimmt bleibender Komplexität.

Ereignisbeherrschung und Vertrauen zu unterscheiden, ist nicht nur ein Gebot begrifflicher Klarheit, sondern auch erforderlich, um bestimmte Einsichten über den Zusammenhang beider zu gewinnen. Unbestimmte Komplexität möglicher Ereignisse ist nämlich nicht nur eine Folge mangelnder Zukunftsplanung, sondern in anderem Sinne auch eine Folge des Ausmaßes instrumenteller Planung18. Mit der weit vorgreifenden, über lange und kompliziert verflochtene Ketten von Ursachen und Wirkungen projektierten, viele Parameter und viele Handlungen verschiedener Menschen einbeziehenden Planung nehmen die Möglichkeiten der Zukunft nämlich nicht ab, sondern zu. Für den einzelnen entsteht dann gerade aus solcher geplanten Komplexität eine neue Art von Unsicherheit. Dazu kommt, daß es in dieser Planung ein hohes Maß von technisch sinnvollen Unbestimmtheiten gibt. Es wird sinnvoll, Entscheidungen zu vertagen, bis der Lauf der Zeit mehr Ereignisse verwirklicht, mehr Komplexität reduziert hat. Geld, Macht und Wahrheit, darauf kommen wir eingehend zurück, sind soziale Mechanismen, die es erlauben, Entscheidungen zu vertagen und doch schon sicherzustellen, also mit einer Zukunft von hoher, unbestimmter Ereigniskomplexität zu leben. Die gegenwärtige Stabilisierung dieser und anderer Mechanismen setzt Vertrauen voraus. Ereignisbeherrschung und Vertrauen sind mithin nicht lediglich funktional äquivalente, einander substituierbare Mechanismen der Reduktion von Komplexität; steigt die erfaßbare Komplexität möglicher Ereignisse, dann müssen sie beide komplementär und nebeneinander stärker beansprucht werden. Demnach ist nicht zu erwarten, daß das Fortschreiten der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation die Ereignisse unter Kontrolle[20] bringen und Vertrauen als sozialen Mechanismus durch Sachbeherrschung ersetzen und so erübrigen werde. Eher wird man damit rechnen müssen, daß Vertrauen mehr und mehr in Anspruch genommen werden muß, damit technisch erzeugte Komplexität der Zukunft ertragen werden kann. Mit Recht hat Talcott Parsons die Bedeutung kleingruppenmäßig-expressiver Solidarität als Basis politischen Vertrauens gerade mit der notwendigen Unbestimmtheit der Komplexität politischer Prozesse in Zusammenhang gebracht19. Zugleich lehrt dieses Beispiel, daß Teilsysteme der Gesellschaft wie die Politik und vielleicht auch die Wirtschaft, die nicht mehr genug für die Gegenwart tun können, eben dadurch auf andere Handlungsbereiche angewiesen bleiben, die sich diesen vertrauensbildenden Gegenwartsbezug bewahrt haben.

1 Die deutlichste Formulierung jetzt T. Parsons 1970, S. 30 ff. Ähnlich bereits J. Piaget 1955, insb. S. 275 ff., für psychische Systeme.

2 Das Forschen nach einem ursprünglicheren als dem alltäglichen bzw. dem wissenschaftlichen Zeitbegriff ist namentlich durch Bergson und Husserl eingeleitet worden. Siehe H. Bergson 1889 und E. Husserl 1928.

3 Bergson und Husserl nennen diesen Befund selbst schon „Zeit“. Husserl allerdings räumt später ein: „Im Grunde ist die Urzeit noch nicht ernstlich Zeit“ (Manuskript C 7 I, S. 17, zitiert nach G. Brand 1955, S. 96).

4 Diese notwendige Gegenwärtigkeit aller Bestände ist in der heutigen objektivistischen Wissenschaftseinstellung nicht angemessen zu begreifen. Es ist denn auch kein Zufall, daß Denker von einiger Konsequenz sich Bestände überhaupt nur als Summe gleicher Ereignisse vorstellen können. Das besagt zum Beispiel der Begriff event-structure. Siehe seine Verwendung bei J. Dezvey 1926, S. 72; bei F. H. Allport 1955, S. 614 ff.; oder bei S. F. Nadel 1957, S.127 ff. Für die Theorie des Vertrauens ist dagegen die unumgängliche Gegenwartsbezogenheit aller Bestandssicherheit eine wesentliche Einsicht, ohne welche das Zeitproblem des Vertrauens nicht begriffen werden kann.

5 Eine solche Auffassung ist im Anschluß an J. E. McTaggart 1908 ausgiebig diskutiert worden. Als neuere Stellungnahme siehe R. M. Gale 1968 mit weiteren Hinweisen. Dieser Diskussion liegt allerdings eine weniger geschlossene Problemkonstruktion zu Grunde, nämlich nur der Unterschied einer Zeitauffassung, die eine Bewegung von Positionen aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft berücksichtigt, zu einer solchen, die lediglich auf die unumkehrbare Reihenfolge abstellt. Die anschließende Diskussion ist deshalb über die Schwierigkeiten der Interpretation dieses Unterschieds nicht hinausgekommen.

6 Zur Funktion von Negationen einige Bemerkungen in J. Habermas und N. Luhmann 1971, S. 35 ff.

7 Dazu kurz aber treffend: G. H. Mead 1938, S.175.

8 Die Ungleichzeitigkeit dieser beiden Zeitbestimmungen ist logisch eine Vorbedingung der Möglichkeit von Selektionen. Trotzdem wird sie im Zeiterleben normalerweise nicht mitbedacht und von der neueren Logik temporaler Aussagen sogar explizit geleugnet. Vgl. z. B. A. N. Prior 1957, S.10; ders. 1968, S. 8; N. Rescher 1968, S. 214.

9 Vgl. etwa: R. F. Bales 1951; T. Parsons, R. F. Bales, E. A. Shils 1953; T. Parsons, R. F. Bales 1955; Ph. E. Slater 1959, S. 300–310; J. W. Thibaut, H. H. Kelley 1959, S. 278 ff.; Ph. M. Markus 1960, S. 54–59; A. Etzioni 1961, insb. S. 91 f. u. ö.; ders. 1965, S. 688–698. Vgl. ferner die bei Durkheim entlehnte Unterscheidung von instrumentellen und konsumatorischen Problemvariablen, mit deren Hilfe Parsons die Zeitachse seiner Theorie des Aktionssystem konstruiert; so z. B T. Parsons 1959, S. 3–38 (5 ff.).

10 Mißlich ist vor allem, daß die Kleingruppenforschung die Befriedigung der sozio-emotionalen Bedürfnisse von Gruppenmitgliedern durch expressives Handeln als ein internes, die Zweckerfüllung und alles, was dazu notwendig ist, dagegen als ein externes Problem ansieht, also den Gegensatz von expressiven und instrumentellen Variablen mit der das System konstituierenden Innen/Außen-Differenz verquickt. Dabei ist stillschweigend vorausgesetzt, daß eine Gruppe aus Personen mitsamt ihren konkreten persönlichen Bedürfnissen besteht und nicht nur aus Rollen – eine Auffassung, die in der Soziologie seit längerem als unhaltbar erkannt und aufgegeben worden ist. Legt man die soziologische Systemtheorie zugrunde, wird es unausweichlich, auch die Befriedigung der sozio-emotionalen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder als ein externes Systemproblem anzusehen. Die Unterscheidung und Trennung von expressiven und instrumentellen Aspekten, Handlungen oder gar Rollen erscheint dann als sinnvolle Differenzierung des Stils, in dem ein System mit verschiedenen Umwelten verkehrt, nämlich mit seinen Mitgliedern einerseits, den Nichtmitgliedern andererseits.

11 So im Prinzip auch T. Parsons. Vgl. z. B.1961, S. 324;1970, S. 31 f.

12 Für die herrschende Zeittheorie ist es bezeichnend, daß Parsons den Gegenwartsbezug des expressiven Verhaltens nur als „Verbrauch“, also als Ereignis, zu erfassen vermag und daher die Dichotomien instrumentell-expressiv und instrumentell-konsumatorisch gleirhsinnig verwendet.

13 Die in der oben (Anm. 9) angegebenen Literatur behandelten Doppelführungstheorien und im weiteren Sinne alle Versuche der human relations-Bewegung, gefühlsbildende Gruppenprozesse in den Dienst von Organisationszwecken zu stellen, sind ein Beispiel dafür. In der allgemeinen Theorie der Darstellung sozialer Identitäten sind die Schriften von Erving Goffman für diese Perspektive bezeichnend. Vgl. insb.: E. Goffman 1959. Für den Bereich der Politik siehe etwa M. Edelman 1964.

14 Dieses gemeinsame Altern ist, wie namentlich Alfred Schütz immer wieder betont hat, eine Bedingung der intersubjektiven Konstitution der Zeit. Vgl. A. Schütz 1932, S. I 11 ff., und weitere Ausarbeitungen in den späteren Aufsätzen, gesammelt in: A. Schütz 1962,1964 und 1966, passim.

15 Auf Möglichkeiten einer solchen Symbiose von Vertrauen und Verdacht werden wir im 9. Kapitel über Vertrauen in Vertrauen zurückkommen.

16 Ideengeschichtlich gesehen, tritt dieses Konzept an die Stelle der ontologischen Temporalisierung des Seins auf der Basis der Bewegungsvorstellung, die die Universalität der Zeitlichkeit verbinden mußte mit der Vorstellung, daß sich alles bewegt.

17 Siehe z. B. E. Frenkel-Brunswik 1949; P. R. Hofstätter 1959, S. 160ff. Nachstehend auch: J. W. Atkinson 1957.

18 Vgl. F. H. Tenbruck 1972.

19 Vgl. T. Parsons 1959 b, insb. S. 96f.

Vertrauen

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