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ZWEITES KAPITEL

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Wie ein Sturmwind brauste durch das Städtchen die erschütternde Nachricht: »Der Zar ist gestürzt!«

Niemand wollte es glauben.

Einem im Schneegestöber langsam herankeuchenden Zug entstiegen zwei Studenten, die Gewehre über den Mänteln, und eine Abteilung revolutionärer Soldaten mit roten Armbinden. Sie verhafteten die Bahnhofsgendarmen, einen alten Oberst und den Chef der Garnison. Jetzt endlich glaubte man es im Städtchen. Tausende von Menschen wälzten sich durch die verschneiten Straßen zum Marktplatz.

Gierig lauschten sie den neuen Worten: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«

Die unruhigen Tage voller Lärm, Aufregung und Begeisterung vergingen. Im Städtchen trat wieder Ruhe ein, und nur die rote Fahne auf dem Gebäude der Stadtverwaltung, in dem sich die Menschewiki und Sozialrevolutionäre festgesetzt hatten, zeugte von der eingetretenen Veränderung. Alles übrige war beim alten geblieben.

Gegen Ende des Winters wurde ein Gardekavallerieregiment in dem Städtchen einquartiert. Allmorgendlich ritt die Truppe schwadronweise zum Bahnhof, um die von der Südfront geflüchteten Deserteure abzufangen.

Die Gardekavalleristen waren alle große, baumstarke Kerle mit satten Gesichtern. Die Offiziere, zumeist Grafen und Fürsten, hatten goldene Epauletten, silberne Biesen an den Reithosen, alles genauso, wie es unter dem Zaren gewesen war - als hätte es nie eine Revolution gegeben.

So verging das Jahr neunzehnhundertsiebzehn.

Für Pawel, Klimka und Serjosha Brusshak hatte sich nichts geändert. Ihre Herren waren die gleichen geblieben. Erst im regnerischen Monat November schien irgend etwas Ungewöhnliches vor sich zu gehen. Neue Leute tauchten auf dem Bahnhof auf, zumeist Soldaten aus den Schützengräben; sie trugen den seltsamen Namen »Bolschewiki«.

Woher dieser hart und gewichtig klingende Name kam, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen.

Den Gardekavalleristen fiel es immer schwerer, den Strom der Deserteure zu stoppen. Immer häufiger zersplitterten die Scheiben der Bahnhofsfenster bei den Schießereien. Viele Gruppen rückten von der Front aus und setzten sich, wenn man sie anhalten wollte, mit Bajonetten zur Wehr. Anfang Dezember strömten schon ganze Truppenverbände zurück.

Die Gardekavalleristen riegelten den Bahnhof ab. Sie glaubten auf diese Weise die Deserteure aufhalten zu können, aber das Maschinengewehrgeknatter belehrte sie bald eines anderen. Es waren mit dem Tod vertraute Menschen, die aus den Eisenbahnwagen herausstürzten.

Die grauen Frontsoldaten jagten die Kavalleristen in die Stadt hinein, vertrieben sie und kehrten zum Bahnhof zurück; und wieder passierten Truppentransporte das Städtchen.

An einem Frühlingstag des Jahres neunzehnhundertachtzehn verließen die drei Freunde Serjosha Brusshaks Wohnung, in der sie Sechsundsechzig gespielt hatten. Unterwegs machten sie beim Gärtchen der Kortschagins halt und legten sich dort ins Gras. Sie langweilten sich redlich, hatten zu keiner ihrer üblichen Beschäftigungen Lust und dachten darüber nach, wie sie den Tag am besten verbringen könnten. Plötzlich hörten sie hinter sich Pferdegetrappel. Ein Reiter kam angesprengt. Mit einem Sprung setzte das Pferd über den Graben, der die Chaussee von dem niedrigen Gartenzaun trennte. Der Reiter winkte den im Gras Liegenden mit der Peitsche.

»Heda, Jungs, kommt mal her!«

Die drei sprangen auf und rannten zum Zaun. Der Reiter war völlig in Staub gehüllt; die in den Nacken geschobene Mütze, die graue Hose und die Feldbluse waren mit einer dicken Schicht grauen Straßenstaubs bedeckt. Am Koppel baumelten ein Revolver und zwei deutsche Handgranaten.

»Bringt mir Wasser zum Trinken, Jungs!« bat er, und während Pawel ins Haus lief, um Wasser zu holen, wandte sich der Reiter Serjosha zu, der ihn unverwandt anstarrte:

»Sag mal, Junge, wer ist jetzt bei euch in der Stadt an der Macht?«

Hastig teilte Serjosha dem Fremden alle Neuigkeiten mit.

»Seit zwei Wochen ist bei uns niemand an der Macht. Hier herrscht der Selbstschutz. Alle Einwohner halten nachts der Reihe nach Wache. - Aber was sind Sie denn für einer?« fragte er nun seinerseits.

»Merk dir, wer zuviel weiß, wird bald alt«, erwiderte der Reiter mit einem Lächeln.

Pawel kam mit einem Krug Wasser aus dem Haus gelaufen.

Gierig trank der Reiter das Wasser in einem Zug bis auf den letzten Tropfen aus, gab Pawel den Krug zurück, zog die Zügel an und sprengte im Galopp zu dem nahen Tannenwäldchen.

»Wer war das?« wandte sich Pawel verständnislos an Klimka.

»Woher soll ich denn das wissen?« erwiderte dieser achselzuckend.

»Wahrscheinlich wird wieder eine andere Macht kommen. Deshalb haben sich auch gestern Leszczynskis verduftet, und wenn die Reichen ausrücken, so bedeutet das: die Partisanen kommen«, entschied Serjosha mit Bestimmtheit diese höchst politische Frage.

Seine Schlussfolgerungen waren so einleuchtend, dass Pawel und Klimka sofort zustimmten.

Noch hatten sich die drei Jungen über das eben Geschehene nicht richtig aussprechen können, als auf der Chaussee abermals Pferdegetrappel zu hören war. Alle drei rannten zum Gartenzaun.

Vom Wald her, von dort, wo kaum sichtbar das Försterhaus lag, kamen Menschen und Fuhrwerke, und bereits ganz nahe sprengten auf der Chaussee ungefähr fünfzehn Berittene heran, die Gewehre quer über dem Sattel. Zwei ritten voran: der eine ein älterer Mann in feldgrauem Rock mit Offizierskoppel und einem Feldstecher auf der Brust; neben ihm der Reiter, mit dem die Jungen soeben gesprochen hatten. Am Rock des Älteren leuchtete ein rotes Band.

»Was hab ich gesagt!« rief Serjosha und puffte Pawel mit dem Ellbogen in die Seite.

»Siehst du, ein rotes Band. Partisanen! Ich will mich totschlagen lassen, wenn das nicht Partisanen sind …« Er jauchzte vor Freude auf und schwang sich über den Zaun auf die Straße.

Die beiden Freunde folgten seinem Beispiel. Alle drei standen jetzt am Rande der Chaussee und blickten auf die Näher kommenden.

Die Männer ritten dicht heran. Der Reiter, mit dem die Jungen schon bekannt geworden waren, nickte ihnen zu und wies mit der Peitsche auf das Haus der Leszczynskis.

»Wer wohnt dort?«

Pawel, bemüht, mit dem Pferd des Reiters Schritt zu halten, erzählte:

»Das ist das Haus vom Rechtsanwalt Leszczynski. Gestern ist er ausgerückt. Hat wahrscheinlich Angst vor euch gekriegt…«

»Woher weißt du denn, wer wir sind?« erkundigte sich der andere Reiter lächelnd.

Pawka zeigte auf das rote Band und erwiderte: »Und was ist das da? Man sieht's doch gleich …«

Die Einwohner strömten auf die Straße und bestaunten neugierig die in die Stadt einrückende Abteilung. Unsere drei Freunde standen an der Chaussee und wandten kein Auge von den vorüberziehenden müden, staubbedeckten Rotgardisten. Als das einzige Geschütz der Abteilung und die Karren mit den

Maschinengewehren über das Pflaster geholpert waren, gingen die Jungen den Partisanen nach und kehrten erst nach Hause zurück, als die Truppe im Zentrum der Stadt Halt gemacht hatte und in den Wohnungen Quartier bezog.

In dem geräumigen Esszimmer des Leszczynskischen Hauses, in dem sich der Stab einquartiert hatte, saßen am Abend vier Männer an einem großen Tisch mit gedrechselten Beinen; es waren der Abteilungskommandeur, Genosse Bulgakow, ein älterer Mann mit graumeliertem Haar, und drei Stabsmitglieder.

Bulgakow hatte die Karte des Gouvernements auf dem Tisch ausgebreitet, fuhr mit dem Finger über sie hinweg, indem er wichtige Linien mit dem Nagel nachzog, und sprach auf einen Mann mit hervorstehenden Backenknochen und kräftigen Zähnen ein, der ihm gegenübersaß.

»Du meinst also, Genösse Jermatschenko, dass wir hier den Kampf aufnehmen sollen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir morgen früh von hier abrücken müssen. Besser wäre sogar, es noch in der Nacht zu tun, aber die Leute sind müde. Wir haben die Aufgabe, schnellstens Kasatin zu erreichen, damit die Deutschen uns nicht zuvorkommen. Mit unseren Kräften Widerstand zu leisten wäre ja lächerlich … Ein einziges Geschütz mit etwa dreißig Geschossen, zweihundert Bajonette und sechzig Säbel - was für eine kolossale Streitmacht …! Die Deutschen rücken wie eine eiserne Lawine vor … Ein Gefecht können wir erst aufnehmen, wenn wir uns mit anderen abziehenden Roten Abteilungen vereinigt haben. Wir müssen doch im Auge behalten, Genosse, dass wir, außer mit den Deutschen, unterwegs noch mit den verschiedenen konterrevolutionären Banden zu tun haben werden. Meine Meinung ist die: Morgen früh ziehen wir los und sprengen beim Abmarsch die Eisenbahnbrücke hinter der Station. Bis die Deutschen sie wieder instand gesetzt haben, werden zwei, drei Tage vergehen. Der Weitertransport ihrer Truppen auf der Bahnstrecke wird somit aufgehalten. Was meint ihr dazu, Genossen? Fassen wir also einen Beschluss!«

Strushkow, der Bulgakow schräg gegenübersaß, bewegte die Lippen, schaute auf die Karte, dann auf Bulgakow und presste schließlich mühsam die Worte hervor:

»Ich … unter … stütze Bulgakow.«

Der jüngste der Anwesenden, ein Bursche in einem Arbeitskittel, erklärte sich ebenfalls einverstanden:

»Bulgakow hat recht.«

Nur Jermatschenko, derjenige, der am Tag mit den Jungen gesprochen hatte, schüttelte den Kopf.

»Wozu, zum Teufel, haben wir denn die Abteilung aufgestellt? Um vor den Deutschen kampflos zurückzuweichen? Meiner Ansicht nach soll man es hier mit ihnen aufnehmen. Ich hab es satt, ewig zu türmen. Wenn es nach mir ginge, würde ich hier kämpfen - unbedingt…«

Heftig rückte er den Stuhl vom Tisch weg, erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab.

Bulgakow betrachtete ihn missbilligend.

»Kämpfen muss man mit Verstand, Jermatschenko. Wir können die Leute nicht dem sicheren Untergang und der Vernichtung preisgeben. Und außerdem wäre es einfach lächerlich, denn eine ganze Division rückt uns nach, mit schwerer Artillerie und Panzerautos … Sei doch kein Kind, Genosse Jermatschenko ..…« Und schon an die übrigen gewandt, fügte er hinzu:

»Es ist also beschlossene Sache - morgen früh rücken wir ab … Die nächste Frage betrifft die Verbindung«, fuhr Bulgakow fort.

»Da wir zuletzt abrücken, haben wir die Arbeit im Hinterland der Deutschen zu organisieren. Hier ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, das Städtchen hat zwei Bahnhöfe. Wir müssen dafür sorgen, dass ein zuverlässiger Genosse auf der Bahnstation arbeitet. Wir werden sofort entscheiden, wen wir von den Unsern zur Organisierung der Arbeit hier lassen können. Schlagt Kandidaten vor.«

»Ich denke, man sollte den Matrosen Shuchrai dazu bestimmen«, sagte Jermatschenko und trat an den Tisch.

»Erstens stammt Shuchrai aus dieser Gegend. Zweitens ist er Schlosser und Monteur, kann also Arbeit auf der Station bekommen. Drittens ist er von niemandem bei unserer Abteilung gesehen worden - er trifft erst nachts hier ein. Er hat Grütze im Kopf und wird seine Sache schon machen. Ich denke, das ist der geeignetste Mann.« Bulgakow nickte.

»Richtig, ich bin mit dir einverstanden, Jermatschenko. Habt ihr etwas einzuwenden, Genossen?« wandte er sich an die übrigen.

»Nein? Die Frage ist also erledigt. Wir geben Shuchrai Geld und ein Mandat für die Arbeit … Und jetzt noch die dritte und letzte Frage, Genossen. Es handelt sich um die Waffen, die sich in der Stadt befinden. Wie wir erfahren haben, ist hier ein ganzes Waffenlager vorhanden - zwanzigtausend Gewehre, die noch vom zaristischen Krieg stammen. Sie liegen in einer Scheune. Das Lager ist von allen vergessen worden. Mir hat der Bauer, dem die Scheune gehört, davon Mitteilung gemacht. Er möchte die Gewehre loswerden … Wir dürfen dieses Lager natürlich keineswegs in die Hände der Deutschen fallen lassen. Ich denke, dass man es in Brand setzen sollte, und zwar gleich, damit bis zum Morgen alles vorbei ist. Die Sache hat aber einen Haken. Die Scheune steht am Rande der Stadt, inmitten armseliger Bauernhöfe, die Feuer fangen könnten.«

Strushkow, ein Mann von kräftiger Gestalt, mit einem schon seit langem unrasierten Gesicht, erhob sich:

»W o.… wo ..… wozu ..… verbrennen? Ich d-denke, wir sollten die Waffen unter die Be … Bevölkerung ver … verteilen.«

Bulgakow wandte sich ihm sofort zu:

»Verteilen, sagst du?«

»Richtig! Das ist eine Idee!« rief Jermatschenko begeistert aus. »Man muss sie an die Arbeiter und an die übrige Bevölkerung ausgeben, an alle, die Waffen wollen. Dann werden sie wenigstens etwas haben, womit sie den Deutschen auf die Finger klopfen können, wenn die es zu toll treiben. Und das werden sie bestimmt. Wenn's nicht mehr zum Aushalten ist, werden die Jungen schon zu den Waffen greifen. Strushkow hat recht: Die Waffen müssen verteilt werden. Es wäre sogar gut, sie hinaus aufs Land zu schaffen. Die Bauern werden sie ganz tief einbuddeln, und wenn die Deutschen kommen, um alles zu requirieren, wird man diese Dinger recht gut brauchen können.« Bulgakow lachte auf.

»Ja, aber die Deutschen werden befehlen, alle Waffen abzuliefern, und da wird man alles angeschleppt bringen.« Jermatschenko protestierte:

»Nicht alle werden das tun, manche ja, andere nicht.« Bulgakow streifte die Anwesenden mit einem fragenden Blick.

»Wir müssen die Gewehre verteilen, unbedingt verteilen«, unterstützte der junge Arbeiter Jermatschenko und Strushkow.

»Also gut, verteilen wir sie«, willigte Bulgakow ein.

»So, das wäre nun alles«, sagte er und stand auf.

»Wir können uns jetzt bis zum Morgen ausruhen. Wenn Shuchrai kommt, schickt ihn zu mir. Ich will mit ihm sprechen. Und du, Jermatschenko, geh und kontrolliere die Posten.« Nachdem die drei ihn verlassen hatten, ging Bulgakow in das Schlafzimmer der Hauseigentümer, breitete auf der Matratze seinen Soldatenmantel aus und legte sich nieder.

Am nächsten Morgen ging Pawel vom Elektrizitätswerk nach Hause. Seit einem Jahr arbeitete er dort bereits als Hilfsheizer.

Im Städtchen herrschte ein ungewöhnliches Treiben. Das fiel ihm sofort auf. Man sah immer mehr Leute, die ein, zwei, sogar drei Gewehre trugen. Pawel eilte heim, ohne zu verstehen, was da vor sich ging. Vor der Leszczynskischen Villa sattelten seine neuen Freunde die Pferde.

Er rannte heim, wusch sich hastig und erfuhr von der Mutter, dass Artjom noch nicht nach Hause gekommen war. Darauf lief Pawka zu Serjosha Brusshak, der am anderen Ende der Stadt wohnte.

Serjosha war der Sohn eines Lokomotivführergehilfen. Sein Vater hatte ein Häuschen und eine kleine Wirtschaft.

Serjosha war nicht zu Hause. Seine Mutter, eine rundliche Frau mit sehr weißer Haut, schaute Pawel mit unzufriedener Miene an.

»Der Teufel mag wissen, wo der steckt! Sprang in aller Herrgottsfrühe aus den Federn und treibt sich weiß Gott wo herum. Man sagt, dass irgendwo Waffen verteilt werden. Dort wird er sicher auch nicht fehlen. Die Hosen strammziehen sollte man euch Rotznasen. Seid schon ganz außer Rand und Band geraten. Seine liebe Müh und Not hat man mit euch. Noch nicht trocken hinter den Ohren, und schon Waffen in den Händen. Sag dem Bengel, dass ich ihm den Kopf abreißen werde, wenn er mir nur eine einzige Patrone ins Haus bringt. Jeden Dreck schleppt er heran, und dann soll man auch noch die Verantwortung dafür tragen. Und du, du rennst wohl auch dahin?«

Aber Pawel hörte nicht mehr auf das Geschimpfe von Serjoshas Mutter, sondern war schon wieder auf und davon.

Auf der Chaussee kam ihm ein Mann entgegen, der über jeder Schulter ein Gewehr trug.

Pawel stürzte auf ihn zu.

»Onkelchen, woher hast du die?«

»Dort oben in der Werchowina werden sie verteilt.«

So schnell ihn nur seine Beine trugen, rannte Pawel in die genannte Richtung.

Nachdem er zwei Straßen durchquert hatte, stieß er auf einen Jungen, der ein schweres Infanteriegewehr mit Bajonett schleppte.

»Woher hast du das?« Pawel hielt den Jungen an.

»Gegenüber der Schule geben die Soldaten Waffen aus, aber jetzt ist schon alles verteilt. Die ganze Nacht ging es. Bloß leere Kisten sind geblieben. Das ist schon das zweite, das ich erwischt habe«, schloss der Junge stolz.

Diese Nachricht war ein schwerer Schlag für Pawel.

Ach, zum Teufel, wäre ich doch gleich hingerannt und nicht erst nach Hause gegangen, dachte er verzweifelt. Wie konnte ich das nur verpassen?

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er drehte sich jäh um, holte mit drei Sprüngen den Jungen ein und riss ihm mit aller Kraft das Gewehr aus den Händen.

»Du hast schon eins - das reicht für dich. Und das hier nehme ich!« erklärte Pawka in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Außer sich über diesen Raub am helllichten Tag, warf sich der Junge auf Pawka. Dieser sprang jedoch einen Schritt zurück und hielt ihm das Bajonett entgegen:

»Weg, oder du wirst aufgespießt!« schrie er.

Der Junge heulte vor Ärger los und lief schimpfend in ohnmächtiger Wut davon. Pawka aber ging befriedigt nach Haus. Er setzte über den Zaun und eilte in den kleinen Schuppen, versteckte das eroberte Gewehr unter einem Dachbalken und ging dann, vergnügt vor sich her pfeifend, ins Haus.

Schön sind die Sommerabende in solchen ukrainischen Städtchen wie Schepetowka, die bis auf einige wenige Straßen im Stadtinnern ganz ländlich anmuten.

An diesen stillen Sommerabenden ist die gesamte Jugend auf der Straße. Die Mädchen und Burschen versammeln sich vor ihren Haustüren, in den Gärten und Vorgärten, oder sie sitzen gruppen- und paarweise auf dem geschichteten Bauholz auf der Straße.

Ringsum Lachen und Gesang.

Die Luft ist erfüllt von berauschendem Blumenduft. Hoch am Himmel flimmern die Sterne, kleinen Leuchtkäfern gleich, und der Klang der Stimme ist weithin vernehmbar .….

Pawkas große Leidenschaft ist seine Ziehharmonika. Liebevoll hält er das klangvolle Instrument mit den zwei Tastenreihen auf den Knien. Die geschmeidigen Finger berühren kaum die Tasten, behänd gleiten sie von oben nach unten. Tief seufzen die Bässe auf, und plötzlich erklingt hellstimmig und übermütig ein Lied …..

Der Balg der Ziehharmonika krümmt und dehnt sich - wer will da nicht tanzen? Das junge Volk hält es kaum auf den Plätzen, die Beine bewegen sich von selbst.

Heute Abend geht es besonders fröhlich zu. Es ist ein lustiges Völkchen, das sich bei den aufgestapelten Balken vor Pawels Haus zusammengefunden hat. Und am lautesten tönt das herzliche Lachen von Galotschka, der Nachbarin. Die Tochter des Steinmetzen liebt Tanz und Gesang sehr. Sie hat eine tiefe Altstimme, weich wie Samt.

Pawel fürchtet sich ein wenig vor der Zunge Galotschkas. Sie setzt sich neben ihn auf die Balken, drückt ihn fest an sich und lacht.

»Ach, du mein unübertrefflicher Musikant! Schade, bist noch ein bisschen zu jung, sonst wärst du gerade der passende Mann für mich. Ich liebe die Harmonikaspieler, das Herz schmilzt mir jedes Mal, wenn ich sie höre.«

Pawel errötete bis an die Haarwurzeln - nur gut, dass man das am Abend nicht sehen kann. Er rückt ab von Galotschka, sie aber hält ihn fest und lässt ihn nicht weg.

»Wohin willst du denn, mein Lieber? Bist ein schöner Freier«, neckt sie ihn.

Pawka fühlt ihre prallen Brüste an seiner Schulter. Eine unerklärliche Unruhe erfüllt sein Herz. Und ringsum erschüttert Gelächter die sonst so ruhige Straße.

Pawka stemmt seine Hand gegen Galotschkas Schulter und sagt: »Stör mich nicht. Rück ein wenig beiseite.«

Und wieder lautes Lachen, Necken und Scherze.

Marussja mischt sich ein:

»Pawka, spiel doch etwas Trauriges, was einem so richtig zu Herzen geht.«

Langsam dehnt sich die Harmonika, langsam gleiten die Finger; eine allen bekannte, von allen geliebte Melodie. Galotschka greift sie als erste auf, nach ihr Marussja und alle anderen.

In der heimischen Hütte,

da versammeln sich die Treidler.

Lieb und schön ist's hier.

Von unserem traurig Los

woll'n ein Lied wir singen.

»Pawka!« Das ist Artjoms Stimme.

Pawel packt die Ziehharmonika zusammen.

»Ich muss jetzt gehen. Artjom ruft mich.«

Marussja bittet:

»Bleib noch ein Weilchen, spiel noch eins. Kommst noch früh genug nach Haus.«

Aber Pawel hat es eilig.

»Nein, morgen ist auch noch ein Tag. Da können wir wieder spielen. Jetzt muss ich gehen.« Und schon eilt er über die Straße und ist im Haus verschwunden.

Er öffnet die Zimmertür und sieht: Am Tisch sitzen Roman, ein Arbeitskollege von Artjom, und noch ein anderer Mann, den er nicht kennt.

»Du hast mich gerufen?« fragt Pawel.

Artjom nickt und sagt dann zu dem Unbekannten:

»Das ist er also, mein Brüderchen.«

Der Fremde streckt Pawel seine schwielige Hand entgegen.

»Hör mal zu, Pawka«, wendet sich Artjom an den Bruder.

»Du hast mir doch gesagt, dass bei euch im Elektrizitätswerk der Monteur krank geworden ist. Erkundige dich morgen, ob sie nicht einen einstellen wollen, der was von der Sache versteht. Wenn sie jemanden brauchen, gib mir sofort Bescheid.«

Der Unbekannte mischt sich ins Gespräch.

»Nein, ich geh lieber mit ihm zusammen hin. Will selbst mit dem Chef reden.«

»Natürlich brauchen wir einen. Das Werk stand doch heute still, weil Stankowitsch krank geworden ist. Unser Chef ist zweimal gegangen, um Ersatz zu finden, aber vergebens. Er wollte nicht riskieren, das Werk mit nur einem Heizer in Gang zu setzen.«

»Na also, dann ist die Sache schon so gut wie gemacht«, sagte der Unbekannte.

»Ich hole dich morgen früh ab und gehe mit dir zusammen hin«, wendet er sich an Pawel.

»Schön.«

Pawels Blick begegnet den ruhigen grauen Augen des Unbekannten, die ihn aufmerksam mustern. Der feste, unverwandte Blick verwirrt Pawel ein wenig. Die von oben bis unten zugeknöpfte graue Jacke spannt etwas über dem breiten Rücken. Schultern und Kopf sind durch einen kräftigen Nacken verbunden, und der ganze Mensch strotzt vor Kraft wie eine alte knorrige Eiche. Beim Abschied sagt Artjom:

»Einstweilen alles Gute, Shuchrai. Morgen gehst du mit meinem Bruder hin und regelst die Sache.«

Die Deutschen marschierten drei Tage nach dem Abzug der Rotgardisten in die Stadt ein. Das Pfeifen der Lokomotive auf dem in den letzten Tagen verwaisten Bahnhof verkündete ihre Ankunft. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht im Städtchen:

»Die Deutschen sind da!«

Und obwohl alle längst wussten, dass die Deutschen kommen würden, glich die Stadt in diesem Augenblick einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Man hatte doch nicht so recht daran glauben wollen. Und jetzt waren sie plötzlich da, diese schrecklichen Deutschen. Sie waren nicht mehr irgendwo im Anmarsch, sondern schon mitten in der Stadt.

Die Einwohner standen alle hinter ihren Gartenzäunen oder an den Pforten. Auf die Straße trauten sie sich nicht hinaus.

Die Deutschen, in ihren dunkelgrünen Uniformen, marschierten mit gefälltem Bajonett zu beiden Seiten der Chaussee, die Mitte frei lassend. Die Bajonette waren breit wie Messer. Auf dem Kopf trugen die Soldaten schwere Stahlhelme und auf dem Rücken mächtige Tornister. In langer, ununterbrochener Reihe marschierten sie vom Bahnhof zur Stadt, stets auf der Hut, jederzeit zur Abwehr bereit, obwohl kein Mensch daran dachte, ihnen Widerstand zu leisten.

Den Gruppen voran marschierten zwei Offiziere, Mauserpistolen in den Händen. In der Mitte der Chaussee schritt ein Hetmanfeldwebel in blauem ukrainischem Überrock und mit Tscherkessenmütze; er war der Dolmetscher.

Die Deutschen nahmen auf dem Platz im Zentrum der Stadt in einem Viereck Aufstellung. Die Trommel wurde geschlagen. Eine kleine Gruppe etwas dreister gewordener Einwohner hatte sich angesammelt. Der Hetmanfeldwebel stieg auf die Vortreppe der Apotheke und verlas mit lauter Stimme den Befehl des Kommandanten, Major Korff:

Ich befehle:

§1 Alle Bürger der Stadt haben binnen 24 Stunden die in ihrem Besitz befindlichen Schuss- und Hiebwaffen abzuliefern. Nichteinhaltung dieses Befehls wird mit dem Tode durch Erschießen bestraft.

§ 2 Über die Stadt wird der Belagerungszustand verhängt. Nach acht Uhr abends

ist das Verlassen der Wohnung verboten.

DER STADTKOMMANDANT MAJOR KORFF

In dem Gebäude der früheren Stadtverwaltung, wo nach der Revolution der Rat der Arbeiterdeputierten seinen Sitz gehabt hatte, richtete sich die deutsche Militärkommandantur ein. Vor dem Eingang stand ein Posten, der keinen Stahlhelm, sondern eine Pickelhaube mit dem riesigen kaiserlichen Adler trug. Im Hof befand sich die Waffenablieferungsstelle.

Durch die angedrohte Erschießung erschreckt, schleppte die Bevölkerung den ganzen Tag Waffen herbei. Erwachsene ließen sich nicht blicken. Kinder und Halbwüchsige lieferten die Waffen ab. Die Deutschen nahmen niemanden fest. Wer die Waffen nicht bis zur Sammelstelle tragen wollte, warf sie einfach in der Nacht auf die Straße. Am Morgen sammelte eine deutsche Patrouille die Waffen auf, packte sie auf einen Wagen und schaffte sie zur Kommandantur.

Um ein Uhr mittags, nach Ablauf der Ablieferungsfrist, zählten die deutschen Soldaten ihre Trophäen. Es waren insgesamt vierzehntausend Gewehre abgeliefert worden, sechstausend Gewehre blieben somit in den Händen der Bevölkerung. Die daraufhin vorgenommenen allgemeinen Haussuchungen hatten nur ganz magere Ergebnisse.

Im Morgengrauen des darauf folgenden Tages wurden hinter der Stadt beim alten jüdischen Friedhof zwei Eisenbahnarbeiter erschossen, bei denen während der Haussuchung Gewehre gefunden worden waren.

Sofort nach Bekanntgabe des Befehls war Artjom nach Hause gerannt. Im Hof begegnete er Pawel. Er packte ihn an der Schulter und fragte mit leiser, jedoch eindringlicher Stimme:

»Hast du etwas von dem Lager nach Hause gebracht?«

Pawel wollte erst die Sache mit dem Gewehr verschweigen, doch widerstrebte es ihm, den Bruder zu belügen, und so erzählte er ihm alles.

Sie gingen miteinander zum Schuppen. Artjom holte das Gewehr hinter dem Dachbalken hervor, entfernte den Verschluss und das Bajonett, packte dann das Gewehr am Lauf und schlug es mit aller Kraft gegen einen Zaunpfosten. Der Kolben brach in Stücke. Die Reste des Gewehrs warf Artjom auf einen unbebauten Platz weit hinter dem Garten. Das Bajonett und den Verschluss versenkte er in die Abortgrube.

Als er mit allem fertig war, wandte sich Artjom an seinen Bruder und sagte:

»Du bist kein Kind mehr, Pawka, du verstehst, dass Waffen kein Spielzeug sind. Ich warne dich ganz ernstlich: Schlepp nichts mehr ins Haus. Du weißt doch, dass es einem jetzt das Leben kosten kann. Sei vernünftig, und dass du mich nicht hinters Licht führst. Denn wenn du so was nach Hause bringst und man findet es, werde ich als erster erschossen. Dich Rotznase wird keiner anrühren. Es sind jetzt verfluchte Zeiten. Verstanden?«

Pawel gab dem Bruder das Versprechen, nichts mehr nach Hause zu bringen.

Als die beiden über den Hof gingen, hielt gerade eine Kutsche vor dem Tor des Leszczynskischen Hauses an. Ihr entstieg der Rechtsanwalt mit seiner Frau und den Kindern - Nelly und Viktor.

»Ja, ja, jetzt kommen sie wieder angeflogen, die Vögelchen«, brummte Artjom erbittert.

»Nun wird es heiter hergehen, hol alles der Teufel!« Und er ging ins Haus.

Pawel trauerte den ganzen Tag seinem Gewehr nach. Zur selben Zeit mühte sich sein Freund Serjosha im Schweiße seines Angesichts ab, mit dem Spaten in einem alten verlassenen Schuppen an der Wand eine Grube auszuheben. Endlich war sie tief genug, und Serjosha legte drei nagelneue, in Lappen eingewickelte Gewehre hinein, die er bei der Verteilung erbeutet hatte. Es fiel ihm gar nicht ein, sie den Deutschen abzuliefern. Dazu hatte er sich nicht eine ganze Nacht lang geplagt, dass er sich jetzt von seiner Beute trennen sollte.

Als er die Grube wieder zugeschüttet hatte, stampfte er die Erde sorgfältig fest und schleppte dann Müll und altes Gerumpel auf die eingeebnete Stelle; darauf betrachtete er kritisch das Ergebnis seiner Arbeit und fand es befriedigend.

Jetzt mögen sie ruhig suchen, dachte er, und wenn sie was finden, so wissen sie noch lange nicht, wem der Schuppen gehört.

Unmerklich schloss sich Pawel immer enger dem rauen Monteur an, der bereits seit einem Monat im Elektrizitätswerk arbeitete.

Shuchrai erklärte seinem Hilfsheizer die Konstruktion eines Dynamos und lernte ihn an.

Der aufgeweckte Junge gefiel dem Matrosen. An seinen freien Tagen kam Shuchrai oft zu Artjom. Geduldig und verständnisvoll hörte sich der ernste Matrose alle Erzählungen über das Leben und Treiben im Städtchen an; besonderes Interesse zeigte er, wenn die Mutter über Pawkas Streiche klagte. Shuchrai verstand es, auf Maria Jakowlewna so beruhigend einzuwirken, dass sie all ihr Missgeschick vergaß und zuversichtlich gestimmt wurde.

Eines Tages hielt Shuchrai im Hof des Elektrizitätswerks zwischen den dort aufgeschichteten Holzstapeln Pawel an und sagte lächelnd zu ihm:

»Deine Mutter hat mir erzählt, dass du dich gern raufst. ›Er ist ein richtiger Kampfhahn‹, hat sie gesagt.« Der Monteur lachte gutmütig. »Kämpfen ist gar nicht so schlecht. Nur muss man wissen, wen man prügelt und wofür.«

Pawel, der nicht wusste, ob Shuchrai das ernst meinte oder sich nur über ihn lustig machte, antwortete:

»Ich raufe mich nicht so ins Blaue hinein, sondern nur, wenn es um etwas Gerechtes geht.«

Plötzlich schlug ihm Shuchrai vor:

»Willst du? - Ich bring dir bei, wie man sich richtig schlägt.«

Pawel blickte ihn erstaunt an.

»Was heißt das: richtig?«

»Das wirst du gleich sehen.«

Und Pawka erhielt seine erste kurze Lektion im Boxen.

Diese Kunst fiel Pawel anfangs nicht leicht, aber er gab sich große Mühe. Mehr als einmal warf ihn Shuchrais Faustschlag kopfüber zu Boden, aber der fleißige Schüler hielt durch.

An einem heißen Sommertag kam Pawel nach einem Besuch bei Klimka heim, schlenderte im Zimmer umher, wusste aber nichts anzufangen. Da entschloss er sich, seinen Lieblingsplatz auf dem Dach des Wächterhäuschens aufzusuchen, das hinter dem Haus in einem Winkel des Gartens stand. Er ging über den Hof in den Garten hinaus zu dem Bretterschuppen und kletterte aufs Dach; er kroch in die dichten Zweige des Kirschbaums, die über dem Schuppen hingen, bis zur Mitte des Daches und legte sich in die pralle Sonne.

Die eine Seite des Wächterhäuschens war dem Leszczynskischen Garten zugewandt; kroch man bis zum Dachrand, so waren der ganze Garten und eine Seite des Hauses zu überschauen. Pawel beugte neugierig den Kopf über den Dachvorsprung und erblickte einen Teil des Hofes, wo die Kutsche stand. Er konnte sehen, wie der Bursche des deutschen Leutnants, der in der Leszczynskischen Wohnung einquartiert war, die Uniform seines Herrn ausbürstete. Pawka hatte den Offizier schon oft am Tor der Villa gesehen.

Der Leutnant war untersetzt, rotwangig und hatte einen gestutzten Schnurrbart; er trug einen Klemmer und hatte eine Mütze mit lackiertem Schirm auf. Pawka wusste, dass der Leutnant das Seitenzimmer bewohnte, dessen Fenster auf der Gartenseite lag und vom Dach aus sichtbar war.

Der Deutsche saß am Tisch und schrieb etwas, dann nahm er das Geschriebene und verließ das Zimmer. Er übergab den Brief seinem Burschen und ging danach durch den Garten. Vor der Gartenlaube blieb der Leutnant stehen und schien sich mit jemandem zu unterhalten. Aus der Laube kam Nelly Lesz-czynska. Er schob seinen Arm unter den ihren, und beide traten durch die Gartentür auf die Straße hinaus.

Pawel hatte das alles beobachtet. Er war schon halb im Einschlafen, als er den Burschen in das Zimmer des Leutnants treten sah. Dort hängte der Bursche die Uniform an den Haken, öffnete das Fenster, räumte ein wenig auf und ging wieder hinaus, die Tür lehnte er nur an.

Im nächsten Augenblick sah ihn Pawel bereits im Pferdestall.

Durch das offene Fenster konnte Pawel das ganze Zimmer überblicken. Auf dem Tisch lag Riemenzeug und etwas Glänzendes.

Von heftiger Neugier geplagt, kletterte Pawel lautlos vom Dach auf den Kirschbaum hinüber und ließ sich vom Stamm in den Leszczynskischen Garten gleiten. Gebückt erreichte er mit ein paar Sprüngen das offene Fenster und blickte ins Zimmer. Auf dem Tisch lagen ein Offizierskoppel mit Portepee und eine Tasche mit einer wundervollen Mannlicher-Pistole.

Pawel stockte der Atem. Einige Sekunden tobte in seinem Innern ein schwerer Kampf. Aber schließlich siegte sein tollkühnes Verlangen. Er beugte sich ins Zimmer hinein, griff nach der Tasche und zog die funkelnagelneue Waffe heraus. Er sprang wieder in den Garten, schaute sich nach allen Seiten um und steckte die Pistole vorsichtig in seine Tasche. Geschwind ging's dann durch den Garten zum Kirschbaum zurück. Pawel erklomm behänd wie ein Affe das Dach, dann blickte er hinunter. Der Offiziersbursche unterhielt sich friedlich mit dem Stallknecht. Im Garten war alles still … Er kletterte vom Schuppen und lief nach Hause.

Die Mutter war in der Küche mit dem Mittagessen beschäftigt und beachtete Pawel nicht.

Er ergriff unauffällig einen Lappen, steckte ihn in die Hosentasche und verschwand aus dem Haus, rannte durch den Garten, kletterte über den Zaun und schlug den Weg zum Wald ein. Er hielt die schwer gegen das Bein schlagende Pistole mit der Hand fest und lief aus Leibeskräften auf eine verfallene Ziegelei zu. Seine Füße berührten kaum den Boden, der Wind pfiff ihm um die Ohren.

Bei der alten Ziegelei herrschte tiefe Stille. Das hier und dort eingebrochene Holzdach, Berge zerbrochener Ziegelsteine und die verfallenen Öfen machten einen beängstigenden Eindruck. Alles war von Steppengras überwuchert. Hier hatten sich manchmal die drei Freunde zu ihren Spielen zusammengefunden. Pawel kannte viele verborgene Plätze, an denen man einen gestohlenen Schatz verstecken konnte.

Ehe er in einen zerfallenen Ofen hineinkroch, spähte er vorsichtig nach allen Seiten aus, aber auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Leise rauschten die Föhren. Ein leichter Wind wirbelte feinen Staub auf. Kräftiger Harzduft erfüllte die Luft.

Ganz unten auf dem Boden des Ofens legte Pawka die in einen Lappen gehüllte Pistole in eine Ecke und überdeckte sie mit einer Pyramide aus Ziegelsteinen. Nachdem er aus dem Ofen hervorgekrochen war, stopfte er das Loch, durch das er sich hineingezwängt hatte, mit Ziegeln zu, merkte sich die Lage der Steine und schritt dann langsam davon.

Die Knie zitterten ihm immer noch ein wenig.

Wie wird das enden, dachte er bei sich, und sein Herz krampfte sich vor Unruhe zusammen. Lange vor Arbeitsbeginn ging er ins Elektrizitätswerk, um nur nicht zu Hause sein zu müssen. Er holte sich beim Wächter den Schlüssel und schloss die breite Tür auf, die in den Kesselraum führte. Während er ein Zugloch reinigte, Wasser in den Kessel pumpte und anheizte, dachte er: Was mag sich jetzt in der Villa von Leszczynski abspielen?

Es war schon spätabends, gegen elf Uhr, als Shuchrai an Pawel herantrat, ihn auf den Hof hinausrief und flüsternd fragte:

»Warum ist bei euch heute Haussuchung gewesen?«

Pawel zuckte erschrocken zusammen.

»Was - Haussuchung?«

Shuchrai schwieg, dann fügte er hinzu:

»Ja, die Sache ist faul. Weißt du nicht, was sie gesucht haben?«

Pawel wusste es nur allzu gut. Er konnte sich jedoch nicht entschließen, Shuchrai von der gestohlenen Pistole zu erzählen. Vor Aufregung bebend, fragte er:

»Haben sie Artjom verhaftet?«

»Niemand ist verhaftet worden, aber sie haben im ganzen Haus das Oberste zuunterst gekehrt.«

Bei diesen Worten wurde es Pawel ein wenig leichter, aber seine Unruhe ließ nicht nach. Einige Minuten lang hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Der eine, dem die Ursache der Haussuchung bekannt war, machte sich Sorgen über den Ausgang der Affäre; der andere kannte die Ursache nicht, war jedoch nicht weniger beunruhigt.

Weiß der Teufel, vielleicht sind sie doch dahinter gekommen? Artjom weiß doch nichts von mir, warum haben sie Haussuchung bei ihm gemacht? Man muss noch vorsichtiger sein, überlegte Shuchrai.

Schweigend gingen beide an die Arbeit.

In der Villa herrschte tatsächlich große Aufregung.

Sobald der Leutnant die Pistole vermisst hatte, rief er den Burschen. Als es sich herausstellte, dass die Waffe verschwunden war, versetzte der sonst korrekte und zurückhaltende Offizier dem Burschen mit aller Wucht eine Ohrfeige. Der Soldat taumelte von dem Schlag zurück, schnellte aber wie eine Sprungfeder gleich wieder vor und wartete, die Hände an der Hosennaht, mit schuldbewusstem Gesicht gehorsam das Weitere ab.

Der zur Klärung der Angelegenheit herbeigerufene Rechtsanwalt war gleichfalls sehr aufgebracht und entschuldigte sich vielmals, dass so etwas in seinem Haus hatte passieren können.

Viktor Leszczynski äußerte seinem Vater gegenüber die Vermutung, dass die Pistole von den Nachbarn, und zwar wahrscheinlich von dem Rowdy Pawel Kortschagin, gestohlen worden sei. Der Vater beeilte sich, dem Leutnant die Vermutung seines Sohnes mitzuteilen, und dieser gab daraufhin der Wache den Befehl, sofort eine Haussuchung durchzuführen.

Die Haussuchung verlief ergebnislos. Der Vorfall mit der abhanden gekommenen Pistole bewies Pawel, dass sogar so gewagte Husarenstreiche manchmal glücklich ablaufen können.

Wie der Stahl gehärtet wurde

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