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DRITTES KAPITEL

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Tonja stand am offenen Fenster. Gelangweilt schweifte ihr Blick über den wohlbekannten und vertrauten Garten, über die ihn umgebenden hohen, schlanken Pappeln, die kaum merkbar im Wind bebten, und es schien ihr unfassbar, dass sie ein ganzes Jahr lang nicht zu Hause gewesen war. Es kam ihr vor, als hätte sie all diese seit ihrer Kindheit vertrauten Orte erst gestern verlassen und sei heute mit dem Morgenzug wieder heimgekehrt.

Nichts hatte sich hier verändert. Dieselben sorgfältig beschnittenen Reihen der Himbeersträucher, dieselben geometrisch abgezirkelten Gartenwege, die von den Lieblingsblumen der Mutter - Stiefmütterchen - umsäumt waren. Alles war sauber und gepflegt im Garten. Und eben diese peinliche Sauberkeit und diese abgezirkelten Gartenwege ödeten Tonja an.

Sie nahm ein Buch, öffnete die Verandatür, ging in den Garten hinunter, stieß das gestrichene Pförtchen auf und schlenderte die Straße entlang.

Sie passierte die kleine Brücke und betrat die Landstraße. Diese glich einer Allee; rechts lag, von Palmweiden und dichtem Weidengebüsch umgeben, ein Teich, und links begann der Wald.

Sie hatte schon fast die Teiche beim alten Steinbruch erreicht, als sie unten am Wasser eine ausgeworfene Angel bemerkte und stehen blieb.

Tonja beugte sich über eine gekrümmte Weide, schob mit der Hand die Zweige auseinander und erblickte einen braungebrannten barfüßigen Jungen mit bis über die Knie hochgekrempelter Hose. Neben ihm stand eine rostige Blechbüchse mit Würmern. Der Junge war völlig in seine Beschäftigung vertieft und bemerkte Tonjas aufmerksamen Blick nicht.

»Kann man denn da Fische fangen?«

Pawel schaute ärgerlich auf.

Ein fremdes Mädchen stand tief über das Wasser gebeugt und hielt sich an einer Weide fest. Es trug eine weiße Matrosenbluse mit blaugestreiftem Kragen und einen kurzen hellgrauen Rock. Die Söckchen mit dem bunten Rand um-

spannten ein Paar schlanke sonngebräunte Beine, die Füße steckten in braunen Halbschuhen. Das kastanienbraune Haar war in einem schweren Zopf zusammengehalten.

Die Hand des Jungen zitterte leicht. Der Schwimmer an der Angel zuckte, und konzentrische Kreise durchschnitten die glatte Wasseroberfläche. Ein aufgeregtes Stimmchen hinter ihm rief:

»Da beißt einer an, passen Sie auf, der beißt an.« Pawel kam völlig aus der Fassung und zog an der Angel. Wassertropfen spritzten empor, und ein am Angelhaken zappelnder Wurm kam zum Vorschein.

Zum Henker noch mal - nun ist's mit der ganzen Angelei vorbei. Warum zum Teufel ist die nur hergekommen, dachte Pawel wütend. Um seine Ungeschicklichkeit zu verbergen, warf er die Angel weit hinaus ins Wasser. Sie fiel zwischen zwei Wasserrosenblätter, gerade dorthin, wo man sie nicht hätte hinwerfen dürfen, da der Angelhaken in den Schlingpflanzen hängen bleiben konnte.

Er sah das sofort und fuhr, ohne sich umzudrehen, das Mädchen an:

»Was schreien Sie da herum? Sie verscheuchen mir ja alle Fische!«

Von oben ließ sich eine spöttische, belustigte Stimme vernehmen.

»Die Fische sind ja bei Ihrem Anblick schon längst davongeschwommen. Wer angelt denn auch am helllichten Tag? Sie sind mir ein schöner Angler!«

Das war entschieden zuviel für Pawels Selbstbeherrschung. Er erhob sich, zog die Mütze in die Stirn, was er immer machte, wenn er zornig war, und sagte, bemüht, sich so gewählt wie irgend möglich auszudrücken:

»Sagen Sie, Fräulein, könnten Sie sich wirklich nicht woanders niederlassen?«

Tonja kniff ein ganz klein wenig die Augen zusammen, dann blitzte es in ihnen vor unterdrücktem Lachen auf.

»Stör ich Sie denn?«

Ihre Stimme klang jetzt schon nicht mehr spöttisch, sondern freundschaftlich, versöhnlich, und Pawel, der im Begriff war, diesem plötzlich aufgetauchten wildfremden »Fräulein« einige saftige Grobheiten zu sagen, fühlte sich entwaffnet.

»Na schön, meinetwegen schauen Sie zu, wenn es Ihnen Spaß macht. Platz ist für uns beide genug da«, meinte er nachgiebig und setzte sich nieder, den Blick wiederum auf den Schwimmer der Angel gerichtet. Der lag dicht neben der Wasserrose, und es war fast sicher, dass sich der Haken dort verfangen hatte. Pawel konnte sich nicht entschließen, ihn herauszuziehen.

Ist er hängen geblieben, lässt er sich nicht losreißen. Und die da wird mich natürlich wieder auslachen. Wenn sie bloß weggehen wollte, dachte er.

Aber Tonja richtete es sich bequem auf der leicht schwankenden gekrümmten Weide ein, legte das Buch auf die Knie und beobachtete den sonngebräunten schwarzäugigen Grobian, der sie so wenig liebenswürdig empfangen hatte und nun so tat, als wäre sie Luft.

Pawel sah im Wasser das Spiegelbild des Mädchens. Sie las jetzt, und er zog sachte an der festsitzenden Angel. Der Schwimmer war ganz untergetaucht, die Schnur straffte sich.

Also tatsächlich hängen geblieben, verdammt noch mal, ging es ihm durch den Kopf. Mit einem Seitenblick bemerkte er die lachenden Augen des Mädchens im Wasserspiegel.

Über die kleine Brücke beim Pumpwerk kamen zwei junge Burschen - Obersekundaner des hiesigen Gymnasiums. Der eine war der Sohn des Depotleiters, des Ingenieurs Sucharko, ein siebzehnjähriger Lümmel mit Sommersprossen und fast weißen Wimpern und Augenbrauen, ein Galgenstrick, der in der Schule »der scheckige Schura« genannt wurde. Er war mit einer guten Angel ausgerüstet und hielt eine Zigarette keck im Mundwinkel. Neben ihm ging Viktor Leszczynski, ein schlanker, verzärtelter Jüngling.

Sucharko blinzelte Viktor vielsagend an und sagte, indem er sich zu ihm hinbeugte:

»Das Mädel hat's in sich. In der ganzen Gegend findest du hier keine, die es mit ihr aufnehmen könnte. Ich sage dir, direkt ein ro-man-ti-sches Wesen. Sie geht in Kiew zur Schule und verbringt jetzt die Sommerferien zu Hause. Ihr Vater ist hier am Ort Oberförster. Meine Schwester Lisa ist mit ihr gut bekannt. Ich habe ihr mal ein Briefchen geschickt, weißt du, so eins in gehobenem Stil: Bin irrsinnig in Sie verliebt, erwarte mit brennender Ungeduld Ihre Antwort und so weiter. Hatte sogar ein passendes Gedicht von Nadson aufgegabelt.«

»Und was weiter?« erkundigte sich Viktor neugierig.

Sucharko wurde ein wenig verlegen:

»Hm, sie ziert sich, hat große Rosinen im Kopf. ›Ist nur Papierverschwendung‹, sagte sie. Aber das ist am Anfang immer so. Bin in solchen Sachen bewandert. Weißt du, ich hab keine Lust, so einem Mädel lange den Hof zu machen und um sie herumzuscharwenzeln. Da geh ich lieber abends in die Reparaturbaracken. Dort kann man sich für drei Rubel das schönste Weibsstück aussuchen, einfach prima! Und ohne alles Getue. Ich bin mit Walka Tichonow dort hingegangen - du kennst doch den Bahnmeister?«

Viktor runzelte verächtlich die Stirn.

»Mit solchen Schmutzereien gibst du dich ab, Schura?« Schura zog an seiner Zigarette, spuckte aus und warf spöttisch hin:

»Tu doch nicht so, als wärst du weiß Gott was für ein Unschuldsengel. Wir wissen doch ganz genau, was du treibst.«

Viktor unterbrach ihn und fragte:

»Also du stellst mich jetzt vor?«

»Natürlich. Gehen wir schneller, damit sie nicht wegläuft. Gestern früh hat sie selbst geangelt.«

Die Freunde näherten sich Tonja.

Sucharko nahm die Zigarette aus dem Mund und verbeugte sich geckenhaft:

»Guten Tag, Mademoiselle Tumanowa. Angeln Sie?«

»Nein, ich schaue nur zu«, erwiderte Tonja.

»Kennen Sie sich?« fragte Sucharko rasch und zog Viktor näher heran.

»Mein Freund Viktor Leszczynski.«

Viktor gab Tonja verlegen die Hand.

»Und warum angeln Sie heute nicht?« fragte Sucharko, bemüht, die Unterhaltung in Gang zu bringen.

»Ich habe keine Angel mitgenommen«, antwortete Tonja.

»Ich bringe gleich eine«, sagte Sucharko diensteifrig.

»Nehmen Sie vorläufig meine, und ich hole gleich noch eine andere.«

Er hatte das Versprechen, Viktor mit Tonja bekannt zu machen, gehalten und wollte nun die beiden allein lassen.

»Nein, wir würden hier stören. Hier wird bereits geangelt«, antwortete Tonja.

»Wen stören?« fragte Sucharko.

»Ach, den dort?« Erst jetzt bemerkte er Pawel.

»Na, dem werd ich gleich Beine machen.«

Ehe Tonja etwas einwenden konnte, kletterte er zu Pawel hinunter.

»Zieh die Angel raus, und scher dich zum Teufel!« wandte sich Sucharko an Pawel.

»Na, wird's bald?« setzte er hinzu, als er sah, dass Pawel seelenruhig weiterangelte.

Pawel hob den Kopf und schaute Sucharko mit einem Blick an, der nichts Gutes verhieß.

»'n bisschen sachte, du! Sonst kannst du was erleben!«

»W-a-as?« brauste Sucharko auf.

»Du wagst noch zu widersprechen, du Lumpensack? Scher dich fort!« Mit diesen Worten versetzte er der Blechbüchse mit den Würmern einen kräftigen Fußtritt, so dass sie sich in der Luft überschlug und ins Wasser fiel. Die hoch aufspritzenden Wassertropfen benetzten Tonjas Gesicht.

»Sucharko, schämen Sie sich nicht?« rief sie empört aus.

Pawel sprang auf. Er wusste, Sucharko war der Sohn des Depotleiters, dem Artjom unterstellt war. Wenn er diesem Sommersprossigen jetzt eins in die lose Schnauze versetzte, würde sich der Gymnasiast bei seinem Vater beschweren,

und Artjom hätte dafür zu büßen. Das war der einzige Grund, der Pawel davon abhielt, dem Burschen sofort einen Denkzettel zu erteilen.

Sucharko spürte, dass der andere ihm gleich eine kleben würde, stürzte vor und stieß Pawel mit beiden Händen vor die Brust. Dieser fuchtelte mit den Armen, taumelte, erlangte jedoch schnell wieder das Gleichgewicht.

Sucharko war zwei Jahre älter als Pawel und als Raufbold und Rüpel bekannt.

Nach diesem heftigen Stoß konnte sich Pawel nicht mehr beherrschen.

»Ach so! Na warte mal!« Und er schlug ihm kräftig mit der Faust ins Gesicht. Ohne ihm dann Zeit zur Besinnung zu lassen, packte er ihn fest an seiner Gymnasiastenbluse und zog ihn in den Teich.

Sucharko stand bis zu den Knien im Wasser, seine gewichsten Schuhe und die Hose waren durchnässt, und er versuchte mit aller Kraft, sich aus Pawels Umklammerung zu befreien. Pawel sprang jedoch, nachdem er den Gymnasiasten ins Wasser gestoßen hatte, selbst schnell ans Ufer zurück.

Außer sich vor Wut, stürzte Sucharko hinter Pawel her und hätte ihn am liebsten in Stücke gerissen. Während sich Pawel rasch nach seinem Verfolger umdrehte, fiel ihm Shuchrais Unterricht ein: auf das linke Bein gestützt, das recht angespannt und ein wenig gebeugt. Nicht nur mit der Hand, sondern mit dem ganzen Körper zustoßen, von unten nach oben, gegen's Kinn schlagen.

Los…!

Jäh schlugen die Zähne aufeinander. Sucharko heulte auf von dem furchtbaren Schmerz im Kinn und in der Zunge, in die er sich gebissen hatte, fuchtelte hilflos mit den Händen herum und plumpste der Länge nach ins Wasser.

Tonja schüttelte sich vor Lachen.

»Bravo, bravo!« rief sie und klatschte in die Hände.

»Das ist ja fabelhaft!«

Pawel griff nach seiner Angel, zog sie mit einem Ruck heraus, so dass die Schnur abriss, und war mit einem Satz auf der Straße.

Beim Weggehen hörte er noch, wie Viktor zu Tonja sagte:

»Das ist Pawel Kortschagin, der berüchtigtste Raufbold der ganzen Gegend.«

Auf dem Bahnhof herrschte Aufregung. Ins Städtchen drangen Gerüchte, dass die Eisenbahner zu streiken begonnen hätten. Auf der benachbarten großen Eisenbahnstation war es unter den Depotarbeitern zu Unruhen gekommen. Zwei Lokomotivführer waren unter dem Verdacht, Flugblätter verteilt zu haben, von den Deutschen verhaftet worden. Auch der Arbeiter, die vom Lande stammten, bemächtigte sich große Erregung, hervorgerufen durch die Requisitionen und durch die Rückkehr der Gutsbesitzer auf ihre Güter.

Die Peitschen der hetmanschen Soldateska bearbeiteten brutal die Rücken der Bauern. Die Partisanenbewegung im Gouvernement wuchs immer mehr an. Man zählte bereits an die zehn Partisanenabteilungen, die von den Bolschewiki aufgestellt worden waren.

Shuchrai gönnte sich in diesen Tagen keinen Augenblick Ruhe. Während seines Aufenthalts im Städtchen hatte er große Arbeit geleistet, viele Eisenbahner kennen gelernt. Er besuchte die Tanzabende, auf denen die Jugend zusammenkam, und hatte eine starke, zuverlässige Gruppe aus Schlossern des Depots und Holzarbeitern organisiert. Auch bei Artjom fühlte er vor. Auf seine Frage, wie Artjom zur bolschewistischen Sache und Partei stehe, antwortete ihm der kräftige Schlosser:

»Ja, weißt du, Fjodor, ich kenne mich mit diesen Parteien schlecht aus. Aber wenn es darauf ankommt zu helfen, bin ich immer dabei. Du kannst auf mich rechnen.«

Fjodor war damit zufrieden - er wusste, dass Artjom hielt, was er einmal gesagt hatte. Für die Partei ist er noch nicht reif. Macht nichts, wir leben jetzt in einer solchen Zeit, dass er bald begreifen wird, worum es geht, dachte der Matrose.

Fjodor arbeitete jetzt nicht im Elektrizitätswerk, sondern im Depot. Das war günstiger für seine Arbeit, denn im Elektrizitätswerk fehlte ihm der Kontakt zu den Eisenbahnern.

Der Verkehr auf den Bahnlinien hatte gewaltigen Umfang angenommen. In Tausenden von Waggons beförderten die Feinde alles nach Deutschland, was sie in der Ukraine geraubt hatten: Roggen, Weizen, Vieh …

Unverhofft hatte die Hetmanwache den Telegrafisten Ponomarenko verhaftet. In der Kommandantur war er so erbarmungslos verprügelt worden, dass er etwas über die Agitationsarbeit Roman Sidorenkos, eines Kollegen von Artjom aus dem Depot, erzählt hatte.

Zwei deutsche Soldaten und einer der Hetmanleute, der Gehilfe des Stationskommandanten, erschienen im Depot, um Roman zu verhaften. Ohne ein Wort zu verlieren, trat der Hetmanoffizier zur Werkbank, an der Roman arbeitete, und schlug ihm mit der Knute ins Gesicht.

»Los, komm mit, du Hund! Wir wollen uns mal ein bisschen miteinander unterhalten«, sagte er und packte den Schlosser mit einem unheimlichen Grinsen am Ärmel.

»Dir wird das Agitieren schon vergehen!«

Artjom, der am benachbarten Schraubstock arbeitete, warf die Feile beiseite und trat in seiner ganzen Größe auf den Hetmanoffizier zu. Nur mühsam hielt er seinen Zorn zurück und fuhr ihn an:

»Was unterstehst du dich zu schlagen, du Schuft!«

Der Offizier wich einige Schritte zurück und griff nach seiner Revolvertasche. Einer der Soldaten, ein untersetzter, kurzbeiniger Kerl, riss sein schweres Gewehr mit dem breiten Bajonett von der Schulter.

»Halt!« bellte er, bereit, bei der ersten Bewegung zu schießen.

Beide Arbeiter wurden festgenommen. Artjom wurde nach einer Stunde wieder freigelassen, Roman aber in den Gepäckkeller gesperrt.

Zehn Minuten später ruhte die Arbeit im ganzen Depot. Die Depotarbeiter versammelten sich im Bahnhof. Auch die Weichensteller und Lagerarbeiter schlossen sich ihnen an.

Alles war in höchster Erregung.

Jemand schrieb einen Aufruf, der die Freilassung Romans und Ponomarenkos forderte.

Die Erregung nahm noch zu, als der Hetmanoffizier mit einem Haufen Soldaten zum Bahnhof gestürzt kam, mit dem Revolver herumfuchtelte und losbrüllte:

»Wenn ihr nicht sofort alle an die Arbeit geht, lasse ich euch auf der Stelle verhaften und ein paar von euch an die Wand stellen!«

Die Rufe der erbosten Arbeiter zwangen ihn jedoch, sich schleunigst zurückzuziehen. Aus der Stadt kamen bereits mit deutschen Soldaten besetzte Lastautos, die vom Stationskommandanten angefordert worden waren, die Chaussee entlanggebraust.

Die Arbeiter zerstreuten sich und gingen nach Hause. Alle hatten die Arbeit verlassen, selbst der Stationsvorsteher. Shuchrais Arbeit war nicht vergebens gewesen. Das war die erste Massenaktion auf der Bahnstation.

Die Deutschen brachten auf dem Bahnsteig ein schweres Maschinengewehr in Stellung; es stand dort wie ein Jagdhund auf dem Anstand. Neben ihm kauerte, die Hand auf dem Griff, ein deutscher Unteroffizier.

Ö de und menschenleer war es jetzt auf dem Bahnsteig geworden.

Nachts setzten die Verhaftungen ein. Auch Artjom wurde wieder festgenommen. Shuchrai hatte nicht zu Hause übernachtet, ihn konnten sie nicht finden.

Die Verhafteten wurden in den riesigen Güterschuppen getrieben, und man stellte ihnen das Ultimatum: entweder Wiederaufnahme der Arbeit oder vors Kriegsgericht.

Fast alle Eisenbahner auf der Strecke streikten jetzt. Vierundzwanzig Stunden lang ging nicht ein einziger Zug, und hundertzwanzig Kilometer weiter kam es zu einem Gefecht mit einer starken Partisanenabteilung. Sie hatte die Bahnstrecke und die Brücken in die Luft gesprengt.

In der Nacht lief ein Eisenbahntransport mit deutschen Soldaten auf der Station ein. Der Lokomotivführer, sein Gehilfe und der Heizer machten sich

sofort aus dem Staub. Außer diesem Militärtransport warteten auf dem Bahnhof noch zwei Züge auf die Abfahrt.

Die schwere Tür des Güterschuppens wurde geöffnet, und den Raum betrat der Stationskommandant - ein deutscher Leutnant -, begleitet von seinem Adjutanten und einigen deutschen Soldaten.

Der Adjutant rief: »Kortschagin, Politowski, Brusshak - vortreten! Ihr fahrt sofort als Lokomotivbrigade los. Wer sich weigert, wird auf der Stelle erschossen. Werdet ihr fahren oder nicht?«

Die drei Arbeiter antworteten mit mürrischem Kopfnicken. Unter Bewachung wurden sie zur Lokomotive gebracht. Währenddessen rief der Adjutant des Kommandanten die Namen eines anderen Lokomotivführers, Gehilfen und Heizers für einen zweiten Zug auf.

Grimmig fauchend spie die Lokomotive glühende Funken, keuchte schwer und raste durch die nächtliche Finsternis. Artjom hatte Kohlen in die Feuerung geworfen und schlug mit dem Fuß den Schieber zu. Jetzt trank er einen Schluck Wasser aus dem stumpfnasigen Teekessel und wandte sich an den alten Lokomotivführer Politowski:

»Also befördern wir sie, Alter?«

Dieser runzelte ärgerlich die buschigen Brauen: »Bleibt doch nichts anderes übrig, wenn einem das Bajonett im Hintern steckt.«

»Schmeißen wir alles hin, und springen wir von der Lokomotive ab«, schlug Brusshak vor und warf einen Seitenblick nach dem auf dem Tender stehenden deutschen Soldaten.

»Ich bin derselben Meinung«, murmelte Artjom.

»Aber da haben wir diesen Kerl dort auf dem Hals.«

»Tja«, brachte Brusshak in unbestimmtem Ton hervor und beugte sich zum Fenster hinaus.

Politowski trat dicht an Artjom heran und flüsterte:

»Wir dürfen sie nicht dorthin fahren, verstehst du? Dort wird gekämpft. Die Aufständischen haben die Gleise gesprengt. Und wenn wir nun diese Hunde hinschaffen, werden sie im Handumdrehen die Partisanen erledigen. Du musst wissen, mein Söhnchen, ich habe unterm Zaren bei Streiks nie jemanden befördert, und ich werde das auch jetzt nicht tun. Es hieße ja Schimpf und Schande bis ans Lebensende, wenn wir unseren eigenen Leuten die Strafexpedition auf den Hals brächten. Die andere Lokomotivbrigade hat sich doch aus dem Staub gemacht. Die Burschen haben unter Lebensgefahr die Lokomotive im Stich gelassen. Unter keinen Umständen dürfen wir jetzt den Zug befördern. Was meinst du?«

»Einverstanden, Alter, aber was fangen wir mit dem da an?« Er wies mit einem Blick auf den Soldaten.

Der Lokomotivführer runzelte die Stirn, wischte sich mit einer Handvoll Werg den Schweiß ab und blickte mit seinen entzündeten Augen auf das Manometer, als hoffe er, da eine Antwort auf die peinigende Frage zu finden. Dann fluchte er in seiner Verzweiflung plötzlich wütend.

Artjom trank noch einen Schluck Wasser aus dem Teekessel. Beide hatten den gleichen Gedanken, aber keiner konnte sich entschließen, ihn als erster auszusprechen. Artjom erinnerte sich an sein Gespräch mit Shuchrai: »Wie stehst du eigentlich, Bruderherz, zur bolschewistischen Partei und zur kommunistischen Idee?« Und an die Antwort, die er auf die Frage gegeben hatte: »Ich bin immer bereit zu helfen, du kannst auf mich rechnen …« Eine schöne Hilfe, wir bringen ihnen die Henker … Politowski beugte sich über den Werkzeugkasten und brachte, dicht neben Artjom stehend, mühsam hervor:

»Der da muss erledigt werden, verstehst du?«

Artjom zuckte zusammen, Politowski fügte, mit den Zähnen knirschend, hinzu:

»Es gibt keinen anderen Ausweg. Wir machen Schluss mit ihm, werfen den Regulator und die Hebel in die Feuerung, schalten langsamen Gang ein, und dann auf und davon!« Und Artjom antwortete, als wälze er eine schwere Last ab:

»Schön.«

Artjom beugte sich zu Brusshak hin und teilte ihm leise den Beschluss mit.

Brusshak zögerte mit der Antwort. Jeder von ihnen nahm ein großes Risiko auf sich. Sie hatten alle Familie daheim. Politowskis Familie war besonders zahlreich: Neun Mäuler hatte er zu stopfen. Und doch begriff jeder von ihnen, dass diese Fahrt um jeden Preis verhindert werden musste.

»Nun, ich bin einverstanden«, sagte Brusshak.

»Aber wer wird denn den …« Er verschluckte die letzten Worte, Artjom verstand ihn auch so. Artjom wandte sich dem Alten zu, der sich am Regulator zu schaffen machte, und nickte mit dem Kopf, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass auch Brusshak einverstanden sei; aber dann trat er, von der noch ungelösten Frage gequält, näher an Politowski heran.

»Wie werden wir das aber anstellen?«

Der Gefragte blickte Artjom an:

»Das übernimmst du, du bist der Stärkste; mit einem Brecheisen eins drauf … und fertig.« Der Alte war heftig erregt.

Artjoms Gesicht verfinsterte sich.

»Ich kann's nicht. Weiß nicht, warum - aber ich bring es nicht übers Herz. Der Soldat ist ja im Grunde genommen nicht schuld, den haben sie ja auch gewaltsam in den Krieg getrieben.«

Politowskis Augen blitzten auf.

»Er ist nicht schuld daran, sagst du. Aber sind wir vielleicht schuld daran, dass man uns hierher gejagt hat? Wir fahren doch eine Strafexpedition. Diese Unschuldslämmer werden die Partisanen über den Haufen schießen, und die, sind die wohl schuld …? Was bist du für ein Kindskopf. Stark wie ein Bär, aber was nützt das schon …«

»Also gut«, brachte Artjom heiser hervor und griff nach dem Brecheisen. Politowski aber flüsterte:

»Lass, ich mach es lieber selber. Nimm du die Schaufel und wirf Kohlen vom Tender herüber. Wenn's nötig sein sollte, versetzt du dem Deutschen eins mit der Schaufel. Und ich tue so, als wollte ich Kohlen zerkleinern.«

Brusshak nickte zustimmend mit dem Kopf und trat zum Regulator.

Der Deutsche, in seiner schirmlosen Feldmütze mit dem roten Rand, saß, das Gewehr zwischen die Beine geklemmt, seitwärts auf dem Tender und rauchte eine Zigarre; ab und zu warf er einen Blick zu den auf der Lokomotive beschäftigten Arbeitern hinüber.

Als Artjom hinaufkletterte, um Kohle zu schaufeln, schenkte der Posten diesem Vorgang keine besondere Beachtung. Und als dann Politowski, als wolle er vom Rand des Tenders her große Kohlestücke heranschaffen, ihm durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass er ein wenig wegrücken solle, kam der Deutsche willig herunter, trat auf die Tür zu, die zum Führerstand führte.

Der dumpfe kurze Hieb mit dem Brecheisen, der dem Deutschen den Schädel einschlug, ließ Artjom und Brusshak erschauern. Der Soldat sackte zusammen und fiel auf den Durchgangssteg.

Die feldgraue Tuchmütze wurde von Blut durchtränkt. Das Gewehr schlug klirrend auf Eisen.

»Der ist fertig«, flüsterte Politowski, warf das Brecheisen weg und fügte mit krampfhaft verzerrtem Gesicht hinzu:

»Jetzt gibt's kein Zurück.« Die Stimme versagte ihm, aber schon im nächsten Augenblick durchbrach er das bedrückende Schweigen und rief laut:

»Los, schraubt den Regulator ab!«

In zehn Minuten war alles erledigt. Die Lokomotive, jetzt ihrer Führung beraubt, verlangsamte allmählich die Fahrt.

Die dunklen Silhouetten der am Wegrand stehenden Bäume tauchten im Feuerschein der Lokomotive auf und verschwanden wieder im Schatten der Nacht. Die glühenden Augen der Maschine suchten die Finsternis zu durchdringen, doch ihr Licht verfing sich ringsum im dichten Schleier der Nacht und vermochte ihr nur wenige Meter zu entreißen. Die Lokomotive keuchte, als gäbe sie ihre letzten Kräfte her, ihr Fauchen wurde allmählich schwächer und schwächer.

»Los, Junge, spring ab!« hörte Artjom die Stimme Politowskis hinter sich. Im selben Moment ließ er den Griff los. Der schwere Körper wurde nach vorn geschleudert, und die Füße prallten heftig auf dem entgleitenden Boden auf. Artjom lief zwei Schritte, dann überschlug er sich und stürzte schwer hin.

Von den beiden Trittbrettern der Lokomotive lösten sich gleichzeitig noch zwei Schatten.

In Brusshaks Haus herrschte trübe Stimmung. Antonina Wassiljewna, Serjo-shas Mutter, hatte in den letzten vier Tagen völlig den Kopf verloren. Sie war ohne jede Nachricht von ihrem Mann. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass die Deutschen ihn wie auch Kortschagin und Politowski gezwungen hatten, gemeinsam einen Zug zu befördern. Gestern waren drei von der Hetmanwache im Haus erschienen und hatten sie grob fluchend nach ihrem Mann ausgefragt.

Dunkel hatte sie erraten, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, und nachdem die Soldaten die Wohnung verlassen hatten, warf sie ein Tuch um und ging, von der schrecklichen Ungewissheit gepeinigt, zu Maria Jakowlewna, von der sie etwas über ihren Mann zu erfahren hoffte. Ihre älteste Tochter Walja, die gerade in der Küche wirtschaftete, sah die Mutter weggehen und fragte: »Wohin gehst du, Mutter?«

Antonina Wassiljewna antwortete der Tochter mit Tränen in den Augen:

»Zu Kortschagins. Vielleicht kann ich dort erfahren, was mit dem Vater ist. Wenn Serjosha heimkommt, sag ihm, dass er zu Politowski auf die Station gehen soll.«

Walja umarmte die Mutter und bemühte sich, ihr während der wenigen Schritte zur Tür Trost zuzusprechen:

»Es wird schon noch alles gut werden, Mama.«

Bedrückt verließ die Mutter das Haus.

Maria Jakowlewna empfing die Frau sehr herzlich. Beide erwarteten, etwas Neues voneinander zu erfahren, aber diese Hoffnung verschwand gleich nach den ersten Worten.

Auch bei Kortschagins war nachts Haussuchung gewesen. Man hatte Artjom gesucht. Die Soldaten hatten Maria Jakowlewna zu Tode erschreckt. Sie war allein in der Wohnung gewesen; Pawel hatte Nachtschicht im Elektrizitätswerk.

Am frühen Morgen kam Pawel nach Hause. Als er durch die Mutter von der nächtlichen Haussuchung und vom Fahnden nach Artjom erfuhr, erfasste ihn quälende Unruhe um den Bruder. Die Brüder liebten einander trotz ihrer verschieden gearteten Charaktere sehr. Es war eine raue Liebe, ohne viele Worte, aber Pawel wusste genau, dass er, wenn es nötig wäre, ohne Zaudern jedes Opfer für den Bruder auf sich nehmen würde.

Pawel ruhte nach der Arbeit nicht aus, sondern eilte zur Station, um Shuchrai im Depot aufzusuchen. Er traf ihn jedoch nicht an, und die Arbeiter, mit denen er bekannt war, konnten ihm nichts über die Männer sagen, die losgefahren waren. Auch die Familie des Lokomotivführers wusste nichts. Pawel traf im Hof Politowskis jüngsten Sohn Boris. Von ihm erfuhr er, dass auch bei Politowskis nachts Haussuchung gewesen war. Man hatte nach dem Vater geforscht.

So kehrte er unverrichteterdinge zu seiner Mutter zurück, warf sich müde aufs Bett und fiel sofort in unruhigen Schlaf.

Es klopfte. Walja schaute auf.

»Wer ist da?« fragte sie und schob den Riegel zurück. In der geöffneten Tür erschien der rothaarige Wuschelkopf Klimkas. Es war ihm anzusehen, dass er gerannt war, er war völlig außer Atem und puterrot im Gesicht.

»Ist deine Mutter zu Hause?« erkundigte er sich bei Walja.

»Nein, sie ist weggegangen.«

»Wohin denn?«

»Ich glaube, zu Kortschagins.«

Klimka wollte davoneilen, doch Walja hielt ihn mit aller Kraft am Ärmel fest.

Unentschlossen blickte er das Mädchen an.

»Ja, weißt du, ich hab mit ihr zu sprechen, muss ihr etwas übergeben.«

»Was musst du übergeben?« bestürmte Walja den Jungen. »Erzähl doch, was los ist, du rothaariger Zottelbär, sprich doch! Du zerrst einem ja die Seele aus dem Leib!« sagte das Mädchen zu ihm in gebieterischem Ton.

Klimka vergaß alle Warnungen, vergaß den strengen Befehl Shuchrais, den Zettel nur Antonina Wassiljewna persönlich zu übergeben und zog einen verschmierten Papierfetzen aus der Tasche. Er konnte es Serjoshas blonder Schwester einfach nicht abschlagen, obwohl sich der rothaarige Klimka über seine Gefühle für sie nicht ganz im klaren war. Freilich hätte es der bescheidene Küchenjunge niemandem und sogar sich selbst nicht eingestanden, dass Walja ihm gefiel.

Er gab ihr den Zettel, den sie schnell überflog.

Liebe Tonja! Mach Dir meinetwegen keine Sorgen. Alles in bester Ordnung. Wir sind heil und unversehrt. Bald wirst du Weiteres erfahren. Teile auch den anderen mit, dass es uns gut geht und dass sie sich nicht beunruhigen sollen. Diesen Zettel vernichte.

Sachar.

Als Walja die Zeilen gelesen hatte, stürzte sie auf Klimka zu.

»Woher hast du den Zettel? Sag, woher du ihn hast, du Tollpatsch, du!« Sie ließ dem verwirrt dastehenden Klimka keine Ruhe, so dass dieser, ehe er sich's versah, schon die zweite Dummheit beging:

»Den hat mir Shuchrai auf der Station gegeben.« Und da es ihm einfiel, dass er nicht darüber sprechen durfte, fügte er hinzu: »Er hat mir aber streng verboten, mit jemandem darüber zu sprechen.«

»Lass schon gut sein.« Walja lachte. »Ich werde dich nicht verpetzen. Aber jetzt lauf, du Rotkopf, so schnell du nur kannst, zu Pawel. Dort wirst du auch die Mutter finden.« Mit diesen Worten gab sie dem Küchenjungen einen freundschaftlichen Schubs in den Rücken, und in der nächsten Sekunde war Klimkas roter Schopf bereits hinter der Gartenpforte verschwunden.

Am Abend kam Shuchrai zu Kortschagins und berichtete Maria Jakowlewna von den Vorgängen auf der Lokomotive. Er beruhigte die erschrockene Frau, so gut er konnte, und teilte ihr mit, dass alle drei weit entfernt, in einem abgelegenen Dorf bei einem Onkel von Brusshak, Unterkunft gefunden hätten und dort in Sicherheit seien. Natürlich könnten sie jetzt nicht nach Hause kommen. Den Deutschen stehe jedoch schon das Wasser bis an den Hals, und es seien in nächster Zukunft Veränderungen zu erwarten.

Diese Begebenheiten trugen dazu bei, dass sich die Familien der drei Verschwundenen eng einander anschlossen. Die spärlich einlaufenden Briefe, die sie bekamen, waren jedes Mal ein freudiges Ereignis, aber in ihren Häusern war es öd und leer geworden.

Eines Tages suchte Shuchrai die alte Frau Politowski auf und gab ihr etwas Geld.

»Hier, Mütterchen, das schickt Euch Euer Mann. Sagt aber niemandem ein Sterbenswörtchen.«

Beglückt drückte ihm die Alte die Hand. »Recht schönen Dank! 's tut bitter not. Die Kinder haben schon fast nichts mehr zu essen.«

Das Geld war dem Fonds entnommen, den Bulgakow dagelassen hatte.

Nun, wir werden mit der Zeit schon sehen, was weiter wird. Obwohl der Streik wegen der angedrohten Todesstrafe abgebrochen werden musste, obwohl wieder gearbeitet wird, brennt doch die Flamme weiter. Man kann sie nicht mehr löschen. Und jene drei sind Prachtkerle, richtige Proleten, dachte der Matrose begeistert, als er von Politowskis zum Depot zurückging.

In einer abseits gelegenen alten Schmiede, die eine ihrer verrußten Wände dem ins Dorf Worobjowa Balka führenden Weg zukehrte, stand Politowski mit einer langen Zange vor der Esse und wendete, in der grellen Glut leicht blinzelnd, ein rotglühendes Eisenstück um.

Artjom drückte den Hebel des ledernen Blasebalgs, der an einem Querbalken angebracht war.

Gutmütig in seinen Bart schmunzelnd, meinte der Lokomotivführer:

»Ein Handwerker braucht jetzt im Dorf nicht zu hungern. Arbeit gibt's mehr als genug. Wir werden hier ein paar Wochen arbeiten und können dann den Unsrigen wenigstens Speck und Mehl schicken. Beim Bauersmann, mein Junge, steht der Schmied immer hoch in Ehren. Wir werden uns hier vollfuttern wie die richtigen Bourgeois, haha. Mit dem Sachar ist's eine andere Sache. Der hält sich mehr ans Bauerngeschäft, arbeitet den ganzen Tag mit seinem Onkel auf dem Feld. Ist ja auch begreiflich. Wir beide haben weder Haus noch Hof, nur unsern Buckel und unsere Hände, wie man so sagt, Proleten auf Lebzeit, haha. Sachar aber steht mit dem einen Fuß auf der Lokomotive, mit dem anderen im Dorf.« - Er packte das glühende Eisenstück mit der Zange und fügte, nun schon ernst und nachdenklich, hinzu: »Aber unsere Sache steht wacklig, Junge. Wenn die Deutschen nicht bald verjagt werden, müssen wir nach Jekaterinoslaw oder nach Rostow hinüber, sonst kriegen sie uns beim Schlafittchen und hängen uns zwischen Himmel und Erde auf. Das steht fest.«

»Stimmt«, brummte Artjom.

»Wie mag's den Unseren daheim gehen, ob sie wohl von diesen Banditen schikaniert werden?«

»Ja, ja, Alter, da haben wir uns was eingebrockt, jetzt heißt's, sich ein bisschen fernhalten von Hause.«

Der Lokomotivführer langte aus der Esse ein glühendes Stück Eisen und legte es rasch auf den Amboss.

»Nun, hau zu, mein Söhnchen!«

Artjom packte den schweren Schmiedehammer, der am Amboss lehnte, schwang ihn hoch über den Kopf und schlug zu. Glühende Funken sprühten empor. Mit leichtem Knistern flogen sie durch die Schmiede und erhellten für eine Sekunde ihre dunkelsten Ecken.

Politowski drehte das glühende Eisen nach allen Seiten, so dass die mächtigen Schläge darauf niederprasselten und das Metall sich wie Wachs formen ließ.

Durch die offene Schmiedetür zog ein warmer Hauch aus der finsteren Nacht.

Dunkel und riesengroß erstreckt sich in der Tiefe der See, umringt von hohen Föhren, deren mächtige Wipfel im Winde schwanken. Hier, einen Kilometer von der Bahn entfernt, waren in den tiefen, verlassenen Gruben der alten Steinbrüche Quellen aufgebrochen und hatten drei Seen gebildet.

Tonja liegt oberhalb des granitnen Ufers auf einer grasbewachsenen Lichtung. Hoch oben, hinter der Lichtung, zieht sich der Wald hin und unten, dicht am Fuß des Abhangs, der See. Die Felsen werfen ihre Schatten über den Rand des Sees und verdunkeln ihn noch mehr. Das ist Tonjas Lieblingswinkel.

Unten, am Ufer des Sees, plätscherte es leise. Tonja hob den Kopf, schob mit der Hand die Zweige auseinander und schaute hinab. Ein elastischer, braungebrannter Körper schwamm mit starken Stößen der Mitte des Sees zu. Tonja konnte den dunklen Rücken und den schwarzen Kopf des Schwimmers sehen. Er schnaubte wie ein Walross, durchschnitt mit kurzen Stößen das Wasser, drehte sich um, schlug Purzelbäume, tauchte, legte sich schließlich ermüdet auf den Rücken, kniff in der prallen Sonne die Augen zu und blieb, die Arme weit ausgebreitet, fast bewegungslos liegen.

Tonja ließ die Zweige los. So was ist doch unanständig, dachte sie belustigt und machte sich wieder an ihre Lektüre…..

In das Buch vertieft, bemerkte Tonja nicht, dass jemand über den Granitvorsprung, der diesen Winkel vom Wald trennte, herübergeklettert war, und erst als ihr ein Steinchen, das der Fuß des Näher kommenden gelöst hatte, aufs Buch fiel, fuhr sie hoch und sah Pawel Kortschagin vor sich stehen. Über die unerwartete Begegnung ebenfalls erstaunt und auch etwas verlegen, wollte sich Pawel davonmachen.

Dann ist er also der Schwimmer gewesen, erriet Tonja, als sie Pawels feuchte Haare sah.

»Hab ich Sie erschreckt? Ich wusste nicht, dass Sie hier sind, kam ganz zufällig vorüber.« Mit diesen Worten griff Pawel nach dem Vorsprung des Felsens. Auch er hatte Tonja erkannt.

»Sie stören mich gar nicht. Wenn Sie Lust haben, können wir uns ein bisschen unterhalten.«

Pawel blickte Tonja verwundert an.

»Worüber sollen wir uns denn unterhalten?« Tonja lächelte.

»Na, was stehen Sie so da? Setzen Sie sich doch hierher.« Tonja zeigte auf einen großen Stein.

»Wie heißen Sie eigentlich?«

»Pawka Kortschagin.«

»Und ich heiße Tonja. So, jetzt haben wir uns wenigstens vorgestellt.« Der Junge knüllte verlegen seine Mütze.

»Sie werden also Pawka genannt?« unterbrach Tonja das Schweigen.

»Aber warum denn Pawka? Das klingt nicht schön, Pawel klingt viel hübscher. Ich werde Sie Pawel nennen. Gehen Sie oft hierher … «.– - sie wollte sagen »zum Baden«, aber um nicht zu verraten, dass sie ihn beim Baden beobachtet hatte, sagte sie: »… spazieren?«

»Nein, nicht oft, nur wenn ich mal frei habe«, antwortete Pawel. »Arbeiten Sie denn irgendwo?« erkundigte sich Tonja weiter.

»Bin Heizer im Elektrizitätswerk.«

»Sagen Sie mir doch, wo haben Sie so fabelhaft boxen gelernt?« fragte Tonja plötzlich.

»Was geht Sie denn meine Boxerei an?« brummte Pawel unfreundlich.

»Seien Sie nicht böse«, sagte Tonja, sie spürte, dass sich Pawka über ihre Frage ärgerte.

»Mich interessiert das sehr. War das aber ein Schlag! Wie kann man nur so unbarmherzig zuhauen!« Sie lachte los.

»Ihnen tat's wohl leid?« fragte Pawel.

»Nein, ganz und gar nicht, im Gegenteil. Sucharko hatte seine Prügel redlich verdient. Mir hat diese Szene viel Spaß gemacht. Man sagt, dass Sie sich gern einmal raufen.«

»Wer sagt das?« Pawel horchte auf.

»Nun, Viktor Leszczynski meint, dass Sie ein ausgemachter Raufbold seien.«

Pawel wurde rot.

»Viktor ist ein Lump, ein Nichtstuer. Er sollte lieber dankbar sein, dass er damals nichts abgekriegt hat. Ich habe gehört, was er über mich gesagt hat, wollte mir bloß nicht die Hände an ihm dreckig machen.«

»Warum schimpfen Sie so, Pawel? Das ist gar nicht schön«, unterbrach ihn Tonja.

Pawel machte ein finsteres Gesicht.

Wozu hab ich Dummkopf mich bloß mit dieser Gans in eine Unterhaltung eingelassen, dachte er. Was der einfällt, erst passt ihr mein Name nicht, dann soll ich nicht schimpfen.

»Warum haben Sie so eine Wut auf Leszczynski?« fragte Tonja.

»Ein Dämchen in Jungenhosen, ein Herrensöhnchen! Soll ihn der Kuckuck holen! Mir kribbelt's immer in den Fingern, wenn ich solche Burschen seh. Die glauben, sie können sich mit einem alles erlauben, weil sie reich sind. Ich spucke aber auf ihren Reichtum; wer mich anrührt, der bezieht umgehend eine Tracht Prügel. Solchen Leuten kann man nur mit den Fäusten imponieren«, sagte er erregt.

Tonja bedauerte, dass sie Leszczynski erwähnt hatte. Dieser Bursche hier hatte offenbar mit dem verzärtelten Gymnasiasten noch ein Hühnchen zu rupfen.

Um das Gespräch auf ein ruhigeres Thema zu lenken, erkundigte sie sich nach Pawels Familie und Arbeit.

Ohne dass es Pawel selbst merkte, begann er ausführlich auf die Fragen des Mädchens einzugehen und vergaß ganz, dass er sich hatte davonmachen wollen.

»Sagen Sie, warum sind Sie nicht länger zur Schule gegangen?« erkundigte sich Tonja.

»Ich bin rausgeflogen.«

»Weshalb?« Pawka wurde rot.

»Ich habe dem Popen Machorka in den Teig gestreut - und da hat er mich rausgeschmissen. Ein niederträchtiger Kerl, dieser Pope, er verstand es, einem das Leben sauer zu machen.« Pawel vergaß seine Verlegenheit und berichtete alles der Reihe nach.

Dann erzählte er Tonja wie einer alten Bekannten von seinem verschwundenen Bruder. Keiner von beiden bemerkte, dass sie, in ihr freundschaftlich angeregtes Gespräch vertieft, schon einige Stunden auf den Steinen zugebracht hatten. Endlich besann sich Pawel und sprang auf.

»Ich muss ja zur Arbeit. Es ist schon höchste Zeit. Hab da beim Schwatzen alles übrige vergessen! Danilo wird sicherlich brummen. Nun, leben Sie wohl, Fräulein, ich muss jetzt schleunigst in die Stadt.« Tonja stand rasch auf und zog ihre Jacke an.

»Ich muss auch heim. Gehen wir gemeinsam.«

»Nein, ich muss rennen. Da kommen Sie nicht mit.«

»Warum nicht? Laufen wir um die Wette. Mal sehen, wer's schneller kann.«

Pawka musterte sie geringschätzig.

»Um die Wette? Mit mir wollen Sie's aufnehmen?«

»Na, wir werden sehen. Lassen Sie uns erst mal von hier wegkommen.« Pawel sprang über den Stein und reichte Tonja die Hand. Sie rannten durch den Wald und gelangten auf einen breiten, ebenen Waldweg, der zur Station führte.

In der Mitte des Weges machte Tonja halt:

»Also - jetzt kann's losgehen: eins, zwei, drei! Fangen Sie mich!« Und wie ein Wirbelwind sauste sie davon. Die Sohlen ihrer Halbschuhe flimmerten nur so vor seinen Augen, ihre blaue Jacke flatterte im Wind.

Ich werde sie im Handumdrehen einholen, dachte Pawel, als er der fliegenden Jacke nachjagte. Es gelang ihm jedoch erst am Ende des Waldweges, unweit der Station, sie einzuholen. In vollem Lauf packte er sie fest an den Schultern.

»Gefangen, Vögelchen!« rief er fröhlich, ganz außer Atem.

»Lassen Sie mich los, es tut ja weh«, wehrte sich Tonja. Sie standen beide keuchend da, mit pochendem Herzen, und die vom schnellen Lauf erschöpfte Tonja schmiegte sich leicht an Pawel. Wie nahe war sie ihm jetzt! Das währte nur einen Augenblick, prägte sich ihm aber tief ins Gedächtnis ein.

»Mich hat noch niemand einholen können«, sagte sie und befreite sich aus seinen Händen.

Dann trennten sie sich sogleich. Pawel schwenkte zum Abschied seine Mütze und lief in die Stadt.

Als er die Tür zum Kesselraum öffnete, war der Heizer Danilo bereits mit der Feuerung beschäftigt. Ärgerlich drehte er sich um.

»Später konntest du wohl nicht kommen? Soll ich etwa für dich heizen, was?«

Aber Pawel klopfte dem Heizer in bester Laune auf die Schulter und sagte besänftigend: »Gleich wird der Ofen brennen, Alterchen.« Daraufhin machte er sich an den Holzstapeln zu schaffen. Um Mitternacht, als Danilo laut schnarchend auf den Holzscheiten lag, holte Pawel, nachdem er den ganzen Motor aufs gründlichste geölt und dann die Hände so gut wie möglich mit Werg gesäubert hatte, die zweiundsechzigste Fortsetzung von »Guiseppe Garibaldi« aus der Kiste hervor und vertiefte sich in den spannenden Roman über die Abenteuer Garibaldis, des legendären Führers der neapolitanischen »Rothemden«.

»Mit ihren wunderschönen blauen Augen blickte sie den Herzog an …«

Sie hatte auch blaue Augen, erinnerte sich Pawel. Und ist auch etwas ganz Besonderes. Gar nicht wie sonst die Kinder reicher Leute, dachte er. Und rennen kann sie wie der Blitz.

Ganz in seine Gedanken an das Erlebnis des vergangenen Tages vertieft, hatte Pawel das verstärkte Sausen des Motors überhört, der vor Überbelastung zitterte. Das riesige Schwungrad drehte sich mit rasender Geschwindigkeit, und die betonierte Plattform, auf der der Motor stand, bebte.

Als Pawel einen Blick auf das Manometer warf, stand der Zeiger bereits mehrere Teilstriche über der roten Linie.

»Verdammt noch mal!« rief Pawel, sprang von der Kiste auf, stürzte zum Dampfhebel und drehte ihn zweimal herum. Der aus der Abflussröhre strömende Dampf zischte hinter der Wand des Heizraumes auf. Den Hebel nach unten drückend, schob Pawel den Schwungriemen auf das Rad, das die Pumpe in Gang setzte.

Pawel blickte auf Danilo, doch der schlief sorglos, mit weitgeöffnetem Mund, und stieß schaurige Töne aus.

Nach einer halben Minute war der Zeiger des Manometers wieder auf seinem alten Stand.

Als sich Tonja von Pawel getrennt hatte, ging sie nach Hause. Sie sann über die neuerliche Begegnung mit diesem schwarzäugigen Jungen nach, und ohne sich dessen bewusst zu werden, freute sie sich darüber.

Wie lebhaft und hartnäckig er ist! Und er ist gar nicht so ein Grobian, wie mir erst schien. Auf jeden Fall ist er allen diesen affigen Gymnasiasten gar nicht ähnlich …

Er war aus anderem Holz geschnitzt, stammte aus einem Milieu, mit dem Tonja bis jetzt nie in Berührung gekommen war.

Man kann ihn zähmen, dachte sie, und das wird eine interessante Freundschaft werden.

Als sich Tonja dem Elternhaus näherte, sah sie Lisa Sucharko, Nelly und Viktor Leszczynski im Garten sitzen. Viktor las. Sicherlich warteten die drei auf sie.

Tonja begrüßte alle und setzte sich dann auf die Bank. Während der Unterhaltung rückte Viktor Leszczynski näher zu Tonja heran und fragte leise:

»Haben Sie den Roman gelesen?«

»Ach ja, den Roman!« besann sich Tonja.

»Und ich hab ihn doch …« Sie hätte beinah herausgeplappert, dass sie das Buch vorhin am Seeufer hatte liegenlassen.

»Nun, wie hat Ihnen das Buch gefallen?« Viktor sah sie aufmerksam an. Tonja dachte nach, hob, indem sie mit der Spitze ihres Halbschuhs irgendeine verschnörkelte Figur in den Sand zeichnete, langsam den Kopf und blickte ihn an.

»Nein, ich habe einen anderen Roman angefangen, einen interessanteren als den, den Sie mir gebracht haben.«

»Ach so …«, meinte Viktor gedehnt.

»Und wer ist der Verfasser?« Tonja blickte ihn mit spöttisch funkelnden Augen an.

»Niemand …«

»Tonja, bitte die Gäste herein, der Tee wartet auf euch«, rief Tonjas Mutter von der Veranda aus.

Tonja fasste die beiden Mädchen unter und ging mit ihnen ins Haus. Und Viktor, der hinterdreinschritt, zerbrach sich den Kopf über Tonjas Worte, ohne deren Sinn erfassen zu können.

Das neue, noch unbewusste Gefühl, das sich unmerklich in das Leben des jungen Heizers eingeschlichen hatte, erregte und beunruhigte den verwegenen und wilden Burschen.

Tonja war die Tochter des Oberförsters, und ein Oberförster war für ihn das gleiche wie der Rechtsanwalt Leszczynski.

Pawel, der in Not und Entbehrung aufgewachsen war, hatte für alle, die nach seinem Begriff reich waren, nichts als Feindseligkeit übrig. Auch Tonja gegenüber war Pawel vorsichtig und misstrauisch. Bei ihr war für ihn nicht alles einfach und verständlich, wie zum Beispiel bei Galotschka, der Tochter des Steinmetzen; Tonja war keine aus seinem Kreis. Mit großer Vorsicht nahm er alles auf, was von Tonja kam, stets bereit, den geringsten Spott und Hochmut dieses schönen und gebildeten Mädchens, ihm, dem Heizer, gegenüber aufs schärfste zu bekämpfen.

Eine ganze Woche lang hatte Pawel das Mädchen nicht gesehen; heute wollte er zum See gehen. In der Hoffnung, sie zu treffen, nahm er absichtlich den Weg an ihrem Haus vorüber. Am Zaun des Gartens entlangschlendernd, erblickte er an seinem äußersten Ende die wohlbekannte Matrosenbluse. Er bückte sich nach einem Tannenzapfen, der am Boden lag, und zielte damit nach der weißen Bluse.

Tonja wandte sich rasch um. Als sie Pawel erblickte, lief sie schnell zum Zaun und gab dem Jungen fröhlich lachend die Hand.

»Endlich lassen Sie sich sehen«, sagte sie erfreut. »Wo haben Sie nur die ganze Zeit gesteckt? Ich war am See, hatte dort mein Buch vergessen und dachte, dass ich Sie dort treffen würde. Kommen Sie doch herein in den Garten.«

Pawel schüttelte den Kopf.

»Nein, das geht nicht.«

»Warum denn nicht?« Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Ihr Vater wird sicher schimpfen. Sie können dafür noch etwas abbekommen. ›Wozu hast du diesen Vagabunden hergeschleppt‹, wird er sagen.«

»Sie reden aber Unsinn zusammen, Pawel.« Tonja wurde böse. »Kommen Sie sofort herein. Mein Vater sagt niemals so etwas, Sie werden sich selbst davon überzeugen. Kommen Sie!«

Sie öffnete eilig die Gartentür. Pawel folgte ihr etwas unsicher.

»Lesen Sie gern?« fragte sie, als sie sich an den runden Gartentisch gesetzt hatten.

»Sehr gern«, erwiderte Pawel lebhaft.

»Welches ist Ihr Lieblingsbuch?«

Pawel dachte einen Augenblick nach und antwortete: »Guiseppa Garibaldi.«

»Guiseppe Garibaldi«, korrigierte Tonja.

»Dies Buch lieben Sie also?«

»Ja, sehr. Ich habe schon achtundsechzig Fortsetzungen davon gelesen. Jeden Lohntag kauf ich mir fünf Stück. Das war ein fabelhafter Mensch, dieser Garibaldi!« rief Pawel begeistert aus.

»Was für ein Held! Der war richtig! Wie musste er sich mit seinen Feinden herumschlagen und blieb doch immer Sieger! Wie viele Länder hat er durchzogen! Ach, wenn der heute lebte, ich würde mich ihm sofort anschließen. Und all seine Leute waren einfache Arbeiter, und immer hat er für die Armen gekämpft.«

»Wollen Sie, dass ich Ihnen unsere Bibliothek zeige?« fragte Tonja und nahm ihn bei der Hand.

»Nein, ins Haus geh ich nicht«, antwortete Pawel entschieden, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Warum sind Sie denn so eigensinnig? Oder fürchten Sie sich vielleicht?«

Pawel schaute auf seine bloßen Füße, die sich nicht gerade durch besondere Sauberkeit auszeichneten, und kratzte sich hinterm Ohr.

»Ihre Mutter oder Ihr Vater werden mich sicher davonjagen.«

»Lassen Sie doch endlich dieses Gerede, oder ich werde ernstlich böse«, brauste Tonja auf.

»Na, warum denn, Leszczynski lässt einen doch auch nicht in die Wohnung, mit unsereinem spricht er nur in der Küche. Ich kam mal zu ihnen in irgendeiner Angelegenheit, da ließ mich die Nelly nicht einmal ins Zimmer - wahrscheinlich, damit ich ihnen die Teppiche nicht beschmutze oder weiß der Teufel, weshalb sonst.«

Pawel lächelte.

»Los, gehen wir endlich hinein.« Tonja fasste ihn bei der Schulter und schob ihn freundschaftlich zur Veranda hin.

Sie führte ihn durch das Esszimmer in einen anderen Raum mit einem riesigen Bücherschrank. Pawel gewahrte einige hundert Bände, in gleichmäßigen Reihen aufgestellt, und staunte über den noch nie gesehenen Reichtum.

»Gleich werde ich für Sie ein interessantes Buch finden, und Sie versprechen mir, zu uns zu kommen und sich ständig Bücher zu holen, ja?«

Pawel nickte freudig.

»Ich habe Bücher sehr gern.« Sie verbrachten einige fröhliche und angenehme Stunden miteinander. Tonja stellte ihn der Mutter vor, und das erwies sich als gar nicht so schlimm; ihr gefiel Pawel.

Tonja führte Pawel auch in ihr Zimmer, zeigte ihm ihre Romane und Schulbücher.

Auf dem Toilettentisch stand ein kleiner Spiegel. Tonja ließ Pawel hineinblicken und sagte lachend:

»Warum sehen Ihre Haare bloß so wuschlig aus? Kämmen Sie die denn nie, und lassen Sie die nicht mal schneiden?«

»Ich lasse mir den Kopf immer ratzekahl scheren, wenn die Haare zu lang geworden sind. Was soll man denn sonst mit ihnen anfangen?« rechtfertigte sich Pawel verlegen.

Tonja nahm lachend ihren Kamm vom Toilettentisch und glättete behänd die strubbligen Haare.

»Sehen Sie, jetzt schauen Sie ganz anders aus«, sagte sie, Pawel betrachtend.

»Sie müssen die Haare hübsch schneiden lassen, sonst sehen Sie wie ein Zottelbär aus.«

Sie warf einen kritischen Blick auf sein verschossenes Hemd und seine abgewetzten Hosen, sagte jedoch nichts.

Pawel hatte diesen Blick bemerkt und schämte sich nun seines Aufzuges.

Beim Abschied bat ihn Tonja wiederzukommen und nahm ihm das Versprechen ab, in zwei Tagen gemeinsam angeln zu gehen. Pawel sprang mit einem Satz durchs offene Fenster in den Garten; er wollte nicht noch einmal durch die Wohnung gehen und der Mutter begegnen.

Seit Artjoms Verschwinden war in der Familie Kortschagin Schmalhans Küchenmeister. Pawels Lohn reichte nicht zum Leben.

Maria Jakowlewna beschloss, sich mit ihrem Sohn zu beraten, ob sie nicht wieder arbeiten gehen sollte. Leszczynskis suchten gerade eine Köchin. Aber Pawel war entschieden dagegen.

»Nein, Mutter, ich werde mir noch Extraarbeit suchen. Im Sägewerk werden Hilfsarbeiter zum Brettersortieren gebraucht. Ich werde dort halbtägig arbeiten, und dann wird es für uns beide reichen. Du sollst nicht arbeiten gehen, sonst wird Artjom auf mich böse sein und sagen: Nicht einmal das hat er fertig gebracht, dass die Mutter nicht zu arbeiten brauchte.«

Die Mutter wollte ihm beweisen, dass sie unbedingt auch verdienen müsse, aber Pawel blieb bei seiner Meinung, und schließlich gab sie nach.

Schon am folgenden Tag begann Pawel im Sägewerk zu arbeiten. Er musste dort die frisch gesägten Bretter zum Trocknen auslegen. Pawel traf an der neuen Arbeitsstelle alte Bekannte: Mischa Lewtschukow, mit dem er zusammen in die Schule gegangen war, und Wanja Kuleschow. Er beschloss, gemeinsam mit Mischa Akkordarbeit zu übernehmen. Der Verdienst war ziemlich gut. Am Tag arbeitete Pawel jetzt in dem Sägewerk, und abends eilte er ins Elektrizitätswerk. Nach zehn Tagen brachte er der Mutter seinen Lohn. Als er ihr das Geld aushändigte, trat er verlegen von einem Fuß auf den anderen und bat schließlich: »Weißt du, Mutter, kauf mir doch ein Satinhemd, ein blaues - kannst du dich noch entsinnen, so eins, wie ich voriges Jahr hatte. Dabei geht zwar die Hälfte des Geldes drauf, aber hab keine Angst, ich werde noch mehr verdienen. Meins ist gar zu alt«, rechtfertigte er sich, als wollte er sich wegen seiner Bitte entschuldigen.

»Natürlich, natürlich musst du eins haben, Pawluscha. Noch heute kauf ich den Stoff, und morgen näh ich dir das Hemd. Wirklich, du hast ja kein einziges anständiges Hemd.« Zärtlich sah sie ihren Sohn an.

Pawel machte vor einem Friseurgeschäft halt, überzeugte sich, dass er noch einen Rubel in der Tasche hatte, und ging hinein.

Der Friseur, ein gewandter Bursche, bemerkte den eintretenden Jungen und wies ihm einen Sessel an.

»Nehmen Sie Platz!«

Pawel ließ sich in dem tiefen, bequemen Sessel nieder und erblickte im Spiegel ein verlegenes, verwirrtes Gesicht.

»Soll ich Sie kahlscheren?« fragte der Friseur.

»Ja … das heißt, im Grunde genommen, nein … im großen und ganzen … und - wie nennen Sie das eigentlich …..« Pawel gestikulierte verzweifelt.

»Ach so, ich verstehe.« Der Friseur lächelte.

Schwitzend und erschöpft, aber gut geschnitten und frisiert verließ Pawel nach einer Viertelstunde das Geschäft. Der Friseur hatte die widerspenstige Mähne hartnäckig mit Wasser, Kamm und Bürste bearbeitet und schließlich doch den Sieg davongetragen.

Auf der Straße atmete Pawel befreit auf und zog die Mütze tiefer ins Gesicht.

Was wird nur die Mutter sagen, wenn sie das sieht!

Pawel konnte nicht, wie versprochen, zum Angeln kommen, und Tonja war beleidigt.

Sehr aufmerksam ist dieser Junge gerade nicht, dachte sie ärgerlich. Als sich Pawel jedoch auch in den nächsten Tagen nicht blicken ließ, begann die Zeit wieder lang zu werden.

Sie hatte sich eben zum Spazierengehen fertiggemacht, als die Mutter die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und sagte:

»Besuch für dich, Tonja. Darf er hereinkommen?«

In der Tür stand Pawel; Tonja erkannte ihn nicht einmal sogleich.

Er trug eine neue blaue Satinbluse und schwarze Hosen. Die geputzten Stiefel glänzten, und - Tonja sah es sofort - seine Haare waren geschnitten und standen nicht mehr wie vorher zu Berge. Der schwarzäugige Heizer erschien ihr jetzt in einem ganz anderen Licht.

Tonja wollte schon ihre Verwunderung äußern; aber um den ohnedies verlegenen Jungen nicht noch mehr zu verwirren, tat sie so, als hätte sie diese auffällige Veränderung nicht bemerkt.

Sie überschüttete ihn mit Vorwürfen:

»Schämen Sie sich denn gar nicht? Warum sind Sie nicht zum Angeln gekommen? So halten Sie also Wort?«

»Ich habe diese Tage im Sägewerk gearbeitet und konnte nicht kommen.«

Er wollte ihr doch nicht verraten, dass er, um sich Hemd und Hose kaufen zu können, in den letzten Tagen bis zum Umfallen geschuftet hatte.

Tonja erriet dies jedoch von selbst, und ihr ganzer Ärger war dahin.

»Wollen wir einen Spaziergang zum Teich machen?« schlug sie vor, und sie gingen durch den Garten auf die Chaussee hinaus.

Und jetzt vertraute ihr Pawel, wie einem Freund, das große Geheimnis von der gestohlenen Pistole des Leutnants an. Er versprach ihr, an einem der nächsten Tage mit ihr tief in den Wald zu gehen und Schießübungen anzustellen.

»Verrat mich aber nicht!« Das Du kam ganz unerwartet.

»Ich werde dich niemals verraten«, beteuerte Tonja feierlich.

Wie der Stahl gehärtet wurde

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