Читать книгу Der Weg, der in den Tag führt - Nikolaus Klammer - Страница 5
ОглавлениеProlog
DER GRÖSSTE PECHVOGEL VON ALLEN
Der Mönch rutschte auf den glitschigen Fliesen aus und stolperte ungeschickt einen Schritt nach hinten. Er wäre fast rückwärts in das trübe, eiskalte Wasser des Kavernen–Sees gestürzt, aber diese unwillkürliche Bewegung rettete ihm für den Moment das Leben.
Seine plötzlich wie aus dem Nichts aufgetauchte Widersacherin war von Kopf bis Fuß in einen eng anliegenden, nachtblauen Stoff gehüllt. Sie verbarg auch ihr Gesicht hinter einem Schleier, der nur ihre zu einem schmalen Schlitz zusammengekniffenen Augen preisgab. Ihre scharfe Waffe verfehlte ihn so knapp, dass er die Mordklinge durch die Luft pfeifen hörte. Sie hinterließ auf Brusthöhe einen langen, queren Schnitt in der grauen Mönchskutte und kratzte auch über das raue Büßerhemd aus Hanf, das er darunter trug. Aber sein erschrockenes Zurückweichen hatte ihn zumindest für den Augenblick davor bewahrt, mit durchschnittener Kehle in den Katakomben zu enden.
Meister Adelf von Süderbal aus der Gemeinschaft der leidenden Gene keuchte angsterfüllt. Er konnte seinen Herzschlag an einer Ader auf seinem nackten Schädel pochen fühlen. Im Schein der Öllampen, die den Rand des Wasserreservoirs nur schlecht mit trübem Licht ausleuchteten, musterte er seine Gegnerin, die er um mehr als eine Haupteslänge überragte. Adelf war vollkommen arglos in ihren Hinterhalt getappt, denn er hatte nicht geahnt, dass sie ihren Verfolger längst wahrgenommen und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, ihn hier in diesen Katakomben unter dem Palast, in denen es keine Zeugen gab, zu überrumpeln. Die vermummte Angreiferin zischte etwas, das wie ein Fluch oder eine Beschwörung klang. Dann kauerte sie sich etwas zusammen und bereitete ihren nächsten Angriff vor. Sie wirkte auf den Mönch Adelf wie eine giftige Viper, die kurz vor dem Zubeißen war. Doch der waffenlose Mann aus dem fernen Italmar, dem mit Bedauern seine Pistole einfiel, die nutzlos in einer Schreibtischschublade seines Arbeitszimmers lag, war nicht vollkommen wehrlos. Obwohl der erst kürzlich akkreditierte Botschafter Italmars in der Wüstenstadt Karukora seine gymnastischen Übungen in den letzten Jahren etwas hatte schleifen lassen, war er durchaus nicht das leicht zu besiegende Opfer, das eine Gegnerin erwartet hatte. Adelf war er seinem alten Meister Johsefar zutiefst dankbar, der ihn zu einem täglichen Kampftraining gezwungen hatte.
In einer fließenden und kaum fürs Auge eines Beobachters wahrnehmbaren Bewegung sprang die Angreiferin mit ausgestrecktem Arm nach vorne, um Adelf ihren Dolch zwischen die Rippen zu treiben. Aber diesmal war der Mönch auf ihre Attacke vorbereitet und das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Er wich mit einer halben Drehung geschickt zur Seite aus, während er mit der Handkante nach dem Handgelenk seiner Gegnerin schlug und dabei einen Fuß herumwirbeln ließ, dessen Spitze sie direkt in der Kniekehle traf. Es gelang ihm zwar nicht, seiner Gegnerin die Waffe aus der Hand zu schlagen, aber unter seinem schmerzhaften Tritt knickte sie ein und fiel mit ihren Knien auf die schmierigen und feuchten Steinplatten. Nun war sie an der Reihe, erstaunt zu keuchen. Sie wedelte mit ihrem Dolch hin und her, um zu verhindern, dass der Mönch sie mit einem weiteren Tritt oder Schlag endgültig aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden zwang und kam mit einer Körperrolle wieder zum Stehen.
Doch es lag nicht in der Absicht von Adelf, sie weiter zu attackieren. Ihm war klar, dass ihn bisher nur ein Zufall davor bewahrt hatte, ihre vermutlich vergiftete Klinge zu schmecken und aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass das Glück niemals lange auf seiner Seite war. Deshalb nutzte er die Gelegenheit zur Flucht, die sich ihm durch die Verwirrung seiner Gegnerin bot. Er drehte sich herum und rannte los, war bereits in die vollkommene Finsternis eines nur etwa vier Fuß hohen, runden Seitenganges getaucht, bevor seine Gegnerin sich wieder fassen und an einen neuerlichen Angriff denken konnte. Doch anstatt ihm sofort in die düstere, gemauerte Röhre zu folgen, aus der ein dünnes Rinnsal Wasser in den unterirdischen See floss, pfiff sie durchdringend durch ihre Finger. Offensichtlich war er durchaus nicht allein mit der Attentäterin hier unten in diesem unüberschaubaren und verwirrenden Labyrinth. Es bestand aus aus Kellern, Katakomben, Kanalisationen und Kavernen, das das gesamte Areal unter dem gewaltigen Elfenbein–Palast der namenlosen Herrscher von Karukora untertunnelte, mit Frischwasser versorgte und die Abwässer zurück in den Fluss Syris leitete. Sie rief mit ihrem Pfiff ihre Kumpane herbei und der Mönch wollte weit fort sein, wenn diese ihr zur Hilfe eilten.
Er hatte keine Ahnung, wohin ihn der niedrige Kanal führte, in den er sich in seiner Not vornübergebeugt vor der gefährlichen Frau geflüchtet hatte, denn er hatte bei seiner heimlichen Verfolgung längst die Orientierung verloren. Aber das Wasser zu seinen Füßen floss ihm entgegen und deshalb führte der Gang leicht aufwärts. Das schien ihm ein gutes Zeichen zu sein. Obwohl Adelf nichts sah, rannte er weiter. Seine Sandalen waren von dem plätschernden Wasser zu seinen Füßen vollgesogen und quietschten bei jedem Schritt. Er streckte seine Hände nach außen, um beim Laufen die bröcklige Ziegelmauer seines Fluchtweges zu berühren. Denn er wollte auf keinen Fall einen Seitengang oder gar eine Leiter nach oben zu verpassen. Die Luft erschien ihm weniger schimmlig und feucht als dort unten in der großen Halle, deren Decke von unzähligen Säulen getragen wurde und in deren Mitte das große, schwarze Wasserreservoir so unbewegt wie die Seele Inets lag. An dessen glitschigem Rand hatte ihn die Frau, die er verfolgt hatte, überrascht. Er war ihr wohl doch nicht so vollkommen unbemerkt hinterher geschlichen, wie er gedacht hatte. Doch er hatte keine Zeit, sein übliches Pech zu bejammern. Er musste Abstand zwischen sich und seine Verfolger bringen und flink sein, wenn er lebend aus der Kanalisation unterhalb des Palasts entkommen wollte. Vielleicht endete dieser Kanal ja an einer Leiter, die ihn hinauf an die Oberfläche brachte. Aber seine Hoffnungen wurden jäh zerstört.
Nach einer Weile, in der er von dem Kanalrohr stetig sanft aufwärts durch die lichtlose Schwärze geführt worden war, machte der Gang unerwartet eine scharfe Biegung nach links. Nach nur wenigen Schritten endete er vor einer massiven Mauer. Adelf, der wegen der niedrigen Decke noch immer den Kopf tief nach vorne beugte, rannte mit voller Wucht gegen sie. Er taumelte zurück und hielt sich jammernd den schmerzenden Schädel. Dabei fiel er fast über mehrere dicke Eisenrohre, die am Boden vor sich hin rosteten. Sie verursachten einen ordentlichen Lärm, als er mit den Zehen an sie stieß.
An den Augen des Mönchs trieben glitzernde Funken vorbei und er fühlte sich einer Ohnmacht nah. Rasende Kopfschmerzen jagten durch seinen Schädel. Er ließ sich halb zur Seite gegen die Röhre fallen, konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu beruhigen und suchte Kraft und Konzentration in den Mantras, die er während seiner Ausbildung gelernt hatte. Nach geraumer Zeit ließ das Dröhnen so weit nach, dass er sich wieder bewegen und seine Umgebung erkunden konnte. Der Mönch schob sich vorsichtig nach vorne und streckte tastend die Hand nach der Wand aus, gegen die er gerade gelaufen war; tastete fassungslos ihren rauen, aufgeplatzten Putz ab. Dann schlug er verzweifelt mit der Faust gegen sie. Adelf kamen vor Wut und Schmerz die Tränen: Sein legendäres Pech hatte ihn eingeholt! Er war in einer Sackgasse gefangen und es gab für ihn keinen Ausweg mehr, denn zurück würde er nicht mehr können. So schnell war er am Ende seiner Flucht angelangt.
Wie zur Bestätigung seiner Angst trug das Echo nun auch noch ferne Schritte und unverständliche Wortfetzen durch die Kanalröhre zu ihm heran und obwohl er weiterhin nichts von seiner Umgebung erkennen konnte, kam ihm die Finsternis nicht mehr ganz so schwarz und undurchdringlich vor. Er drehte sich herum, tastete sich zurück und spähte um die Ecke. Erst glaubte er, seine Augen würden ihm wieder einen Streich spielen, aber dann sah er es: Richtig – dort, noch ganz weit am hinteren Ende der Kanalröhre, kamen ihm langsam eine Handvoll Personen entgegen. Sie hatten Laternen oder Taschenlampen dabei, deren unruhiges Licht er in weiter Ferne an den Wänden wie seine Schmerzvisionen eben tanzen sah. Es würde noch einige Zeit dauern, bis seine Verfolger bei der Kurve und damit bei ihm angekommen waren, denn sie schienen es nicht gerade eilig zu haben. Wahrscheinlich besaßen sie eine Karte des Untergrunds und wussten, dass ihr Opfer den falschen Fluchtweg gewählt hatte, wie eine Ratte in der Falle saß und ihnen hilflos ausgeliefert war. Er konnte nicht ausmachen, wie viele der Handlanger, die seine Angreiferin herbeigepfiffen hatte, hinter ihm her waren; aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Er würde sich ihrer in dieser engen Röhre auf keinen Fall erwehren können.
Adelf fasste sich erneut an die blutende Stelle auf seinem nackten Schädel, an der er unliebsame Bekanntschaft mit der Mauer in seinem Rücken geschlossen hatte. Das hatte er nun davon, dass er unbedingt hinter das Geheimnis der Druşba es Sakr – der Kalten Hand – kommen wollte, der Assassinengilde von Karukora, die die meisten ins Reich der Märchen und Mythen verlegten. Doch Adelf wusste es inzwischen besser, auch wenn er dieses Wissen nun wahrscheinlich mit ins Grab nehmen würde. Es würde ihm nicht mehr gelingen, den Regno Raul IV. von der Lamargue zu warnen, der bald in die Stadt kam, um Verhandlungen mit dem Namenlosen aufzunehmen, dass ein finsteres Mordkomplott gegen ihn geschmiedet worden war. Der Botschafter des Mönchsstaats wusste inzwischen sogar, wer den Auftrag zum Attentat gegeben hatte und warum er diese Schritte unternahm, aber Adelf würde es niemandem mehr mitteilen können. Er war und blieb ein Unglücksrabe.
Gab es einen Stein, über den man stolpern konnte, er fiel über ihn, verstauchte sich das Bein oder brach sich das Handgelenk. War da ein Schlamassel, in den man geraten konnte, steckte Adelf schon mitten in ihm, bevor er es selbst bemerkte. Stand er an einem Scheideweg, wählte er grundsätzlich die falsche Richtung. Das ging schon sein ganzes Leben so. Stahlen die Kinder in seinem Heimatdorf hoch im Norden der Provinz die reifen Apúls–Früchte aus den Gärten des Abbas, wurde nur er erwischt – selbst wenn er bei der Tat nicht dabei gewesen war. Unter seinen Schritten brach zuverlässig die wacklige Holzbrücke, über die vorher einhundert andere ohne Probleme gegangen waren, hatte er keinen Regenumhang dabei, schüttete es aus heiterem Himmel wie aus Wasserkübeln. Seine Nuss war die taube, seine Milch war sauer, in seiner Pflaume der Wurm; kam er hungrig nach Hause, wurden gerade die Reste des Nachtischs abgeräumt. Beim Kartenspiel verlor er zuverlässig, andere schnappten ihm die Mädchen weg und seine Prüfung zum Adepten hatte er dreimal machen müssen, weil er beim ersten Versuch einen akuten Durchfall bekam und beim zweiten Mal des Unterschleifs bezichtigt wurde, obwohl nicht er, sondern ein Banknachbar abgeschrieben hatte ...
Mutlos kehrte er zurück zu der Mauer, die seinen Fluchtweg versperrte und lehnte sich verzweifelt gegen sie. Wie hatte er nur in diesen Schlamassel geraten können?
Adelf hatte vor über einer Woche in einer für ihre köstlichen Meeresfrüchte bekannten Fischerkneipe im alten Hafen zu Abend gegessen. Seine Austern waren natürlich verdorben gewesen und hatten später zu einer leichten Fischvergiftung geführt. Dabei hatte er zufällig ein geflüstertes Gespräch am Nebentisch aufgeschnappt, in dem es um das Gerücht eines geplanten Anschlags auf eine hochgestellte Person ging. Trotz Magengrimmen und Fieber war er neugierig Indizien und verdächtigen Personen gefolgt, hatte sich vorsichtig in den verrufensten Stadtvierteln umgehört. Langsam wurde ihm das Ganze zu einer Obession. Er hatte Spitzel bestochen, sorgfältig über seine Entdeckungen Buch geführt und seine eigenen wenigen Spione in Karukora ausschwärmen lassen. Schließlich hatten ihn alle Hinweise zu einer immer verschleiert auftretenden Frau geführt, die überall auftauchte und offenbar alle Fäden in der Hand hielt. Er wusste weder, wer sie war, noch wo ihr Hauptquartier lag, aber es war ihm an diesem Vormittag gelungen, sie zu verfolgen, als sie verstohlen in einem schmutzigen Hinterhof in Palastnähe ein Bodengitter öffnete, in die Kanalisation stieg und ihn mit einer Laterne in der Hand scheinbar unbemerkt durch die verwirrenden Trojaspiele unter der Stadt bis zu jener großen Kaverne geführt hatte, wo sie ihn plötzlich angegriffen hatte.
Eigentlich ging den Botschafter Adelf das alles gar nichts an und es wäre sogar im Sinne seines obersten Kirchenführers, des Erzrats Hierion Éderwerfh, gewesen, wenn der Regno plötzlich von der politischen Bühne verschwinden würde. Adelf hätte es dem Vorsitzenden des Neuner–Rats von Italmar sogar zugetraut, dass er höchstpersönlich solch einen Mord in Auftrag gab, wenn er seinen Zielen diente. Aber der Botschafter war durchaus nicht mit den Ränkespielen seines Erzrats einverstanden; selbst wenn er sich mehr als einmal aus guten Gründen mit seiner eigenen Meinung zurückgehalten hatte. Wenn er also auf diese Weise Éderwerfh einen Knüppel zwischen die Beine werfen und dessen machthungrige Pläne durchkreuzen konnte, war ihm das nur recht. Bald hatte er allerdings feststellen müssen, dass die Bedrohung nicht aus Italmar, sondern von einer ganz anderen, noch dazu vollkommen unerwarteten Seite kam. Adelf wusste nun, dass er einer ganz großen Sache auf der Spur war, durch deren Aufdeckung er einigen Einfluss am Hofe des Herrschers – seiner Herrlichkeit, die sich allen Ernstes „Der Unterwerfer“ nannte – gewinnen konnte, nachdem es für die Mönche aus Italmar über Jahrhunderte hinweg verboten gewesen war, Karukora, das Juwel der Wüste, zu betreten und dort ihren Glauben zu verkünden. Das war eine einzigartige Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen konnte.
Adelf besaß einen sechsten Sinn für Verschwörungen und düstere Machenschaften, der ihn noch nie betrogen und ihn, nachdem der Namenlose endlich die Tore der Stadt auch für die Gemeinschaft der leidenden Gene geöffnet hatte, zu Italmars Meisterspion in Karukora machte – wo hinter jeder Straßenecke eine Intrige oder ein Meuchelmörder lauerte. Manchmal behauptete der glücklose Mönch, dies sei jene besondere Gabe, die ihm die Willkür des grünen Strahls verliehen hatte. Doch es war eine ganz andere, die ihm, wie ihm plötzlich siedend heiß einfiel, vielleicht noch einmal das Leben retten konnte:
Adelf von Süderbal konnte durch Wände sehen.
Genauer hieß das: Wenn er seine Handflächen gegen eine Mauer oder eine andere feste Fläche presste oder sich auch nur angestrengt auf sie konzentrierte, sah er vor seinem inneren Auge manchmal eine Ahnung von ihrer Beschaffenheit und Struktur, erkannte, was hinter ihr lag. Er gewann ein Bild in seinem Geist, das er keinem Dritten erklären konnte, aber im Laufe seines Lebens zu interpretieren gelernt hatte. Auf diese Weise gelang es ihm ab und zu, verborgene Hohlräume, Wasserleitungen, Holzbalken, Risse unter dem Putz, zugemauerte Fenster oder sogar versteckte Durchgänge zu erfühlen. Sein größter Erfolg war die Auffindung der handschriftlichen Haushaltsbücher von Ur–Meister Straif gewesen, jenes von Oberone dreimal gesegneten Mannes, der ein paar Jahrhunderte nach der Dreikönigsschlacht von Hossberg, die den Beginn der dunkelsten Zeit in der Geschichte der Überlebenden Länder markierte, als Leuchtfackel für Zivilisation und Hoffnung den Mönchsstaat von Italmar gegründet und der Legende nach Inet selbst die Schriften des Baruch entrissen und das Licht ihrer Weisheit den Menschen gebracht hatte. Die Livres de comptes des Heiligen hatten für fast ein Jahrtausend unbemerkt in einem versiegelten Bleirohr in einem blinden Kaminschacht der Mönchsburg Süderbal gelegen.
»AsQ'atak Baruch!«, fluchte Adelf götterlästerlich und erschrak über sich selbst. Das hätte ihm auch sofort einfallen können. Es war zwar nur eine verzweifelte, eine allerletzte Hoffnung, aber er wollte sie nicht unversucht lassen.
Obwohl er nichts sah, kniff er fest die Augen zusammen, versuchte das Echo der näher kommenden Schritte in seinem Rücken auszublenden und sich allein auf die Wand vor sich zu fokussieren, die er tastend mit beiden Händen berührte. Und er spürte etwas! Hinter der gar nicht mal dicken, nur einen halben Fuß breiten Front, die viel massiver erschien, als sie es tatsächlich war, befand sich ein größerer Hohlraum, vielleicht sogar eine weitere Halle oder zumindest ein Raum, dessen Ausgang zu der Kaverne hin schon vor Ewigkeiten versiegelt worden war. Doch wenn dies eine geschlossene Mauer war – woher kam dann eigentlich das Wasser, das als schmaler Bach zwischen seinen Füßen floss? Er tastete mit seinen Händen hinab und spürte in Kniehöhe eine quadratische Öffnung. Er fasste hinein und schwenkte den Arm dabei hin und her. Konnte ausgerechnet er so viel Glück haben? Der Mauerdurchbruch, durch den das Rinnsal in den Gang lief, schien ursprünglich vergittert gewesen zu sein – wahrscheinlich durch die Rohre, die am Boden lagen – aber inzwischen war er offen und wohl gerade so breit genug, um durch ihn hindurch zu schlüpfen, wenn der magere Mönch seine ohnehin zerrissene Kutte auszog und sich klein machte.
Allerdings musste er sofort handeln, ein Zögern durfte es nicht geben. Seine Verfolger waren inzwischen fast heran gekommen und das Licht ihrer Lampen fiel bereits um die Ecke in seine Nische. Dadurch konnte Adelf endlich etwas von seiner Umgebung sehen und er erkannte in dem verschwommenen, undeutlichen Dämmern, dass es ihm tatsächlich gelingen konnte, durch das Loch in der dünnen Ziegelmauer in den Raum dahinter zu kriechen, auch wenn die Öffnung sehr, sehr eng war. Hoffentlich waren seine Widersacher alle breitschultrige und fette Kerle in dicken Rüstungen! Gut, dass er selbst durch seine strengen Fastentage und die Fischvergiftung in der letzten Woche nur aus Haut und Knochen bestand.
Was ihn auch immer dort drinnen erwarten würde – ein Fluchtweg oder eine weitere Sackgasse – er musste diese einzigartige Gelegenheit nutzen, die ihm sein Herr Oberone in seiner Güte schenkte! Adelf zog sich eilig sein Mönchskleid und das Büßerhemd über den Kopf und warf beides durch die Öffnung in den Raum dahinter. Bis auf einen Lendenschurz und seine durchweichten Strohsandalen war er nun nackt. Er kniete nieder, fasste ins Wasser und schmierte sich etwas von dem Schlamm und dem Moos, die sich unter dem Bächlein gebildet hatten, auf die Schultern und die nackten Arme. Dann ging er auf alle Viere und begann, seinen Oberkörper durch den qualvoll engen Durchfluss zu schieben.
Da die Mauer jetzt immer heller erleuchtet wurde – Adelf blieben nur noch Augenblicke, bis der erste seiner Verfolger um die Ecke biegen würde und er vermeinte schon seinen Atem zu hören –, konnte er dabei flüchtig ein mit weißer Farbe gezeichnetes Symbol an der Wand entdecken. Es waren zwei Dreiecke, die ineinander übergingen und dadurch eine Art von stilisierter Sanduhr bildeten. Der Mönch kannte dieses und ähnliche Zeichen. Es waren Mitteilungen der Diebesgilde von Karukora, mit denen jene an unauffälligen Stellen Türen, Orte und Treffpunkte markierte und über tote Briefkästen Botschaften austauschte. Leider waren die Kontakte zu den Diebesmeistern, die er in den wenigen Wochen, in denen er nun als Diplomat des Mönchsstaats in der Wüstenstadt diente, hatte knüpfen können, nur oberflächlich und er verstand die Kreuze, Dreiecke und Kreise, die überall in der Stadt zu finden waren, nicht zu lesen. Aber dieses Symbol in diesem Kanalrohr erschien ihm als ein hoffnungsvolles Zeichen. Offenbar wurde dieser Durchgang von den Dieben benutzt. Das bedeutete sicher, dass der Raum dahinter zu einem weiteren Ausgang, vielleicht sogar zu einem Weg an die Oberfläche führte. Er würde auf der anderen Seite aufmerksam nach weiteren Markierungen der Gilde suchen müssen.
Adelf hörte einen überraschten Ausruf hinter sich. Seine Verfolger hatten ihn endlich doch noch erreicht! Und das genau in dem Moment, als er Kopf, Schultern und Arme durch die Öffnung gezwängt hatte, sich wie eine Schlange weiter zu winden versuchte und ihn dabei das verzweifelte Gefühl überfiel, er stecke nun endgültig fest.
»Pack ihn – schnell!«, rief eine weibliche Stimme. Er erkannte in ihr die Frau, die er kreuz und quer durch Karukora bis in die Unterwelt des Elfenbein–Palasts verfolgt und der er in die Falle gegangen war. Zwei große, grobe Hände versuchten Adelfs Füße zu packen, bekamen ihn aber nicht richtig zu fassen, da diese vom Schlick glitschig waren und der Mönch in seiner beklemmenden Lage verzweifelt mit den Beinen ruderte. Gleichzeitig stemmte er auf der anderen Seite der Wand seine Hände gegen den Putz und drückte sie so fest er konnte nach hinten. Er riss sich zwar die Haut an der Hüfte auf, doch er kam kaum vorwärts.
»Dann steche ihn eben ab; stell' dich nicht so an!«, sagte die Frau ungeduldig und kalt. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Neptunion, hilf«, schickte Adelf ein Stoßgebet zu einem seiner Götter, der als zuverlässiger Helfer bei allen Arten von Zwangslagen galt und er stemmte sich mit aller Kraft, die ihm geblieben war, weiter. Und tatsächlich: Wie ein Korken aus einer Schaumweinflasche flutschte er endlich durch die Öffnung in den nächsten Raum hinein, ließ dabei allerdings seine Sandalen zurück. Sofort wälzte er sich herum und kam danach auf dem Rücken zu liegen. In der fast vollkommenen Dunkelheit, die nur von dem Licht erhellt wurde, das durch den Durchfluss fiel, tastete er fieberhaft nach einem Gegenstand, den er als Waffe benutzen konnte, falls jemand plante, ihm auf diesem Weg zu folgen. Er traute seiner hartnäckigen Gegnerin, die er jenseits der Mauer schimpfen und wüten hörte, weil er ihr ein weiteres Mal knapp entwischt war, durchaus zu, dass sie – schlank und geschmeidig, wie sie war – sein Kunststück nachmachen konnte. Und schon schob sich eine Hand mit einer Pistole durch die Öffnung, ein schlanker Frauenarm und ein wohlbekannter, in einen nachtblauen Stoff gehüllter Kopf folgte ihm.
Bei Inets brennendem Schwanz! Er verdoppelte seine Anstrengungen. Hier musste doch irgendein Stein oder noch ein weiteres Eisenrohr am Boden zu finden sein oder etwas anderes, mit dem er sich wehren konnte. Das Haupt seiner Widersacherin drehte sich und nun erblickte sie ihn, ihre Augen blitzten und sie schwenkte die Schusswaffe zu ihm herum.
Endlich fanden Adelfs suchende Hände etwas, das er im ersten Moment für einen dicken Ast oder ein Stuhlbein hielt. Er ergriff es mit beiden Händen. Sich aufrichtend holte er aus und schlug zuerst mit aller Kraft gegen den Kopf seiner Gegnerin – hoffentlich bekam sie die gleichen Kopfschmerzen wie er, seit er vorhin gegen die Wand gerannt war! – und dann auf die Hand. Seine provisorische Keule zersplitterte dabei wie morsches Holz, aber sie hatte die gewünschte Wirkung: Die Frau schrie und zog sich eilig zurück. Dabei ließ sie die Pistole fallen. Es löste sich zwar noch ein Schuss, aber er verfehlte den Mönch. Adelf schleuderte den Rest seiner Waffe zur Seite und ergriff die Pistole, die nicht in den kleinen Kanal, der den Raum durchfloss, sondern neben ihm in den Staub gefallen war.
»Dem Nächsten, der seinen Kopf zu mir hereinsteckt, jage ich eine Kugel in den Schädel!« Adelf beugte sich herab und feuerte einmal durch die Öffnung, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er erwartete nicht, jemanden zu treffen, aber eine Stimme heulte sofort auf, nachdem der laute Schuss verklungen war.
»Verdammt, er hat mein Bein getroffen«, stöhnte ein Mann. Hektische Geräusche und Fußgescharre waren zu hören, dann wurde es plötzlich drüben still. Adelfs Verfolger schienen sich etwas zurückgezogen zu haben und ihr weiteres Vorgehen zu beraten. Der Mönch zielte weiterhin auf das Loch zu seinen Füßen, aus dem der Lichtschein ihrer Lampen zu ihm hereindrang. Er hatte sich eine kurze Atempause verschafft, die er ausnutzen musste.
Er sah sich um und versuchte, sich schnell einen Überblick von seiner neuen Umgebung zu schaffen. Seine Augen stellten sich langsam auf die unsichere und unzureichende Beleuchtung ein und er konnte nun einiges von den Dingen um sich herum erkennen. Endlich sah er, was für ein Gegenstand es war, den er gerade als Knüppel missbraucht hatte. Die Entdeckung ließ sein Herz für einen Schlag aussetzen: Es war einer der Oberschenkelknochen eines menschlichen Skeletts gewesen. Der Rest davon saß an eine Wand gelehnt auf dem Boden. Ein makelloser, bleicher Schädel grinste den Mönch aus leeren, schwarzen Augenhöhlen an.
Diese menschlichen Überreste mussten schon sehr lange hier in diesem muffigen Kellerraum kauern, denn es hatten sich weder Gewebeteile, noch Fetzen der Kleidung erhalten. Doch wie lange sie dort lagen, das vermochten wohl nur Inets Goleme zu sagen, die – wie es im Buch des Baruch hieß – niemals die Sünde eines Menschen vergaßen oder jemals vergaben.
Wer konnte schon erraten, wie tief die Katakomben unter dem Palast wirklich reichten und welche Dinge dort im Verlauf der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, seit sie existierten, geschehen waren? Vielleicht stand Adelf hier auch in einem Teil der alten Vorgängerstadt Athíni, auf deren Fundamenten Karukora angeblich errichtet worden war. Doch die Einwohner Athínis mussten längst zu Staub zerfallen sein, zerfressen von ihrer Bosheit und jener gewaltigen Hitze, die aktiv gewesen war. Das Skelett war sicherlich jüngeren Ursprungs. Aber das war auch schon alles, was der Mönch davon wusste – er konnte nicht einmal erkennen, ob es einmal ein Mann oder eine Frau gewesen war, auf welche Weise er oder sie ums Leben gekommen war und warum es ausgerechnet hier lag.
Aber diese Überreste eines einstmals atmenden, fühlenden, wahrscheinlich von seiner Familie und seinen Freunden geliebten Menschen, hatten Adelf eben gerade noch einmal gerettet und ihn in den Besitz einer Schusswaffe gebracht, in der noch vier Kugeln im Lauf steckten. Dankbar schickte der gläubige Mönch ein kurzes Stoßgebet zu seinem höchsten Gott Oberone, der die Seelen der Toten bewahrt, bis sie am nicht mehr allzu fernen Tag von Mánis Rückkehr wie aus einem tiefen Schlaf wieder zum Leben erwachen. Adelf konnte erneut die Hoffnung schöpfen, heil aus diesem Labyrinth zu entkommen. Der notorische Pechvogel konnte sein Glück kaum fassen. Er, dem nie etwas gelang, dessen Pläne immer scheiterten und den das Schicksal so oft und so hart geprüft hatte, überlebte heute schon zum zweiten Mal durch einen günstigen Zufall. Ein rutschiger Boden und ein von Ratten abgenagter Knochen hatten ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Bedeutete dies endlich die lang ersehnte Wende in einem Leben? Er mochte diesen Gedanken kaum festhalten, so frevlerisch erschien er ihm.
Im Kanal auf der anderen Seite der Mauer tat sich wieder etwas und Adelf fasste den Griff seiner eroberten Pistole fester. Sollten sie nur kommen! Er fragte sich zusammenhanglos, wie er wohl im Augenblick auf einen Unbeteiligten wirken musste – stinkend, halbnackt und dreckig, die Hüfte und beide Oberschenkel aufgekratzt und aus einer Wunde am Schädel blutend – wie er mit irrem Blick mit seiner Waffe auf ein nicht vorhandenes Ziel deutete. Er nahm sich vor, falls er es lebendig hier wieder heraus schaffte, dann würde er einen ganzen Tag in der Badewanne verbringen. Und dann vielleicht noch einen.
»Mönch! Komm endlich wieder raus aus deinem Loch, in das du dich wie ein verletzter Fuchs verkrochen hast. Wir wissen, dass du von dort nicht weiter kommst«, hörte er erneut die Stimme der schrecklichen Frau. Sie war barsch und befehlsgewohnt. »Du sitzt in der Falle. Ohne uns findest du niemals wieder ans Tageslicht und verhungerst wie so viele vor dir auf der Suche nach einem Ausgang.«
Adelf tauschte einen weiteren Blick mit dem vor ihm sitzenden Skelett, dessen breites Grinsen ihm jetzt sehr spöttisch erschien.
»Ist es das, was mit dir passiert ist?«, murmelte er und fragte sich, ob die Frau recht hatte – ob es aus dem Raum, in den er sich geflüchtet hatte, tatsächlich keinen weiteren Ausgang gab. Noch wollte Adelf nicht aufgeben. Er antwortete im fatalistischen Ton des leidgeprüften Mönchs, der von der Kanzel predigt:
»Dann, im Namen des Gequälten, soll es so sein. Dies heißt sich Schicksal: Niemand entkommt dem Tod. Wohin ich mich auch wende – er ist immer schon vor mir da und seine flache Hand liegt sanft auf meiner Schulter. Aber wenn ich meinen Kopf erneut durch diesen Abfluss strecke, dann packt er mich sofort. Du wirst keinen Augenblick zögern, mir den kahlen Schädel vom Rumpf zu trennen und ich würde ihn gerne noch eine Weile behalten. Denn ich kenne deine Pläne und ich weiß auch, wer du bist: Du gehörst zu den Assassinen der Kalten Hand und hast den Auftrag erhalten, den Regno der Lamargue zu ermorden, wenn er im nächsten Monat Karukora besucht.«
Die Frau lachte schrill auf. Es war ein durchdringendes Lachen und es schmerzte in den Ohren wie Kreide, die über Schiefer quietscht. Adelf biss die Zähne zusammen und ihm gefror das Blut in den Adern. Hier war keine menschliche Wärme, kein Erbarmen zu finden. Was mochte diese Frau so weit gebracht hatten, dass sie Menschen so gleichgültig mordete, wie er eine lästige Mücke auf seinem Arm erschlug?
»Du bist ein wortgewandter und auch kluger Mann, Mönch aus dem fernen Italmar. Aber du irrst in einer Sache. Ich bin durchaus kein Mitglied der Assassinengilde, diese ist nur ein Mythos, dessen ich mich bediene. Ich allein bin die Kalte Hand. Ich bin Druşba es Sakr, der vergiftete Pfeil aus dem Dunkel, der Tod, den du nicht kommen siehst. Du bist mir zweimal entkommen, ein drittes Mal wird dies nicht geschehen. Denn als du dich entschieden hast, mir nachzuspüren, hast du selbst über dich gerichtet. Du gehörst mir.« Sie schnalzte mit der Zunge, als würde sie einen Leckerbissen vor sich sehen.
»Wer'Quer, Tal«, wandte sie sich an ihre Komplizen; offenbar machte es ihr nichts aus, wenn Adelf ihre Namen erfuhr, so sicher war sie sich, »reißt auf der Stelle diese dumme Mauer ein. Ich will die Sache endlich zu Ende bringen und diesen Mönch tot sehen. Er beginnt mich zu ärgern. Das Ganze dauert schon viel zu lang.«
»Herrin«, erwiderte eine raue Männerstimme. »Du bist der Kopf, wir sind die Arme. Du sprichst und es geschieht.«
Schwere Schläge von Eisenstangen – wahrscheinlich waren es die, über die Adelf vorhin gestolpert war und die wohl früher einmal als Gitter für den Durchfluss gedient hatten – erschütterten auf einmal in schnellem Rhythmus die dünne Mauer zwischen der niedrigen Kanalröhre und dem Raum, in den sich der Mönch gerettet hatte. Auf seiner Seite platzte in großen Stücken der Putz von der Wand und lange Staubfahnen wehten herab. Wenn die Mörder der Kalten Hand in dieser Wucht weiter auf die Ziegel einschlugen, dann würden sie ihr Werk bald vollbracht haben.
Adelf zielte weiterhin verzweifelt auf die schmale Öffnung, durch die er gekrochen war und von deren oberem Rand bei jedem Schlag Mörtel und rotes Mehl rieselten. In den Lichtstrahlen der Lampen tanzte der Dreck. Doch niemand gab sich auf der anderen Seite eine Blöße und ließ unvorsichtigerweise eines seiner Körperteile sehen.
Der Mönch sah sich aufmerksam um. Der Durchfluss und das Skelett hatten bisher zu sehr seine Aufmerksamkeit eingefordert, als dass er sich für seine weitere Umgebung interessiert hätte. Der nicht allzu große Raum maß in Länge und Breite etwa zehn Fuß und – soweit der Mönch dies in dem Schummerlicht erkennen konnte – er schien tatsächlich keinen weiteren Ausgang zu besitzen. Die Decke war gut doppelt so hoch wie das Kanalrohr, in dem sich Adelfs Verfolger schwitzend und fluchend abmühten, durch die Mauer zu brechen und zu ihm durchzudringen. Vom Mittelpunkt der Decke floss aus einem ein wenig herausragenden Rohr ein dünnes Rinnsal Wasser. Es fiel gurgelnd zum Boden, in dessen Zentrum es sich in einer versenkten kleinen Wanne sammelte, um dann durch eine Rinne zur Öffnung zum Kanal abzufließen.
Adelf änderte seine Position und stellte sich direkt unter den Wasserstrahl. Er ließ ein wenig von dem Nass in seinen Mund rinnen. Es schmeckte leicht metallisch, aber es war kühl und klar und weckte seine Sinne. Er wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht und die Glatze, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Suche. Direkt neben dem Skelett entdeckte Adelf die Reste eines vermoderten, in sich zusammen gebrochenen Tischs und mehrerer Stühle. Der Haufen Unrat dort hinten in der Ecke konnte einmal eine Pritsche oder ein einfaches Bett gewesen sein. Über dem schimmligen Müll steckte in einem an der Wand befestigten Eisenring der Stumpf einer Fackel, die dem Mönch vor nicht allzu langer Zeit niedergebrannt schien.
Was war das für ein merkwürdiger Ort und welchem Zweck diente er? War dies ein Teil der Palastkloaken, die Unterkunft eines Kanalarbeiters oder gar eine Gefängniszelle und die Knochen gehörten zu einem armen Gefangenen der namenlosen Herrscher, der hier einfach eingemauert und vergessen worden war? Aber wenn das stimmte: Wo war dann der Eingang, durch den man ihn bereits tot oder noch lebend herein gebracht hatte? Denn es musste einen geben. Es war zwar möglich, dass der Tote auf dem gleichen Weg wie Adelf selbst hierher gelangt war, aber die verfaulten und sperrigen Möbelstücke waren doch sicher nicht durch den Abfluss in den Raum gekommen. Der Mönch suchte nach Fußspuren auf dem Boden. Doch in dem feuchten Loch hatte sich nur wenig Staub auf den kahlen Steinen gebildet und es war auch zu dunkel, sie genauer zu untersuchen. Trotzdem verließ ihn nicht das unbestimmte Gefühl, dass er durchaus nicht der erste war, der diese Kammer in der letzten Zeit betreten hatte.
Adelf wagte es, für einen kurzen Moment seine Augen zu schließen. Er schickte seine Gabe aus, zuerst zu der Wand, vor der das Skelett saß, dann zu der ihr gegenüberliegenden. Obwohl die Angst weiterhin in ihm fraß und die immer bestimmter werdenden Schläge seine Konzentration störten, fühlte er etwas, eine Unregelmäßigkeit in der stockfleckigen und scheinbar fugenlosen hinteren Mauer. Ja, er war sich sicher: Er hatte gefunden, was er gesucht hatte und wechselte auf die andere Seite des Raums, dabei mied er sorgfältig das scharf ausgeschnittene, helle Rechteck, das die Lampen seiner Verfolger auf die Granitquader des Bodens warfen. Er nahm die Stelle, die ihm aufgefallen war, genauer in Augenschein. Bisher hatte er es übersehen, aber auch hier befand sich in Hüfthöhe erneut eines der unscheinbaren Diebeszeichen! Es schien aus neuerer Zeit zu stammen und war unsauber mit einem Messer oder Nagel in den Schimmel gekratzt. Aber der Mönch wusste sich auf dem richtigen Weg und nun musste er sich beeilen, den Öffnungsmechanismus des vor ihm verborgenen Eingangs zu finden, denn bei einem der letzten Schläge war einer der Ziegelsteine, mit denen die Mauer zum Kanal hochgezogen worden war, ein deutlich sichtbares Stück nach vorne gerutscht. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern und die Wand würde unter der Belastung zusammenbrechen.
Er spürte es in seinem Nacken wie die elektrische Spannung vor einem Gewitter: Hier direkt vor ihm war eine versteckte Tür unter dem Putz, deren Holz von einer Schicht Kalk so gut verborgen war, dass kein Ritz oder Spalt zu sehen war. Und er konnte auch keinen Riegel oder ein Schlüsselloch entdecken. Vielleicht war die Tür ja nur von außen zu öffnen und dies wirklich eine Gefängniszelle, die er nicht von innen verlassen konnte. Blieb ihm nur noch das Symbol der Gilde, das ihm ein wenig Hoffnung schenkte. Adelf berührte es mit seiner freien Hand, denn es war sicher nicht ohne Grund ausgerechnet an dieser Stelle angebracht worden. Er klopfte mit den Knöcheln gegen das Diebeszeichen, kratzte daran. Seine Gabe meldete sich. Unter dem Putz schien sich eine metallene, gerade mal handgroße Platte zu befinden. Sie war aus Kupfer, wenn Adelf sich auf die Einflüsterungen seines Sinns verlassen konnte. Er verstärkte den Druck auf diese Stelle – und sie gab tatsächlich nach! Adelf hörte ein Geräusch, als würde eine Feder einrasten, dann bildete sich plötzlich aus dem Nichts eine schmale Bruchlinie auf der Wand, die ein großes Rechteck einrahmte. Der Mönch presste sich mit der Schulter dagegen und die verborgene Tür schwang knirschend, aber ohne weiteren Widerstand nach außen, gab den Blick frei auf einen durch in regelmäßigen Abständen angebrachte Gaslampen beleuchteten Korridor, dessen gefliester Boden vollkommen staubfrei war und der offenbar häufiger begangen wurde. Adelf kniff wegen der plötzlichen Helligkeit, die durch den Türrahmen in den Raum drang, die Augen zusammen. Heiße und trockene, aber frische Luft und der Geruch nach Dung und Speisen drangen ihm in die Nase, er musste niesen.
»Jad al–voi Inet!«, rief eine Stimme in seinem Rücken. Gleichzeitig brachen einige Ziegelsteine aus der malträtierten Wand hinter ihm und fielen polternd und zerberstend auf den Boden. »Er hat den Ausgang gefunden! Wie ist ihm das gelungen?«
Adelf drehte den Kopf und schoss ungezielt. Die Kugel traf die Ziegelmauer knapp neben dem neu entstandenen Durchbruch, durch den ein grimmiges und bärtiges Männergesicht hereinspähte. Es wurde sofort zurück gezogen. Das war seine Chance: Jetzt konnte Adelf fliehen. Doch er blieb in dem Türrahmen zur Freiheit stehen. In diesem Aufzug konnte er unmöglich ins Freie und plötzlich mitten im Elfenbein–Palast auftauchen! Man würde ihn ungehört ins Hospiz für Geisteskranke stecken, das auf der kleinen Insel Darma direkt vor der Mündung des Marat im Südmeer stand.
Er sah seine Kutte auf dem Boden liegen. Der Mönch zögerte nur kurz, dann machte einen Schritt von der rettenden Tür weg und griff nach dem grauen Kleidungsstück, das ihm in diesem Moment wie eine schützende Rüstung erschien. Das raue Büßerhemd ließ er liegen. Doch dieses Zögern war ein Fehler gewesen. Ein weiterer Schuss fiel und diesmal stammte er nicht aus der Pistole des Mönchs, sondern aus einer langläufigen Flinte, die durch die Lücke geschoben worden war. Und dieser Schuss traf. Adelf fühlte einen plötzlichen, heißen Schmerz in der Leistengegend und taumelte zurück, als wäre er geschlagen worden. Gleichzeitig verfeuerte er blindlings und verzweifelt seine letzten Kugeln. Während ihm das Gegenfeuer um die Ohren flog, rannte er durch die offene Tür und ließ sie hinter sich einschnappen. Sie schloss so perfekt mit der Holzverkleidung des Korridors ab, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Niemand, der den Korridor hinunter ging und nicht wusste, dass hier ein verborgener Durchgang war, konnte ihn zufällig entdecken. Adelf spürte die Einschläge der Kugeln seiner Gegner in dem Holz, gegen das er sich erschöpft und verzweifelt lehnte, aber sie vermochten es nicht zu durchdringen.
Der Mönch schüttelte den Kopf. Die Welt drehte sich vor seinen Augen. Ihm war schwindlig und schlecht, aber er musste weiter, wenn er dieses Abenteuer mit heiler Haut überleben wollte. Hier gab es für ihn kein weiteres Bleiben. Er warf sich seine vom Schmutz starre und zerschnittene Kutte über und lief los, willkürlich nach rechts, wo er am Ende des türlosen Gangs eine Treppe, die nach oben führte, erkannte. Hoffentlich führte sie zu einem bewohnten Teil dieses Gebäudes! Er rannte zu ihr hin und warf dabei besorgt einen Blick über die Schulter. Noch war niemand von seinen Gegnern zu sehen. Wenn sie ihm weiter folgen wollten – und daran zweifelte er keinen Augenblick, dann mussten sie erst einmal den Durchbruch vergrößern und das würde noch etwas Zeit benötigen. Dies war Adelfs große und wahrscheinlich einzige Chance, ihnen endgültig zu entkommen. Er hätte sich zwar am Liebsten auf den Boden gelegt und ein wenig ausgeruht, aber er atmete entschlossen einmal tief ein und stürzte die lange, leicht gewundene Treppe empor. Erst an ihrem oberen Ende, wo von einem kurzen Entrée mehrere kunstvoll gefertigte und mit feinen Intarsienarbeiten geschmückte Türen abgingen, erlaubte er es sich, stehen zu bleiben und zu warten, bis sich sein rasender Puls wieder ein wenig beruhigt hatte.
»Du hast es fast geschafft.«
Adelf sprach sich selbst Mut zu, denn er erkannte an seiner Umgebung, dass er sich in der Sicherheit des elfenbeinernen Palastes der Herrscher von Karukora befand. Bei seinem Antrittsbesuch als Botschafter war er freilich nicht durch diesen Teil des nahezu unüberschaubaren und äußerst verwinkelten Herrschersitzes, an dem Generationen von Namenlosen gebaut hatten, gekommen. Aber er erkannte an den verspielten Stuckaturen der Decke und an den fein gestalteten goldfarbenen Türen, dass er wohl nicht weit vom Großen Thronsaal aus der Unterwelt aufgetaucht war. Seine Flucht hatte ihn tatsächlich durch einen geheimen Eingang, den außer den Dieben und seinen Verfolgern wahrscheinlich niemand kannte, durch die Kloaken, unter dicken Mauern, verschlossenen und gut bewachten Toren hindurch, direkt ins Zentrum der Macht geführt. Sicherlich würde er gleich auf jemanden stoßen, der ihm helfen konnte – vielleicht auf einen Palastbediensteten oder einen der Elitesoldaten des Namenlosen, die man Treuwächter nannte und ihre Kasernen im Südflügel des Palastes hatten. Alles würde gut werden.
Der Mönch machte einen Schritt und stöhnte überrascht auf. Erst jetzt spürte er wieder den glühenden Schmerz, den die Kugel seines Feindes vorhin in seine Seite getrieben hatte. Von der Stärke des Schmerzes überwältigt, schwankte er und keuchte auf. Er sah ängstlich an sich herab. Ein zum Fürchten großer, feuchter und tiefroter Fleck hatte sich in der kurzen Zeit auf seiner Kutte gebildet. Von der Lendengegend rann warmes Blut über einen Oberschenkel und tropfte auf den Boden. Adelf erschrak bei dem Anblick: Er war viel ernsthafter verletzt, als er im ersten Moment geglaubt hatte. Vorsichtig fasste er unter seine Kutte und an die Wunde. Als er seine Hand zurückzog, war sie voller Blut. Kurzentschlossen riss er den rechten Ärmel seines Überwurfs direkt an der Schulter ab, machte einen Knoten in ihn und band ihn anschließend wie einen Gürtel direkt über der Verletzung fest um seine Taille. Der aufbrandende Schmerz ließ ihn schreien. Dieser provisorische Verband mochte die Blutung vielleicht etwas verringern, aber als ein auch ein wenig in den Heilkünsten ausgebildeter Mönch war ihm klar, wie wenig diese Maßnahme ausrichten konnte. Seine Schusswunde musste sofort versorgt werden, wenn er nicht innerhalb kürzester Zeit verbluten wollte.
Ihm wurde erneut schwindlig und er musste sich am Handlauf der Treppe abstützen. Er konnte nicht sagen, wie lang er dort lehnte und die bei seinem Meister Johsefar gelernten Mantras flüsterte, die seinen Geist binden, den rasenden Puls beruhigen und seinen Willen stärken sollten. Um Atem ringend kämpfte Adelf verbissen gegen den Schmerz an, der in Wellen durch seinen Körper jagte. Doch langsam gewöhnte er sich an den Zustand und wagte es, sich wieder zu bewegen. Da hörte er vom Fuß der Treppe her zornige Stimmen, die zu ihm empor drangen – zwei Männer und eine Frau trieben sich gegenseitig zur Eile an. Adelf erkannte sie sofort. Das durfte doch nicht wahr sein! Er hatte seine Verfolger noch immer nicht abgeschüttelt. Der Mönch sah nach Fassung suchend, wie sein berühmtes Pech brav mit dem Schwanz wedelnd zu ihm zurückkehrte – ganz wie ein treuer Hund, den er mit dem Wurf eines Stöckchens von sich fortgelockt hatte. Hastige Schritte kamen die Stufen hochgepoltert.
Verzweifelt humpelte Adelf von dem obersten Treppenabsatz in das kleine Entrée und rüttelte an der ersten Tür zu seiner Linken. Sie war verschlossen! Er versuchte die nächste. Auch sie war abgesperrt. Erst die dritte, die der Treppe gegenüber lag, ließ sich öffnen. Ein weiterer, vollkommen leerer Korridor mit einer Tür an der anderen Seite tat sich vor ihm auf. Er unterschied sich von den Gängen, durch die er bisher gewandert war, nur durch einen farbenfrohen Teppich, der hier die Fliesen bedeckte.
»Bei Oberone, irgendwo in diesem riesigen Palast muss es doch eine lebende Seele geben!«, rief er verzweifelt.
Der Weg diesen weiteren Korridor hinunter, erschien Adelf endlos, aber es gab für ihn kein Zurück, denn obwohl er sich das sicher nur einbildete, vermochte er schon den Tod verheißenden Atem der Kalten Hand in seinem Nacken zu spüren. Er biss die Zähne zusammen und rannte mehr stolpernd als laufend los. Er fiel am anderen Ende durch die nur angelehnte Tür. Sein Gebet war von seinem Gott erhört worden. Allerdings erfüllen Götter Wünsche nie auf die Weise, wie sie eigentlich vom Flehenden gedacht sind:
Der Mönch prallte mit der Tür gegen einen überraschten Soldaten der Treuwacht, der den Eingang auf der anderen Seite mit einer traditionellen Pike bewaffnet bewacht hatte und nun mit Adelf gemeinsam zu Boden stürzte. Adelf war trotz seiner schweren Verletzung als erster wieder auf den Beinen, denn er war über dem Soldaten zu liegen gekommen. Schwankend stand er vor dem Treuwächter, der wie ein Skarabäus auf den Bodenfliesen zappelte und dann aus voller Kehle: »Alarm! Ein Eindringling«, brüllte. Gleichzeitig versuchte der halb betäubte Soldat, seine Waffe zu erreichen, die ihm bei dem Sturz entglitten war.
Adelf erkannte, dass er hier keine Hilfe erwarten konnte und hielt sich nicht weiter mit ihm auf. Er humpelte weiter, eine breite, mit wertvollen Teppichen ausgelegte Vorhalle hinunter, die er wiedererkannte. Hier war er schon einmal gewesen.
»Hinter mir! Die Kalte Hand! Sie ist in den Palast eingedrungen«, rief er noch dem Treuwächter in seinem Rücken zu, dann war er um eine Ecke und stolperte direkt in eine Ansammlung von vielleicht einem Dutzend Höflinge, die entsetzt vor ihm zurückwichen. Alle standen sie vor einem weit geöffneten, zweiflügligen Portal. Der Mönch war hindurch, bevor die überrumpelten Wachen rechts und links des Eingangs eingreifen oder auch nur ihre Piken abwehrend senken konnten – und dann stand Adelf direkt im kreisrunden, in mildes Rosa getauchten Thronsaal, in dem der Namenlose mit seiner goldenen Maske vor dem Gesicht gerade Audienz hielt.
Adelf war es plötzlich, als würde sich der Moment wie bei einem Blick in einen Zerrspiegel verlangsamen, als würde er in ein Becken mit klarem Wasser eintauchen und an dessen Grund die Augen öffnen. Seltsam verschoben und sich gleichzeitig ins Endlose ausweitend lag seine Umgebung vor ihm und er hatte alle Zeit der Welt, sie genau zu betrachten. Während alle wie erstarrt wirkten, erfasste er mit staunendem Blick und mit ihn selbst überraschender Ruhe die Situation, in der er sich befand. Er musste auf die anderen durchaus grotesk wirken, denn schließlich sah er einem Gespenst gleich, das wie aus einem Märchen gekommen ist, um die Lebenden vor den Schrecken der Verdammnis zu warnen. Ihn wunderte, dass niemand lachte.
Nur wenige Schritte vor dem Mönch saß erhöht auf einem Haufen weicher Kissen der noch sehr jung und unter der Maske im Augenblick käsebleich werdende „Unterwerfer“. Ein Stück hinter dem allmächtigen Herrscher von Karukora ragte der massive, ebenhölzerne Falkenthron wie eine bedrohliche Gewitterwolke in die Höhe. Er war leer, denn auf ihm nahm der Herrscher nur an Gerichtstagen und anlässlich hoher Staatsfeierlichkeiten Platz. Rechts neben dem Namenlosen stand eine kleine, auf Adelf lächerlich wirkende Gestalt, die einen viel zu großen Turban trug, in dem ein einzelner Jade–Brillant funkelte. Auf seiner anderen Seite verbeugte sich eben ein fetter und wichtigtuerischer Beschnittener vor seinem Herren. Das waren der machtgierige Vezir Ómer Sud und der Seneschall des „Unterwerfers“, dessen Namen Adelf gerade entfallen war. Dies waren die mächtigsten Männer Karukoras und die engsten Vertrauten des Namenlosen. Alle drei sperrten vor Überraschung langsam den Mund auf und starrten den überraschenden Besucher zu einer Reaktion unfähig an. Allein der Vezir kniff nach einer Schrecksekunde die Augen zusammen und machte einen vorsichtigen Schritt zur Seite.
»Wachen!«, rief der Namenlose. »Schützt euren Herrn.«
»Keine Angst«, krächzte Adelf, der plötzlich auch Blut auf seiner Zunge schmeckte. Er hob beschwichtigend die Arme. Dabei bemerkte er, dass er noch immer die leer geschossene Pistole in der Hand hielt. Er fragte sich, warum er sie die ganze Zeit über behalten hatte.
»Eine Waffe! Dieser Wahnsinnige hat eine Waffe!«, schrie der Seneschall in Panik und suchte Deckung hinter seinem noch immer wie erstarrten Herrscher.
»Nein, das … ich –«, setzte Adelf zu einer hilflosen Erklärung an und verstummte dann, denn er konnte plötzlich nicht mehr richtig atmen. Es fühlte sich an, als hätte sich ein Bleigewicht auf seine Lungen gelegt. Er senkte resigniert seine Arme und ließ die Pistole endlich fallen. Etwas war anders; war von einem Moment zum anderen mit ihm geschehen. Er sah an sich herab und erblickte die blutige, fast einen Fuß lange Spitze einer Pike, die an seiner rechten Seite aus seinem Brustkorb heraus in die Luft ragte. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.
»Nun hat er mich doch noch eingeholt, mein Tod«, dachte er bedauernd, aber ohne Selbstmitleid. All das Davonlaufen war vergeblich gewesen; nur ein Spiel, das der Tod wahrscheinlich genossen hatte. Langsam sank der Mönch in die Knie und allein die Lanze, die eine der Wachen hinter ihm von hinten durch seinen Leib getrieben hatte, hielt seinen Oberkörper noch für einen Augenblick aufrecht.
Sein verschleierter Blick fiel auf den monströsen Thron im Rücken des „Unterwerfers“, jene furchteinflößende Hinterlassenschaft aus einer fernen, beinahe vergessenen Zeit. Die Rückenlehne stellte einen Raubvogel dar, der gerade die Flügel öffnete, um den Himmel über der Wüste zu erobern. Ein letztes Mal sandte Adelf von Süderbal, akkreditierter Botschafter des Mönchsstaats Italmar am Hofe Karukoras, Gelehrter, Spion und größter Pechvogel seiner Zeit, seine Gabe aus, denn er hatte eine mächtige Ahnung empfangen. Ihm war, als spräche der Thron mit ihm. Dort unter den geschnitzten Klauen des Falken, dort sei etwas seit langer Zeit in dem uralten Holz versteckt. Ja, er sah es. Dort lag ein Überbleibsel der Vorgänger in einem Geheimfach verborgen, spürte er überrascht. Und dieses Relikt war wichtig, denn es konnte die Welt verändern – sie zu einem besseren Ort machen. Er hätte das gerne noch jemandem mitgeteilt. Doch aus seinem Mund quoll nur blutiger Schaum.
Dann fühlte Adelf nichts mehr.