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2. Kapitel

DIE FAMILIE DES MÄRCHENERZÄHLERS


»Der „Rosengarten“ war der erleuchtete Sohn des „Fleischbällchens“, der wiederum war der Enkel des „Richtblocks“. Auf die glorreichen Jahre des „Rosengartens“ folgte die Regentschaft des „Gerechten im Brokatkleid“, vom dem ging der Falkenthron an … dann kam … jad al–voi Inet!«

Selin fluchte leise, damit ihn sein Tantchen nicht hörte, die sich nicht davor scheute, ihm, einem erwachsenen Mann von immerhin schon beinahe neunzehn Jahren, für solche Schimpfwörter den Mund mit Seife auszuwaschen. Aber er hatte schon wieder den Ehrentitel des sechzehnten Herrschers der Adin–Dynastie vergessen. Auf diese Weise würde er seine Prüfungen nie bestehen.

»Was'digo sadoniQe!«, ergänzte er und warf einen furchtsamen Blick zur Tür, die zu ihm aufs Dach führte. Aber Tante Sirtis hatte ihn wohl nicht gehört.

In Karukoras drückend schwülen Sommermonaten, in denen die Luft zu kochen schien und das Atmen in den Lungen schmerzte, erfüllten die eng beieinander stehenden Häuser der Stadt andere Zwecke als im Winter und an den kühleren Orten der Überlebenden Länder. Sie warfen bei Tag ihre Schatten in die Innenhöfe und boten in der Nacht auf ihren Dachterrassen einen erhöhten Schlafplatz unter den Sternen, aber niemand hielt sich länger als nötig zwischen den stickigen Lehmziegel–Mauern im Inneren der Häuser auf. Das Leben der Menschen spielte sich vollständig im Freien ab, in den kleinen, quadratischen Höfen und rückwärtigen Gärten abseits der staubigen Gässchen, die sich durch die Häuserreihen schlängelten. Hier wurde versteckt hinter hohen Mauern und gelb–braunen Häuserfronten unter weißen Laken und Lauben gearbeitet und gegessen, geschlafen, geliebt, geboren und gestorben.

Die einzige Ausnahme von dieser Regel machte der gewaltige Elfenbein–Palast, der der Regierungssitz und Wohnstätte des Namenlosen Herrschers und seines ausufernden Hofstaates war. Er überragte am östlichen Ende des Stadtteils Karus dessen verwirrendes Gassen–Labyrinth mit seinen tausend roten Dächern, Balkonen, Terrassen und kleinen Marktplätzen. Die Räume des Palastes wurden durch ein kompliziertes System von Kanälen und künstlichen Wasserfällen, Brunnen, Becken und Teichen gekühlt. Das dazu nötige Wasser leitete man aus dem auch im heißesten Sommer niemals versiegenden Fluss Marat, in dessen Mündungsdelta die große Stadt im Hinterland der Südmeerküste lag. Das Wasser wurde in unterirdischen Kavernen, die praktisch den gesamten Palast unterkellerten, gereinigt und mit Eis abgekühlt. Auf eigens dafür konstruierten, überbreiten Schiffen schafften Händler ihre kalte Ware in Blöcken aus dem fernen, nördlichen Helmgebirge herbei, das sich hinter der Toten Wüste in eisige Höhen erhob und auf dessen Berghängen ewige Gletscher funkelten.

Doch nur wenige Auserwählte kamen in den Genuss dieser Erfrischung, die der Palast seinen Bewohnern und Besuchern bot. Den meisten ging es wie dem jungen Selin, der von seinem erhöhten Platz aus ab und an seinen Blick von den Büchern und Notizen hob und ihn neidvoll hinüber zu den spiegelnden Dächern des Elfenbein–Palastes warf, die durch ihre besondere Konstruktion nur wenig Wärme ins Innere ließen: Wie alle schwitzte er dabei aus allen Poren und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen und den stechenden Strahlen der Sonne aus dem Weg zu gehen, die schon so früh am Morgen auf ihn herabstrahlte, als habe sie eine persönliche Rechnung mit ihm offen. Selbst der Syris, ein Seitenarm des Marat, der von sprichwörtlich einhundert Brücken überquert wurde – es waren exakt sechsunddreißig Brücken, denn Selin hatte sie gezählt – und der das Stadtviertel Karus in zwei Hälften zerschnitt, war zu einem schmalen, nach Kloake stinkendem Rinnsal zusammengeschmolzen.

Selin war mit einem Öllicht und einem Stapel Bücher in den Händen lange vor Sonnenaufgang auf die Terrasse des würfelförmigen, einstöckigen Wohnhauses gestiegen, das er mit seinem Großvater Alis und Tante Sirtis bewohnte. Es war selbst um diese Uhrzeit, wenn die Sterne über der großen Stadt funkelten und aus der weiten Ferne das Grollen und Donnern der Ebenen des Ewigen Krieges erschollen, eigentlich nicht kalt – nicht einmal kühl –, aber ab und an wehte doch ein Wind von der Toten Wüste heran, bewegte die Dunstglocke über der Stadt und vertrieb die fauligen, abgestandenen Gerüche, die tagsüber die heiße Luft schwängerten. Es war der beste Ort und die beste Zeit für ihn, sich auf das Al–Beqír vorzubereiten, die große Staatsprüfung, an der er am Ende des Sommers teilnehmen wollte.

Außerdem konnte er von dort oben jederzeit hinüber zum Haus des Kaufherren Ceçek Binsa sehen und sich nach dem Mädchen sehnen, das ihr Vater hinter einem hölzernen Fenstergitter im zweiten Stock über seinem Laden verbarg.

Diese Prüfung, deren Bestehen eine sichere Anstellung als Beamter oder Palastbediensteter auf den Inseln, in den Provinzen am Meer oder direkt in der Stadt sicherte, benötigte Jahre der Vorbereitung und wurde von höchstens fünfundzwanzig von tausend Bewerbern bestanden. Eine Unzahl von Gesetzestexten und Kommentar–Bänden, die ganze Regale in den Bibliotheken füllten, musste auswendig gelernt und in eigenen, strengen Regeln unterworfenen Aufsätzen wiedergegeben werden. Dazu wurden lückenlose Kenntnisse in der fast zweitausendjährigen Geschichte des Reichs verlangt, mathematisches, wirtschaftliches, astronomisches und astrologisches Wissen abgefragt. Endlich verlangten die Al–Beqír–Prüfer auch noch ein geschmackvolles, in den Traditionen des Reichs gehaltenes, poetisches Werk von den Bewerbern und zu guter Letzt mussten sie auch noch ihre Kochkünste beweisen.

Zumindest die letzteren beiden Prüfungsinhalte würden dem ehrgeizigen, aber nicht gerade fleißigen Selin keine Schwierigkeiten bereiten, denn er hatte oft den Erzählungen seines Großvaters gelauscht und sich in den Küchenkünsten von seiner Tante ausbilden lassen. Freilich hatte er in seinem Alter nur wenige Chancen, den fünftägigen Prüfungsmarathon mit Erfolg hinter sich zu bringen. Die meisten Kandidaten hatten ihr vierzigstes Lebensjahr längst hinter sich gelassen und hinter ihnen lagen bereits Jahrzehnte des intensiven Studiums und des Memorierens. Dem jungen Selin hingegen gelang es nur selten, die unendlich langweiligen Rechtskommentare der Altvorderen zu studieren, ohne bereits nach ein, zwei Seiten voller staubtrockener und ihm vollkommen unverständlicher Sätze friedlich einzuschlummern. Dennoch wollte er unbedingt in diesem Jahr das Al–Beqír bestehen, denn zweimal war er bereits durchgefallen und er konnte die Prüfung in diesem Jahrzehnt nur noch ein einziges weiteres Mal ablegen.

Inzwischen war die Sonne hoch über den Horizont gestiegen und schleuderte ihre Strahlen wie brennende Speere fast senkrecht auf die unter ihrer Wut kochende Stadt, in der die Schatten von Minute zu Minute knapper und kostbarer wurden. Selin hatte es sich zwar auf seiner Liege unter einem Sonnensegel gemütlich gemacht, aber die stehende Hitze machte ihn schläfrig. Ihm wollte einfach nicht gelingen, sich die Liste mit der Abfolge der Herrscher der vor 480 Jahren untergegangen Adin–Dynastie einzuprägen, die in den 264 Jahren ihrer Regentschaft über Karukora stolze vierundzwanzig Namenlose hervorgebracht hatte. Einige, wie auch der Nachfolger des „Gerechten im Brokatkleid“, der ihm einfach nicht einfiel, hatten allerdings nur wenige Monate regiert. Es machte die Sache auch nicht leichter, dass sich die Autarchen traditionsgemäß nur durch ihre Beinamen unterschieden. Denn sie waren alle „Namenlose“ Herrscher, eine schier endlose Reihe von Despoten, die Kontinuität und Unsterblichkeit bedeuten sollte, Dynastie für Dynastie – bis zum heutigen Tag, der die segensreiche Regentschaft des „Unterwerfers“ beleuchtete. Möge ihn die tränenreiche Mutter mit einem langen Leben, mit Schlachtenglück und vielen männlichen Nachkommen beschenken!

Also noch einmal, ganz von vorne: Mit dem „Gründer“ begann 5134 nach dem Sturz des bleichen Máni die dynastische Reihe der Adin, auf ihn folgten „Der Sohn“, „Der Würzige“, „Der Gespaltene“, „Der Edelstein“ und „Der Kriegerische“ und weitere achtzehn Ehrentitel der eher mediokren und recht bedeutungslosen Namenlosen Herrscher jenes ziemlich glücklosen Geschlechts, auf das nach einem kurzen Bürgerkrieg die noch heute regierende Bişra–Dynastie folgte. Mit der Besteigung des Falkenthrons durch deren ersten Namenlosen, dem „Gelben Fuchs der Wüste“, hatte übrigens das Jahr 1 der modernen Zeitrechnung Karukoras begonnen.

Doch zurück zu den Adin: Der bekannteste und bedeutendste unter ihnen war „Der Prächtige“ gewesen, der in seiner langen Regentschaft die ersten Hallen des Elfenbein–Palasts errichten und die Häfen von Karukora zu ihrer heutigen Größe ausbauen ließ und mal wieder die vor der Küste liegende Insel Artmar eroberte, die nur wenige Jahre später von einem seiner Nachfolger, „Die Silberbirke“ genannt, erneut an die Barbaren aus dem Westen verloren wurde. Aber hatten zwischen dem „Prächtigen“ und der „Silberbirke“ zwei oder drei Namenlose Herrscher geherrscht?

Selin grübelte und schlief ein.

Ein Stunde später weckte ihn Tante Sirtis. Sie brachte ihm ein frisches, außerordentlich süßes Gebäckstück und eine Tasse mit dampfendem, schwarzem Kav hinauf aufs Dach.

»Und, wie geht es meinem fleißigen Studenten heute?«, fragte sie lauthals lachend und präsentierte ihre prächtigen, blütenweißen Zähne, die trotz ihres Alters und ihrer Fresssucht noch vollständig waren. Dieses Lächeln war das letzte Überbleibsel der einst legendären Schönheit der alt gewordenen Frau.

»Lernst du auch fleißig, mein Augenstern?«

Selin fuhr sich müde über die Männerglatze. Dann kratzte er sich ausgiebig in den wenigen widerspenstigen Haaren, die ihm zu seinem Leidwesen nur spärlich unter dem Kinn wuchsen.

»Ach, Tantchen, das ist lieb von dir …«, antwortete Selin ausweichend und sprang auf, nahm das Tablett mit dem kleinen Imbiss an sich und stellte es zur Seite auf den Rand der Mauer.

Selin war ein gerade gewachsener, dunkelhäutiger junger Mann, dem viele Mädchen des Viertels je nach Charakter schmachtende oder herausfordernde Blicke zuwarfen. Sie wussten nicht, dass sein Herz schon längst an Semira vergeben war, die bildhübsche Tochter des reichen Kaufmanns Ceçek Binsa. Und dass diese Liebe längst heimlich erwidert wurde.

»Oh, heute will es nicht so recht. Das ist kein Tag zum Lernen. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Namen. Ich denke, ich werde meine Bücher zusammenpacken und mit ihnen zum Fluss hinuntergehen ...«

»… und sie ungeöffnet vom Baden wieder heimschleppen«, warf Sirtis spöttisch ein.

Selin stimmte in das Lachen seiner Tante ein und umarmte die Schwester seiner früh verstorbenen Mutter Irta, die neben Alis, dem uralten Geschichtenerzähler, seine einzige noch lebende Verwandte war. Seinen Vater hatte Selin nie kennengelernt und über ihn wurde im Familienkreis auch nicht gesprochen. Irta war Dienerin im Elfenbein–Palast gewesen und als sie ihre Schwangerschaft nicht länger verbergen konnte, war sie eines Tages von dort mit Schimpf und Schande verjagt worden. Sie war mit gesenktem Haupt zurück zu ihrer Schwester und ihrem Vater gegangen und bald nach der Geburt ihres ungewollten Kindes gestorben – aus Kummer, wie ihm Sirtis einmal verraten hatte. Ob Selin der „Bastard“ eines Palastbediensteten oder eines Wachsoldaten oder gar eines Mitglieds der Herrscherfamilie war, wusste niemand zu sagen. Irta hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Alles, was ihr außer ihrem Kind von ihrer Liebesaffäre geblieben war, war ein kleiner, goldener Anhänger gewesen, der die Form eines Bärenkopfs hatte und nun an einem Lederband um Selins Hals hing. Die schöne Tante Sirtis jedenfalls hatte sich nach Irtas Tod des verwaisten Säuglings angenommen, schlug alle Heiratsanträge in den Wind und wurde zu Selins zweiter Mutter. Über der täglichen schweren Arbeit im kärglichen Haushalt ihres Vaters und den unbarmherzigen Strahlen der Wüstensonne wurde sie schnell alt und fett und bald warf ihr niemand mehr bewundernde Blicke zu. Doch nie hatte sie darüber ihre fröhliche, warmherzige Art verloren und schien niemals den ihr vom Schicksal aufgezwungenen Lebensweg zu bedauern.

Sirtis befreite sich aus der Umarmung ihres Neffen, des geliebten Kindes, das so schnell und von ihr fast unbemerkt erwachsen geworden war. Wohin waren all die glücklichen Jahre hingekommen, als er ihr noch am Rockzipfel folgte und sie ihn hochnehmen und trösten konnte, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte?

»Aber heute wird es nichts mit Baden. Auf uns wartet Arbeit. Dein Großvater ist eben vom Hamdala–Markt heimgekommen. Er hat dort mal wieder die Nacht auf dem Erzähler–Teppich verbracht. Und das in seinem Alter! Er sagt immer, auf dem Markt würde er die besten Geschichten erlauschen. Ich glaube, diese Nächte im Dreck der Straße bringen ihn noch ins Grab.« Sie schlug verzweifelnd die Hände über dem Kopf zusammen.

»Aber er will ja nicht auf mich hören. Auf jeden Fall sitzt er jetzt unten in seinem Gemach und er hat nach dir verlangt.«

Selin war für jede Unterbrechung dankbar, die ihn von der Adin–Dynastie ablenkte.

»Sage ihm, ich käme augenblicklich, wenn ich hier oben ein wenig Ordnung gemacht habe«, sagte er und nahm die Tasse Kav in die Hand. Sirtis beugte sich etwas vor und ihre Stimme wurde leiser, verschwörerisch:

»Er ist nicht allein. Muhar, der Stumme, ist bei ihm. Du weißt, er ist mir unheimlich. Er war schon als junger Mann nicht ganz bei Trost und seit seinem Unglück hat er wohl völlig den Verstand verloren. Aber die Allerbarmerin ist bei den im Geiste Armen. Was jedoch noch viel schlimmer ist: Väterchen hat mir den Auftrag gegeben, für uns alle Proviant einzukaufen. Ich soll für eine lange Reise packen und unbedingt morgen in der Frühe damit fertig sein. Er hat mir nicht gesagt, warum. Mir gefällt das alles nicht, Selin. Was für eine Reise wollen wir unternehmen und wohin? Seit wann machen wir denn Urlaub? So einen Unfug können wir uns doch überhaupt nicht leisten! Mir scheint das alles so überstürzt wie eine Flucht. Rede du mit ihm. Finde heraus, was er mit dem Stummen plant.«

Selin schüttelte erstaunt den Kopf. Der Großvater schien ihm in den letzten Wochen und Monaten immer wunderlicher geworden zu sein. Obwohl sein Gedächtnis noch nicht gelitten hatte, schien doch das Alter langsam seinen Geist zu verwirren. Und was war das überhaupt für eine neue Schrulle von Alis, statt Zuhause in seinem Bett, in einer Ecke des Großen Markts im Sitzen auf seinem fadenscheinigen Erzähler–Teppich zu schlafen? Aber er wollte nicht schon wieder mit der Tante über dieses merkwürdige Verhalten tratschen, denn er war mit einem Mal abgelenkt. Er spähte über die Brüstung. Seine scharfen Augen hatten an einem untrüglichen Zeichen erkannt, dass auch seine geliebte Semira mit ihm zu sprechen wünschte. Vom niedrigen Rand der Dachterrasse hatte er einen guten Blick auf das nur zwei Straßenzüge entfernte Wohn– und Handelshaus ihrer Eltern. Um den Gitterrahmen eines Fensters im zweiten Stock hatte die Tochter des Kaufherren ein dunkelblaues Seidentuch geschlungen, das sich leicht bewegte.

»Ich werde dich nach dem Gespräch mit Großvater selbstverständlich begleiten und dir beim Tragen helfen, wenn du später bei Ceçek einkaufst ...«, sagte Selin betont beiläufig und nippte am an seinem heißen, bitteren Getränk, um seinen Gesichtsausdruck zu verbergen. Aber so leicht war seine Tante nicht zu täuschen. Sirtis ließ erneut ihre Zähne aufblitzen:

»Ach, mein Schatz, für die Menge an Vorräten, die wir für unsere Reise einkaufen müssen, werden wir den Eselskarren brauchen. Aber ich würde doch niemals ohne dich den Kaufmann und sein Töchterchen besuchen«, entgegnete Sirtis schelmisch und kniff ihrem geliebten Neffen in die Wange.

»Doch jetzt eile, lass Großväterchen nicht länger warten. Ich werde deine Bücher nach unten bringen.« Gehorsam machte sich Selin auf den Weg hinunter zum Arbeitszimmer Alis‘.

Die Stimme des Großvaters flüsterte, aber sie war für die gespitzten Ohren von Selin, der vor dem Vorhang zu dessen Zimmer stand und aufmerksam lauschte, deutlich zu verstehen.

»… ich bin mir sicher: Niemand wird während des Festes des Vezirs ausgerechnet auf einen jungen Mann achten und die Wachen werden entweder atemlos meiner Geschichte folgen oder vor Langeweile eingeschlafen sein. Ist er einmal im Thronsaal angelangt, hängt alles nur an Selins Intelligenz. Wenn wir diese Gelegenheit nicht ergreifen, werden wir die Karte ...« Alis verstummte mitten im Satz und Selin klopfte sofort an den Holzrahmen der Tür. Dann wartete er höflich auf das »Herein!« seines Großvaters.

Er trat in den kargen Raum und fühlte sich unter dem forschenden Blick des alten Mannes unbehaglich und wie ertappt. Der Geschichtenerzähler saß hinter einem Tisch nahe beim offenen Fenster, durch das jedoch nur Licht, aber keinerlei Abkühlung in den stickigen Raum gelangte. Neben Alis stand der Stumme, der flüchtig von dem Notizblock in seinen Händen aufsah und dem Eintretenden aufmunternd zulächelte.

Der unglückliche Muhar war ein alter Freund der Familie und hatte sich einmal berechtigte Hoffnung auf die Hand von Tante Sirtis machen können. Als ganz junger, aber außerordentlich begabter Mann war er bei Alis in die Lehre gegangen, dessen Künste als Märchenerzähler weit über die Grenzen des Reichs der Namenlosen Herrscher berühmt waren. Damals war Selin ein Kleinkind und es hatte sich noch nicht überall herumgesprochen, dass im Schoße seiner Familie, die man wegen ihrer Schande besser meiden sollte, ein Hof–Bastard aufwuchs. Alis konnte noch gut von seinen Erzählungen leben. Der Großvater hatte den ehrgeizigen Muhar in sein Haus aufgenommen und ihm geduldig das Handwerk des Geschichtenerzählens beigebracht. Da der Sohn eines armen Schmieds kein Geld hatte, erledigte er neben seiner Ausbildung viele der Arbeiten, die im Haushalt und im Hof anfielen. Alis bildete viele Lehrlinge aus, aber Muhar war der beste von ihnen, sein Talent war das sprichwörtliche eine unter tausend. Er besaß eine lebhafte Einbildungskraft, ein fabelhaftes Gedächtnis, große schauspielerische Fähigkeiten und ein feines Gespür für die Stimmungen und Erwartungen seines Publikums. Die Macht seiner Worte konnte wilde Tiere bannen und die Seelen der Zuhörer gefangen nehmen.

Bald strahlte das Licht seiner Kunst so hell, dass er sogar manchmal seinen Meister überflügelte und schnell zur Sensation der besseren Kreise von Karukora avancierte. Die gute Gesellschaft zerriss ihn förmlich in ihrem Bemühen, das Wunderkind abends in ihren literarischen Salons und Soireen auszustellen. Wenn der junge und schöne Muhar seine Geschichten erzählte, hingen alle sehnsüchtig an seinen Lippen und leckten begierig den Honigseim seiner Worte. Es war, als hätte Maraia selbst bei seiner Geburt seine Zunge mit dem Balsam ihrer Tränen beträufelt, solch ein Labsal und eine Erquickung waren seine Worte. Endlich kam das Gerücht seines wunderbaren Könnens vor den Thron des Namenlosen Herrschers, der sich „Erquickende Wüstenoase“ nennen ließ. Er war der vergnügungssüchtige und sittenlose Vater des augenblicklichen jungen Bişras. Mit Ehren und größtem Respekt wurde Muhar in den Palast aufgenommen und als Hofmärchenerzähler eingestellt. Von nun an erzählte er seine erstaunlichen und lehrreichen eintausendundeinen Geschichten ausschließlich im Thronsaal; zu den Füßen seines gutmütigen Herrschers sitzend. Er wurde dabei reich und war bei Hofe hoch geehrt. „Wüstenoase“ hörte sogar häufiger auf seine Ratschläge als auf die seiner Berater und seines Vezirs. Muhar machte sich auf diese Weise nicht wenige Feinde im kaiserlichen Rat und wurde von den Vertretern der unterschiedlichen Interessengruppen, die vor den herrscherlichen Gemächern antichambrierten, neidvoll und misstrauisch beobachtet.

Muhars Stern begann allerdings erst zu sinken, als der alte Bişra überraschend an einem plötzlichen Gehirnschlag verstarb und sein Sohn, der „Unterwerfer“, zum Namenlosen Herrscher ausgerufen wurde und sich die goldene Maske der Bişra aufsetzte. Der neue Vezir Ómer Sud ließ alsbald seine Einflüsterer auf ein vorwitziges Wort des Palasterzählers lauschen, dessen Macht ihm nicht gefiel. Das ließ nicht allzu lange auf sich warten. Muhar machte sich in privaten Gesprächen, die im Elfenbein–Palast niemals privat blieben, über die große Nase von Ómer, die in allen Dingen und auch im Hinterteil des Namenlosen stecke, lustig.

Ohne Federlesens bestrafte der Vezir den Erzähler auf die für ihn grausamste Weise: Seine Henkersknechte folterten Muhar und rissen ihm mit glühenden Zangen die allzu geschwätzige Zunge aus der Mundhöhle. Nachdem die Wunden geheilt waren, gewährte Ómer dem tief gefallenen Günstling des alten Herrschers eine zynische Form der Gnade. Schließlich könne er auch ohne Zunge sein Talent entfalten und seine gewählten Worte noch immer zu Papier bringen. Er enteignete Muhar, ließ ihn mit der Rose der Unfreiheit an der Wange kennzeichnen und nahm ihn als rechtlosen Sklaven in sein Gefolge auf. So lebte Muhar von diesem Moment an als Schreiber und Chronist des Vezirs, der es niemals müde wurde, aus der Feder des Muhar von seiner Güte, seiner Weisheit und seinen Heldentaten zu lesen. Der Stumme wurde in den darauf folgenden Jahren auch der Hauslehrer und Vertraute von dessen Tochter Eóra, die vor kurzem die Hauptfrau des kinderlosen „Unterwerfers“ geworden war. Muhar, zu dem das einsame Mädchen – ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben –, bald eine innige Bindung aufbaute, war ihr mehr Vater als der immer mit seinen Staatsgeschäften und Kabalen beschäftigte Ómer.

Der Unglückliche wusste, dass er diesen tiefen Absturz allein seinem Hochmut zu verdanken hatte. Aber sein Hass auf den Vezir und den „Unterwerfer“ wuchs trotzdem von Tag zu Tag und hilflose Rachephantasien beherrschten seinen Verstand. Er erinnerte sich plötzlich wieder an seinen alten Meister, der inzwischen in ein billiges Haus am Rand des Armenviertels gezogen war und nur mühsam seine Familie ernähren konnte, da er und seine Geschichten nicht mehr modern waren. So oft es ihm sein Dienst erlaubte, besuchte der Stumme nun Alis und disputierte mit ihm nächtelang. Das heißt, Großväterchen redete und Muhar notierte seine Beiträge zum Gespräch auf einem fetten Papierblock, den er immer an einer Schnur um den Hals trug.

Auch jetzt schrieb er etwas auf und hob den Block vor Selins Augen, damit dieser seine Worte lesen konnte.

»Ich freue mich, dich zu sehen. Was machen deine Studien?«, las der Enkel von Alis. Er wählte eine höfliche, distanzierte Grußformel als Antwort:

»Dein Anblick bringt meine Augen zum Leuchten, guter älterer Onkel Muhar. Meine Arbeiten entwickeln sich zufriedenstellend, wenngleich sie sich als äußerst umfangreich erweisen«, erwiderte Selin zögernd und umständlich, denn er sah, dass der Stumme wieder hektisch zu schreiben begann.

Selin kam nicht allzu gut mit dieser verzögerten Form eines Gedankenaustauschs zurecht. Ihm ging es wie seiner Tante. Der Sklave des mächtigen, aber geizigen Vezirs, der in abgerissenen Lumpen herumlaufen musste, roch unangenehm und schien jedermann mit einem brennenden, zornigen Blick zu durchbohren. Wenn Selin ehrlich war, machte er ihm ein wenig Angst. Zu seiner Erleichterung mischte sich sein Großvater ein, der sich zuerst an Muhar wandte:

»Dann glaube ich, es ist alles zwischen uns besprochen, mein Freund. Auf dich wartet Arbeit im Elfenbein–Palast. Du wolltest doch eben aufbrechen. Nicht wahr, Muhar?« Der Stumme hob bereits seinen Stift, um kritzelnd einen Einwand zu formulieren, dann senkte er ergeben den Kopf und verließ rückwärts schreitend und sich verbeugend den Raum.

»Dieser Abend wird etwas ganz Besonderes, er wird ein Anfang sein. Ein Weg, der in den Tag führt«, rief ihm Alis aufmunternd hinterher und lachte, als habe er etwas Komisches gesagt. Dann wurde er ernst und richtete stirnrunzelnd seinen Blick auf seinen verständnislos wartenden Enkel.

»Ein besonderer Abend wird es werden, aber auch ein gefährlicher. Ómer Sud, der Vezir des „Unterwerfers“ hat mich heute auf dem Bazaar besucht.«

In Selins Magengrube sackte etwas nach unten. Ein giftiger Wüstenskorpion von den Feldern des ewigen Krieges war eine angenehmere und freundlichere Gesellschaft als Ómer Sud. Und eine weniger gefährliche dazu. Selin hätte sich jetzt gerne hingesetzt, wenn es noch einen weiteren Stuhl im Zimmer von Alis gegeben hätte. So trat er nur nach vorn und stützte sich mit einer Hand auf den Tisch. Neugierig sah er auf den großen Bogen Papier, der auf der Platte lag. Es war ein Übersichtsplan und wenn er sich nicht vollkommen irrte, dann zeigte er Grundrisse von Räumlichkeiten im Elfenbein–Palast. Selin hatte nicht gewusst, dass sein Großvater so etwas besaß und er fragte sich, weshalb er sich dafür interessierte.

»Was wollte der Vezir? Die Allerbarmende schenke ihm Wohlstand und Gesundheit … und einen schnellen Tod.«

»Nun«, kicherte Alis und äffte die Sprechweise von Ómer nach, »nun, nun. Wohlstand und Gesundheit – das schließt einander aus. Mit jedem Reichen wird ein Dutzend Armer geboren, die ihm nach seinem Geld und dem Leben trachten. Reich ist Ómer über alle Maßen, da wird er – hoffe ich – nicht auch noch alt werden.« Er wurde wieder ernst.

»Ich soll für den Vezir heute Abend eine Geschichte erzählen. Du weißt, Regno Raul IV., der grausame, aber gerechte Herrscher der Lamargue, den man den „Bären von Jasir“ nennt, weilt mit seinem Gefolge im Elfenbein–Palast. Der triumphale Einzug dieses riesigen Barbaren aus dem Norden war ja so wichtig und interessant, dass mein naiver Herr Enkel gestern lieber gaffend am Straßenrand stand, als die Hygiene–Gesetze des „Reinlichen“ zu lernen, was seine eigentliche Aufgabe gewesen wäre.« Selin wollte sich verteidigen, aber sein Großvater hob abwehrend die Hand.

»Das ist jetzt nicht wichtig. Jedenfalls streiten sich Karukora und die Lamargue seit ewigen Zeiten um den Besitz des Flusses Thorn, der unterhalb von Launins Wall in den Marat fließt. Was sage ich in meiner Hybris! Was nenne ich den Thorn einen Fluss! Er ist ein schmales Bächlein, ein Spuckefaden aus dem Mundwinkel der Wüste, eine stinkende, feuchte Furche im Sand, die in jedem Sommer austrocknet. Ich glaube, es ist während den Thorn–Kriegen mehr Blut aus den Wunden der Soldaten geflossen als Wasser aus diesem Rinnsal in den großen Strom. Nach der Schlacht der vierzigtausend Seelen im Jahre ...« Alis sah seinen Enkel auffordernd an.

»... im Jahre der allbarmherzigen Gnade 397 des neuen Kalenders, also 5796 nach Mánis Fall«, warf Selin automatisch ein und zitierte danach eine auswendig gelernte Stelle aus einer Historie der Bişra–Dynastie, »… erschüttert im Blute der Gefallenen stehend handelten der Namenlose, das „Narbengesicht“, und Regno Yves I. einen Waffenstillstand aus, der bis heute Gültigkeit hat.«

»Ja, seit über 80 Jahren hat er Bestand. Doch nun ist der „Unterwerfer“ Bişra von Karukora und es häufen sich die Grenzverletzungen und Übergriffe auf beiden Seiten. Jeder wirft dem anderen vor, begonnen zu haben. Dabei ist doch gleichgültig, wer beginnt. Groß ist allein, wer beendet! Aus diesem Grund ist der Regno Raul, der Enkel von Yves I., in der Stadt. Es soll von neuem verhandelt werden. Der Vezir jedenfalls will die Gelegenheit nutzen. Er möchte den seltenen Gast mit dem Reichtum und der Kultur des Südens beschämen. Und wie ich geflüstert auf dem Markt gehört habe, haben auch Spione und Gesandte aus Italmar und von den Oststädten ihre Finger im Spiel, denn beiden käme ein Krieg zwischen der Lamargue und Karukora sehr gelegen. Wie dem auch sei, ob das wahr ist oder nur ein Gerücht, Ómer gibt heute Nacht jedenfalls zu Ehren des „Bären“ ein üppiges Festmahl. Das ist eine der Pflichten des Vezirs bei Staatsbesuchen. Auf diese Weise schont der Namenlose sein Allod und es würde ein schlechtes Licht auf seinen ersten Minister werfen, wenn er bei solch einer Gelegenheit geizen würde. Deshalb wird der ganze Palast erleuchtet sein. Der gesamte Geld– und Erbadel, die unüberschaubare Familie des Namenlosen, die Regierung und die Diplomatie werden sich zu einem rauschenden Fest versammeln. Es ist bei einer solchen Gelegenheit gute Sitte im Reiche Karukora, außer edlen Speisen, altem Wein und jungen Tänzerinnen auch einen oder zwei Erzähler zur Abendunterhaltung anzubieten. Das ist ein schöner alter Brauch, den Ómer glücklicherweise fortführen will.«

»Und da kommt er ausgerechnet auf dich?«, wunderte sich Selin. Seit über einem Jahrzehnt hatte sein Großvater keine Aufträge von Adeligen oder gar aus dem Palast bekommen.

»Das ist nicht so verwunderlich, mein lieber närrischer Enkel. Die Kunst, Worte wie einen Teppich zu knüpfen, ist bei der Jugend leider verloren gegangen. Wir Geschichtenerzähler haben in diesen Tagen keine Nachfolger, die in unseren Fußstapfen gehen können. Nur noch ganz wenige von den Alten, die die Kunst einst beherrschten, weilen noch unter uns. Rasad, die Engelszunge, ist längst gestorben und Rodna weiß nicht einmal mehr ihren Namen, wenn man sie nach ihm fragt. Mein alter Geselle Muhar, der Sehende unter den blinden Jungen, er ist unpässlich, um ein schönes Wort des Vezirs zu benutzen. Wer sonst außer mir sollte also noch in der Lage sein, ein solch auserlesenes Publikum mit seinen Geschichten zu fesseln? Etwa dieses – weiß die Allerbarmerin woher! – frisch aufgetauchte düstere Bürschlein Sahar, der mir Konkurrenz machen will? Seine Märchen sind nur freche Plagiate und schwache Abbilder unserer südlichen Sagen. Wenn er spricht, ist es, als würde trockener Sand aus den Lippen einer Statue rieseln und seine Geschichten sind so zäh wie eine alte Rötelwurzel. Sie kleben zwischen den Zähnen.«

»Dann erzählst du also heute Abend bei dem Ball im Palast eine Geschichte? Das ist sehr gefährlich«, warf Selin rasch ein, denn Alis konnte sich stundenlang über diesen plötzlich in der Stadt erschienen neuen Märchenerzähler aufregen, der sich seit etwa einem Monat so frech und wie selbstverständlich in den Gasthöfen und Karawansereien von Korus und von Korus herumtrieb und seine Geschichten aus dem fernen Wendland und der Provinz zum Besten gab, Märchen, in denen es von Daimonen, heidnischen Gottheiten und düsteren Höllenvisionen nur so wimmelte. Deshalb hatte Alis seinen Teppich unter den Arm genommen und sein Lager auf dem Markt aufgeschlagen, nach Jahren des Schweigens wieder jeden Abend seine wundervollen Märchen erzählt: Er fühlte sich von dem jungen Barbaren Sahar, der großen Zulauf mit seinen exotischen Geschichten hatte, herausgefordert.

»Jede Gefahr ist eine Chance«, sagte Alis und lächelte hintersinnig. »Deswegen wirst du mich begleiten.«

»In den Palast hinein? Ich?«, entsetzte sich Selin und prallte einen Schritt zurück. »Im Namen der Höchsten, was hast du vor?«

Alis legte den Kopf schief und betrachtete seinen Enkel nachdenklich.

»Setze dich doch, ich will erzählen, warum ...«, sagte er dann.

Mit einer einladenden Geste forderte er seinen Enkel auf, sich neben ihn auf die Fensterbank zu setzen. Selin gehorchte. Er seufzte ganz leise, damit ihn sein Großvater nicht hörte. Ihm stand gerade überhaupt nicht der Sinn nach einem von dessen Märchen. Er dachte an ein seidenes, blaues Band, das ungeduldig im heißen Wüstenwind flatterte, der vormittags durch die Gassen des Händlerviertels fegte. Er hoffte wirklich, es würde eine kurze Geschichte werden. Doch diesen Gefallen erwies ihm Alis nicht.

Wie alle Erzähler begann er ganz am Anfang; vor langer, langer Zeit ...

Der Weg, der in den Tag führt

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