Читать книгу Das Geheimnis der Eulenvilla - Nikolaus Klammer - Страница 7
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Rückenschmerzen
Am ersten Montag seines Sommerurlaubs erwachte Jonas Zacharias Habakuk mit bohrenden Rückenschmerzen. Sie steckten wie ein Messer fest zwischen seinen Lendenwirbeln. Ein Hexenschuss? Vielleicht sogar ein Bandscheibenvorfall? Das überraschte ihn. Der sportliche Mann Mitte Dreißig hatte nur selten Probleme mit seiner Wirbelsäule. Er konnte sich auch nicht erinnern, am Wochenende schwer gehoben oder unbequem gesessen zu haben. Er lag daher selbstmitleidig und mehr erstaunt als ängstlich auf dem Rücken und versuchte, diesen so wenig wie möglich zu belasten. Ihm wurde bewusst, dass er bereits aus einem nicht erinnerten Traum heraus jede plötzliche Bewegung vermied. Ja, er wagte es nicht einmal, seinen Kopf in Richtung der Nachttischlampe und dem Wecker zu wenden. Es dämmerte. Er konnte es an dem Lichtfleck an der Decke erkennen. Er war verwaschen und grau, jedoch zum Fenster hin wurde er deutlich heller. Jonas schätzte die Zeit ab. Es mochte gegen fünf Uhr am Morgen sein. Das war noch viel zu früh, um an einem verpflichtungslosen Urlaubstag Ende Juni aufzustehen und den Tag zu beginnen.
»Ich starre an die Decke«, sprach Jonas beschwörend und halblaut sich selbst an, »mache mich klein und atme flach, fixiere bewegungslos - wie ein Kaninchen eine lauernde Giftschlange - den dumpf ziehenden Schmerz eine Handbreit über meinem Steiß« Es machte Jonas Spaß, diesen verschachtelten Satz, kaum hatte er ihn gedacht, fehlerlos und prononciert auszusprechen. Er erfreute sich am Klang seiner Stimme und seiner Begabung für das gesprochene Wort. Jonas lebte von diesem Geschenk der spontan druckreifen Rede. »Nun, ein wenig will ich noch harren, den Waffenstillstand ausdehnen. Der Schmerz, der sich gerade gierig an meine Lenden schmiegt, ist ebenfalls ein geduldiger Warter. Doch er wird seine Gelegenheit bekommen und sie dann mitleidlos wahrnehmen«, fuhr er fort. Beinahe hätte er wegen des hohlen, allzu dramatischen Klangs in seiner Stimme gelacht. Aber er war ja auf der Hut. Lachen erschreckte sicherlich den lauernden Schmerz, würde ihn gemeinsam mit ihm zusammenzucken lassen. Unauffällig sein, in der zweiten Reihe stehen, Aufmerksamkeit vermeiden, sie durch Ignorieren auslöschen, das war das Gebot der Stunde. Danach hatte Jonas sein ganzes Leben ausgerichtet. Bisher fuhr er damit recht gut.
Ihm fiel in diesem Zusammenhang wieder die fast surreale Szene ein, die er vorgestern erlebt hatte, als er seine freien Tage mit einem Samstagsfrühstück im Café Iller in der Innenstadt beginnen wollte. Eine vorwitzige Taube mit einem verkrüppelten Fuß hatte sich von der belebten Geschäftsstraße in den Gastraum geschlichen. Sie pickte dort in aller Seelenruhe zwischen den Stühlen und den Beinen der Frühstückenden nach herabgefallenen Krümeln. Niemand unter den Gästen kümmerte sich weiter um den grauen Vogel. Er genoss leise gurrend das Glück seiner üppigen Mahlzeit und wirkte im Übrigen unbeeindruckt und selbstsicher, als würde er nickend über einen leeren Platz flanieren, auf dem ihm ein Rentner Brotkrumen zuwirft. Ein paar der Anwesenden sahen vielleicht kurz und abgelenkt zu der Taube herab. Aber die Mehrzahl ignorierte sie. Auf die gleiche Weise ignorierte gerade Jonas seinen Schmerz. Obwohl die Gleichgültigkeit der Café-Besucher und auch seine Gelassenheit gerade nur vorgespielt waren. Denn jeder in dem Lokal, da war sich Jonas sicher, war sich des Tieres absolut bewusst und kontrollierte mit flinken Seitenblicken dessen eilige und gierige Ortswechsel.
‚Ein Spatz in der gleichen Situation’, dachte Jonas, ‚würde Aufsehen erregen, Vergnügen oder Ärger. Man würde sich anstoßen und einander aufmerksam machen, diskutieren, wie man den kleinen Vogel aus seiner misslichen Lage befreien könne.’
Mit der Taube war das anders. Obwohl sie als Krankheiten- und Milbenüberträger, als dreckiges, verkrüppeltes Straßentier, ganz offensichtlich fehl am Platz war, machte ihr niemand ihr Anrecht streitig, hier Nahrung zu suchen. Keiner rief nach der Bedienung, stampfte zornig mit dem Fuß auf oder jagte das Tier aus seiner Nähe. Dieser recht wohlgenährte Vogel wurde, wie in einem gemeinsamen Pakt beschlossen, mit demonstrativem Nachdruck und absichtlich übersehen.
‚Genau auf diese Weise ignoriert man einen Bettler in der Fußgängerzone, der seinen fehlenden Fuß oder ein hässliches Geschwür als Mitleidsargument einsetzt. Man denkt ihn weg, schneidet aus dem Bild heraus, was als störend empfunden wird. Gelangen die Verbrechen der Nazis deshalb, weil es niemand wissen und sehen, sondern ungestört weiter frühstücken wollte? Kann es so einfach sein?’, überlegte Jonas. Dann wurde die Taube endlich von der Verkäuferin hinter der Selbstbedienungstheke entdeckt.
»Bist du schon wieder da«, klatschte sie in die Hände. Der Vogel zeigte weiter keine Reaktion. Er zog sich nur etwas zurück und hinkte scheinbar absichtslos näher an die jetzt im Sommer immer offenstehende Eingangstür. Die Taube wollte sich ihren Fluchtweg sichern. Sie benutzte ihn dann übrigens auch in aller Seelenruhe, als die Verkäuferin endlich mit einem Besen bewaffnet hinter ihrer Theke herausgefunden hatte. An dieses wahrscheinlich mehrmals täglich aufgeführte Stück gewöhnt, kehrte die Taube wie selbstverständlich sofort zurück, als die Luft rein war und die Bedienung wieder hinter dem Kaffeeautomaten und der Kuchenauslage stand.
Doch dann geschah etwas, mit dem niemand im Lokal gerechnet hatte. Gleichzeitig mit der Taube trat ein älterer, graubärtiger Mann durch den Eingang. Mit einem kleinen Sprung zur Seite überholte er das Tier, dem er offenbar wie alle anderen keine weitere Aufmerksamkeit widmen wollte. Aber völlig überraschend für alle wirbelte er wie ein Fußballer auf dem Absatz herum, holte noch in der Drehung mit dem Fuß aus und kickte den Vogel zielsicher durch den Türrahmen ins Freie. Etwas brach in dem Tier, das war in der schlagartigen Stille im Café deutlich zu hören. Die Taube flog, wohl zum letzten Mal in ihrem Leben, quer durch die Luft, knallte draußen auf der Straße gegen einen Werbeaufsteller. Sie blieb reglos im Rinnstein liegen. Als hätte er eine Selbstverständlichkeit getan, wie zum Beispiel seinen Hut abgenommen oder einen Schirm ausgeschüttelt und in eine Ablage gestellt, wandte sich der Graubart an die Bedienung. Er bestellte in aller Ruhe ein Weißbier. Der Tierquäler hatte eine gequetscht wirkende, hohe Stimme, die Jonas seltsam vertraut schien. Doch er war sich sicher, dass er dem Mann noch nie begegnet war und ihn noch nie gehört hatte. An wen erinnerte ihn diese Stimme nur?
Erst als der Mann – er war sicher schon weit über Sechzig - sein hohes Bierglas in der Hand hielt, wandte er sich etwas herum und ließ seine halbgeschlossenen Augen wachsam durch den Raum wandern. Der Blick kam einer Kampfansage gleich. Er war wie ein hingeworfener Fehdehandschuh. Doch niemand ging auf die Herausforderung ein, die erstarrten, erstaunten Mienen lösten sich und jeder war plötzlich mit seinem Essen, der Zeitung oder seinem Gegenüber beschäftigt. Auch Jonas senkte den Blick. Er beobachtete aber weiterhin aus den Augenwinkeln den Graubart und das Café. Ihm erschien die Situation noch nicht geklärt. Irgendetwas fehlte ihm, war noch nicht zum Abschluss gekommen. Der Pakt der Gäste allerdings war weiterhin gültig. Der Vertragsgegenstand, der Stachel im Fleisch, den man ignorierte, hatte gewechselt. Er war von dem toten Vogel auf den etwas verwahrlost wirkenden Mann an der Theke übergegangen. Drinnen im Café Iller hatte die Welt vor der Tür keine Bedeutung. Hier durfte sie sich nicht hereindrängen. Man saß hier, um sie zu vergessen. Das Samstagsfrühstück ließ sich keiner kaputt machen. Auch nicht von einem kleinen Mord. Endlich begegneten sich kurz die Blicke von Jonas und dem Eindringling. Das verstärkte das unbestimmte Gefühl in Jonas Magen. Es krampfte sich zu einer flauen Anspannung zusammen, zu einer, er konnte es sich nicht anders beschreiben, Ahnung von Gefahr. Er änderte seine Meinung. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen, sogar nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht. Auch Worte waren zwischen ihnen gewechselt worden. Da war er sich jetzt trotz seiner angeborenen Gesichtsblindheit ganz sicher. Auch schien das Erkennen beiderseitig. Der Ältere nickte grüßend einmal kurz in seine Richtung, bevor er sich wieder seinem Bier und der Beobachtung des Gastraums widmete.
Jetzt sah Jonas genauer hin. Er versuchte die Erscheinung, die halb an der Theke lehnte, zu erfassen. Ihm war, als müsse er den Mann jetzt sofort mit seinem Namen ansprechen, er lag ihm förmlich auf der Zunge. Aber der Graubart wirkte hier im Café wie aus seinem Bezugsrahmen gefallen, ausgeschnitten und in ein neues Bild geklebt. Jonas fehlte der Kontext, um ihn einordnen zu können. Der Kerl wirkte auf ihn wie eine der schattenhaften Figuren in einem Gemälde von Giorgio de Chirico. Damit war er ganz nah dran an einer verlorenen Erinnerung, das spürte er. Aber es gelang ihm einfach nicht, die letzte Gedankenverbindung herzustellen. Der Mann war etwas über mittelgroß und sehr stämmig, nachlässig mit einem für das sommerliche Wetter viel zu warmen und knielangen Mantel gekleidet. Das schäbige Stück war beige und fleckig und sah nach Kleidersammlung aus. Darunter jedoch hatte der Mann, soweit Jonas das erkennen konnte, einen stahlgrauen Anzug an. Der saß perfekt und wirkte maßgeschneidert und teuer. Dazu trug er eine dezente, weinrote Krawatte und ein schlichtes, gestärktes weißes Hemd. Die Schuhe wiederum passten eher zum Mantel. Es waren hellbraune, ausgelatschte Slipper. Sie waren an den Nähten aufgeplatzt und mit einer dunklen Flüssigkeit besudelt. Wie seine Kleidung zerfiel auch das Gesicht des Mannes in zwei disparate Hälften. Die ganz offensichtlich gefärbten, mattschwarzen Haare trug er streng nach hinten gekämmt, an den Schläfen waren sie silbergrau. Der Haaransatz saß niedrig in der Mitte der Stirn, erzeugte dadurch ausgeprägte Geheimratsecken und gab der Erscheinung die unnahbare, ein wenig selbstgefällige Seriosität eines Politikers. Unter den dünnen, blasiert in die Höhe geschobenen Augenbrauen leuchtete ein heller, fordernder Blick. Doch darunter folgten eine zerfressene Säufernase und ein verfilzter, grauer Vollbart, der wie aufgeklebt aussah. Um die erstaunlich vollen Lippen spielte ein beständiges, etwas blödsinnig und pervertiert wirkendes Lächeln. Der Mann schien doch sehr von sich selbst eingenommen.
Jonas seufzte resigniert. Auch durch ein genaues Mustern kam er dem Geheimnis des Graubarts nicht näher. Im Gegenteil: Je mehr er sich um ihn mühte, umso mehr entglitt er ihm. Der Mann blieb nur, was er war. Er war ein Fremdkörper wie die Taube, ein kurzer Moment der Brutalität, ein Blutfleck im Paradies. Er hatte inzwischen sein Bier getrunken, stellte es auf die Theke und kramte ein paar Münzen aus seiner Tasche, die er, ohne sie zu zählen, neben das Glas warf. Dann wischte er sich den Schaum aus den Mundwinkeln und sah dabei wieder zu Jonas. Er zog die Augenbrauen noch höher hinauf und sein unanständiges Lächeln wurde breiter. Er sah nun endgültig wie ein Schwachsinniger aus. Zu Jonas Erstaunen machte er zwei schnelle Schritte, baute sich vor ihm auf und sprach ihn an.
»Du kannst dich nicht erinnern«, sagte er zögernd, als fiele es ihm schwer, die passenden Wörter zu finden. Die Fistelstimme war dünn und hatte einen Akzent, den Jonas nicht zuordnen konnte. »Das ist kein Wunder, denn es ist ja alles noch nicht geschehen. Aber die Zeit wendet sich, Ambakoum. ‚Du hast nach Hilfe gerufen. Ich habe dich gehört.‘« Ein bibelfester Irrer, das hatte ihm noch gefehlt! Jonas‘ Samstagsfrühstück wurde immer unerfreulicher. Wie er wusste, war Ambakoum der hebräische Name des Propheten Habakuk. Dessen Klage vor Gott hatte der Graubart eben zitiert. Es war mindestens fünfzehn Jahre her, dass jemand Jonas Ambakoum genannt hatte. Erneut verwünschte er seinen Vater Georg Habakuk für dessen alttestamentarischen Geschmack. Dieser hatte bei seiner Taufe dem doch ausreichend ungewöhnlichen Nachnamen mit Jonas und Zacharias noch zwei weitere der sogenannten kleinen Propheten vorangestellt. Auf der anderen Seite erzeugte allein die Nennung seines vollständigen Namens einigen Respekt, noch bevor er den Mund öffnete. Dr. rer. pol. Jonas Zacharias Habakuk, da erwartete jeder Offenbarungen. Aber ... Ambakoum? Jonas Gedanken rasten. Diese Bekanntschaft schien weiter in die Vergangenheit zu reichen, als er gedacht hatte. Eigentlich hatte ihn nur sein lieber, alter Freund Linus Binderseil halb zärtlich, halb spottend mit dieser hebräischen Form seines Nachnamens angesprochen. Aber dem Bildhauer war er seit Ende der Achtziger, also seit über zehn Jahren, nicht mehr begegnet. Er wusste nicht einmal, ob Linus noch in dieser Stadt wohnte. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass er jemals seine Künstlerbude in der Altstadt aufgab, die er seine ‚Residenz‘ getauft hatte.
Der Graubart, der hier Gott Jahwe spielte, war nicht Binderseil. Er stammte aber vielleicht aus dessen Umkreis, auch wenn sich Jonas absolut nicht an ihn erinnern konnte. Ihm war, als würde ihn eine innere Blockade davor schützen.
»Ich weiß nicht recht ...«, setzte er an, doch der Graubart hatte sich schon abgewendet und trat mit gemessenen Schritten aus dem Café. Er zögerte am Rinnstein kurz bei dem von ihm getöteten Vogel, den er fast zärtlich mit der Fußspitze antippte. Dann ging er achselzuckend weiter, verschwand aus Jonas Blickfeld, ohne noch einmal zurückzusehen. Im gleichen Augenblick erregte ein Flattern Jonas Aufmerksamkeit. Der Vogel war nicht tot. Er flog auf, wahrscheinlich von der Berührung aus der Bewusstlosigkeit geweckt, saß dann mitten auf dem Gehweg, aufgeplustert und verwirrt. Jonas lächelte. Ein seltsamer Gott, der Tauben tötete und wiederbelebte. Aber irgendwie war es ein beeindruckender Taschenspielertrick gewesen. Er sah sich um, aber niemand außer ihm hatte das ‚Wunder’ wahrgenommen. Bei der Gelegenheit entdeckte Jonas allerdings, wie nun alle ihn verstohlen musterten und sich dabei bemühten, seine Anwesenheit im Café zu ignorieren. Das lag wohl daran, dass ihn der Mann angesprochen hatte und damit den Fluch des Andersseins weitergereicht hatte, von der Taube über den Graubart auf Habakuk. Alle seltsam, alle fehl am Platz. Keiner hatte in dieser Welt etwas verloren, jeder war fremd und wurde ausgegrenzt.
»Und warum mache ich mir jetzt die Mühe, nach einem Sinn zu suchen, da es mir ganz offensichtlich nicht gegeben ist, einen zu finden?«, fragte Jonas die nun immer heller leuchtende Zimmerdecke über seinem Bett, als hätte er die Hoffnung, dass von dort oben eine Antwort auf ihn herabfiel. Dann richtete er mit einem einzigen entschlossenen Ruck den Oberkörper in die Senkrechte. Er hatte listig sein wollen, aber der Schmerz war zu aufmerksam. Jonas konnte vielleicht sich selbst mit dieser spontanen Aktion überraschen, sein Schmerz war abgebrühter. Er ließ ihm nicht einmal eine Schrecksekunde, sondern fuhr ihm augenblicklich brennend heiß in den Rücken. Die Pein ließ Jonas aufstöhnen. Dann kehrte der Schmerz sofort in seine Lauerstellung zurück, harrte geduldig auf die nächste Bewegung seines Opfers. Jonas tastete nach der wehen Stelle, knetete sie. Vielleicht half ja Zuwendung. Wo hatte er sich nur diese Zerrung eingefangen, denn um eine solche schien es sich eindeutig zu handeln? Doch wohl kaum beim Boule-Spielen, seinem sonntäglichen Hobby. Bei dieser Gelegenheit hatte er übrigens den Graubart ebenfalls gesehen. Seltsam, dass ihm das erst jetzt wieder einfiel. Der Mann war eine unwirkliche Erscheinung. Er fiel immer wieder aus seiner Erinnerung heraus. Wenn er doch nur wüsste, wo er ihn hinstecken sollte!
Jeden Sonntagnachmittag traf sich Jonas mit zehn, zwölf Gleichgesinnten zu diesem - wie er es bei sich nannte - Rentnersport. Tatsächlich war er mit Abstand der Jüngste der Gruppe, ihre Vereinsmeierei und ihre Ansichten lagen ihm fern. Er hatte sich dem Boulefreunde e. V., mit dem ihn sonst nichts weiter verband, vor einigen Jahren wegen seiner damaligen Freundin Katharina angeschlossen. Deren Hobby neben ihrem enervierenden Hang zur Esoterik war Boulespielen und sie hatte ihn zumindest mit dieser, ihrer zweiten Leidenschaft anstecken können. Nun, inzwischen hatte er Katharina, die fünf Jahre jünger als er war, schon so lange nicht mehr gesehen. Es fiel ihm inzwischen schwer, sich an ihre Stimme zu erinnern. Das französische Kugelspiel war ihm jedoch von dieser Beziehung geblieben. Bei trockenem und warmem Wetter traf man sich unten im Park am Bouleplatz. Für die anderen Tage hatte sich der Boulefreunde e. V. mit Licht und Heizstrahlern eine kleine Anlage in einer alten, leeren Fabrikhalle der ehemaligen Kattunfabrik hergerichtet. In diesem schönen Sommer wurde jedoch die Bahn in der Halle nicht benötigt. Jonas war wie immer etwas zu spät dran, dafür brachte er, wie es seine Aufgabe war, Kaffee in einer Thermoskanne und Tassen mit, während die Frauen des Vereins reihum Kuchen bereitstellten. Mit seinem Rotkäppchenkorb beladen kam er von seinem nahegelegenen Haus, das er nun schon lange allein bewohnte.
Obwohl sein Einkommen damals noch sehr unsicher war, hatte Jonas Mitte der Neunziger hohe Kredite aufgenommen und das schmucke kleine Ein-Familien-Haus erworben. Er hatte seine praktische Mietwohnung in der Stadt nicht gern aufgegeben. Er war nur zögernd in das Dorf im Weichbild gezogen, aber es hatte dem großen Wunsch von Katharina entsprochen. Sie sehnte sich genau nach dieser Form der gesicherten Bürgerlichkeit. Damals war auch noch nicht absehbar, dass ihre Beziehung bereits ein Jahr später beendet war und genau das Zusammenleben in dem Haus der entscheidende Auslöser für die Trennung wurde. In Katharinas Fall war die Erfüllung ihres Herzenswunsches gleichzusetzen mit einem Fluch. Zuerst blühte sie in der Provinz auf. Sie knüpfte Kontakte zu allen und jedem, trat den Vereinen bei und erhob ihre Stimme in der Gemeindeversammlung. Sie züchtete nach ökologischen Gesichtspunkten in dem handtuchgroßen Garten hinterm Haus Gemüse und Himbeeren, organisierte einen Hausfrauen-Yogaclub, kochte Marmelade und überfrachtete die Räume mit allem möglichen Krimskrams. Sehr bald schon, nach dem ersten Winter, merkte Katharina allerdings, dass sie sich mit ihren Arbeiten nur ablenkte. Sie würde im Dorf nie heimisch werden. Ihr Kampf um Anerkennung in der Gemeinde war wie der von Don Quichotte gegen die Windmühlen. Auch Jonas wurde nie heimisch auf dem Land. Er war ein Kind der Stadt und blieb hier im Dorf ein Fremder, der die geheimnisvollen Regeln des Zusammenlebens nie vollkommen durchschaute. Er hatte allerdings seine Arbeit in der City und wurde sich deshalb seiner Diaspora nie ganz bewusst. Er verlor in dieser Zeit allerdings alle seine Freunde. Die räumliche Entfernung war zwar nicht allzu groß, erzeugte aber emotionale Ferne. Schließlich kam die Trennung. Katharina zog zurück in die Stadt und nahm dort ihr altes Leben wieder auf. Man konnte es Bequemlichkeit nennen oder die Angst vor einer weiteren Veränderung. Jonas blieb jedenfalls im gemeinsamen Haus wohnen, das noch lang nicht abgezahlt war. Jonas verstand dies immer als einen besonders boshaften Einfall des Schicksals. Von allen gesellschaftlichen Kontakten, die seine Freundin aufgebaut hatte, war ihm bis heute einzig die Mitgliedschaft im Bouleclub erhalten geblieben. Es war ein Sonntagsvergnügen, das er nur selten versäumte.
Jonas ging zum Sportplatz herunter, an dessen hinteren Ende in der Nähe des Dorfweihers die gepflegte Boule-Anlage errichtet worden war. Von Weitem sah er, dass die anderen schon mitten im Wettkampf waren. Sie trugen ihre roten Vereins-T-Shirts. Um zu ihnen zu gelangen, musste er nur noch die Straße queren, dann ein Stück am Zaun des Fußballplatzes entlang laufen, auf dem die Alt-Herren-Mannschaft des örtlichen TSV übte.
»Willst du dich nicht setzen?«
Jonas bemerkte den Graubart erst, als dieser ihn mit seiner rauen, dünnen Stimme ansprach. ‚Merkwürdig’, dachte er, ‚der Mann sitzt auf einer der Zuschauerbänke des Fußballfeldes, hat dem Rasen jedoch den Rücken zugekehrt und seine ausgestreckten Beine ragen fast einen halben Meter in den Fußweg. Aber bis er mich ansprach, habe ich ihn, überhaupt nicht wahrgenommen.’
Jonas war, als hätte sich der Graubart erst materialisiert, als er an der Bank vorbeiging und prompt den auf dem Kies ruhenden Füßen ausweichen musste. Er hatte dabei den Eindruck, dass etwas völlig falsch war - so, als würde sich eine Folie mit einem Matte-Painting über die Realität schieben und sie verfremden. Der ältere Mann tauchte aus dem Nichts wie ein Deus ex Machina auf. Und seltsam! Jonas war in diesem Moment sicher, er würde den Graubart zum ersten Mal in seinem Leben sehen. Ihm war vollkommen entfallen, dass sie erst am Vortag im Café ein paar Worte gewechselt hatten. Er sah ihn zum ersten Mal in seinem Leben, als würde dieser verkehrt herum in der Zeit leben und ihre Begegnung wäre tatsächlich ihre erste. So grotesk das klang, würde es doch erklären, warum ihm der Graubart am Samstagmorgen so bekannt vorgekommen war. Die Erinnerung an ihn war ein Déjà Vu durch einen rückwärts gerichteten Zeitstrahl.
Jonas stutzte, sah kurz zu den Boulespielern am Ende des Platzes. Obwohl die Kaffeetanten unter ihnen sicherlich verzweifelt auf ihn warteten, waren sie vollkommen in ihr Spiel vertieft und hatten ihn noch nicht bemerkt. Graubart beschattete die Augen mit der Hand und folgte seinem Blick.
»Die laufen dir nicht davon.« Er klopfte mit der anderen Hand auf den Platz neben sich. Bevor Jonas richtig bewusst wurde, was er tat, stellte er seinen Korb und seine Boule-Kugeln ab und setzte sich neben Graubart.
»Kennen wir uns?«, fragte er und spähte weiter zu seinen Sportfreunden hinüber. Irrte er sich oder bewegten sie sich nun langsamer? Auch die Fußballer in seinem Rücken schienen sich noch behäbiger den Ball zuzukicken. Er zuckte mit den Schultern. Es erschien ihm mit einem Mal völlig normal, neben dem Graubart zu sitzen und dabei zuzusehen, wie die Mitglieder des Boulefreunde e.V. in Zeitlupe die Kugeln warfen oder rollten. Sie bewegten sich tatsächlich so langsam, als müssten sie ein dichtes, zähflüssiges Medium durchdringen. Nun, es war ein warmer Sommernachmittag und er schien sich so endlos vor Jonas auszudehnen, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr kannte. Eine Taube segelte bedächtig über die Wiese. Er hatte keine Schwierigkeiten, ihrem Flug mit dem Kopf zu folgen. Jonas musterte nun neugierig Graubart, der ihm in diesem Moment völlig neu und unbekannt war. Weshalb hatte er eigentlich neben ihm auf der Bank Platz genommen? Was war das überhaupt für ein Mann? Er musterte ihn.
Während er nun am Montagmorgen aufrecht im Bett saß und sich über den schmerzenden Rücken wunderte, konnte er sich an den Samstag erinnern, der ihm ja gestern noch entfallen war. Dadurch war er in der Lage, den merkwürdigen Mann vom Sportplatz mit dem zu vergleichen, dem er im Café begegnet war. Graubart wirkte am Sonntag nicht wie ein Penner, sondern wie ein älterer, wohlgenährter Geschäftsmann. Das lag vor allem daran, dass er seinen schäbigen Mantel achtlos neben sich ins Gras geworfen hatte. Nun trug er zu seinem eleganten, maßgeschneiderten Anzug schwarz glänzende, italienische Schuhe. Sie waren kaum durch den Staub des Kieswegs beschmutzt. Vielleicht wirkte er deshalb viel vertrauenerweckender auf Jonas als am Samstag. Neu war eine kleine Narbe an der Stirn, die ihm im Café nicht aufgefallen war.
»Oh, du hast Kaffee dabei, Ambakoum. Schenk mir doch eine Tasse ein, dann fällt es mir leichter, dir meine Geschichte zu erzählen.« Jonas wunderte sich über die Anrede und das Ansinnen, aber er holte gehorsam die Thermoskanne und eine Tasse aus dem Korb und schenkte sie für Graubart voll, der sie vorsichtig in die Hände nahm. Er führte sie mit einem Ausdruck der Freude an die Nase, um den Kaffeeduft zu riechen. Jonas wollte nach dem Milchfläschchen greifen, aber der Graubart winkte ab.
»Jetzt lass uns nicht länger zögern. Wir könnten gestört werden. Das Solstitium naht und du bist noch nicht der Frau begegnet.« Trotz dieser mysteriösen Ankündigung zögerte der Mann. Er sah kurz zu Jonas hinüber. Dann kniff er begütigend die Augen zusammen, lächelte wohlwollend und breit. Er sah endgültig wie ein Märchenonkel aus einer Kindersendung aus.
»Ich würde gerne damit beginnen, dir von der geschmack- und ruhevollen Ausgewogenheit und Symmetrie dieses Renaissancebauwerkes vorzuschwärmen, vor dem wir sitzen. Es ist eine Perle im Schatzkästlein unserer Altstadt. Aber ich sehe es an deinem verständnislosen Blick. Ich muss es mir für später aufheben, wenn dir auch deine Augen zeigen, was ich bereits in diesem Moment sehe. Vergiss aber nicht: Die Front des Gebäudes ist ein Sinnbild für den ganzen Text, wie er vor dir liegt.« Graubart seufzte. »Manches kann man nicht erklären, weil es zu einfach ist, um verstanden zu werden. Aber ich wollte von mir erzählen.«