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1. Faktencheck: Glaube heute

Woran glaubst du? Diese Frage kann die Stimmung an einem gemütlichen Abend unter Umständen ganz schön runterreißen. In Freundes- und Familienkreisen scheint es heute kaum eine intimere und tabuisierte zu geben als eben diese: Wie hältst du’s mit der Religion?

Die Gretchenfrage ist umweht von massiver Sprachlosigkeit und auch von erstaunlich großer Scham. Die „Zeit“-Journalistin Verena Friederike Hasel schrieb in einem Leitartikel zum Thema „Glaube in Deutschland“ mal sehr treffend: „Jemanden zu fragen, wie er sich das Jenseits vorstellt, ist etwa so, als würde man sich erkundigen, ob er regelmäßig masturbiert.“1

Ein Aha-Erlebnis war für mich in diesem Zusammenhang eine Sendung der Talkshow „Kölner Treff“ mit Bettina Böttinger im WDR-Fernsehen, die ich gerne schaue. Darin war die Autorin Husch Josten zu Gast, die einen Literaturpreis für ihren Roman über den Glauben erhalten hatte. Das Buch hieß „Land sehen“ und wurde im Internet beworben mit den Sätzen: „Du kannst nicht vielleicht glauben. Du tust es. Oder eben nicht.“ Im Zuge des Talks mit dieser Autorin stellte Bettina Böttinger die Frage in die Runde ihrer Gäste: „Woran glaubst du?“ Bei den darauffolgenden Antworten war ich echt fassungslos. Die bekannte Sängerin Sarah Connor zum Beispiel, eigentlich eine toughe und weltgewandte Frau, fabulierte, dass sie „an das Universum glaube, an Energien“; ja, und sie glaube „an die Grundwerte“. Applaus des Publikums. Ein Schauspieler meinte: „Ich glaube an gar nichts.“ Und auf Rückfrage dann: „Ich glaube an mich.“ Applaus des Publikums.

Geht’s eigentlich noch? Da sitzen sehr eloquente Persönlichkeiten, die ihre eigenen Projekte höchst professionell, spannend und sympathisch schildern können. Und bei der Frage nach dem Glauben setzt es dann auf einmal bei ihnen aus. Die Autorin Josten antwortete selbst übrigens: „Ich glaube an Gott. Ich bin katholische Christin.“ Prompt kam die Nachfrage der Moderatorin: „Kann man das noch so sagen, ohne das Thema Missbrauch zu nennen?“ – Antwort der Autorin: „Ja.“ Punkt! Kein Applaus des Publikums.

Für mich wird hiermit die stimmungsmäßige „Großwetterlage“ zum Thema Glauben sehr gut eingefangen. Viele empirische Studien belegen auch, dass der Glaube an christliche Grundelemente wie die Schöpfung der Welt durch Gott, die Gottessohnschaft und Mittlerschaft von Jesus Christus oder die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten und ein paradiesisches „Jenseits“ schwindet und mehr und mehr verdunstet.2 Das „alte Europa“ hat seinen christlichen Glauben verloren oder ist kurz davor.

Glaube ist eine Sache zwischen dir und Gott. Und zwar eine Sache des Vertrauens.

Kirche und Glaube

Allerdings bedeutet das nicht, was vielfach schon beschrieben wurde, dass das Thema „Religion“ generell von der Bildfläche verschwindet. Da sind zum einen die Präsenz und die Sichtbarkeit der Religion des Islam zu beobachten und zum anderen gibt es einen gewissen Trend zu einer „entkirchlichten Spiritualität“, den einige „Patchwork-Religiosität“ nennen. Wie man es nun dreht und wendet: Die christliche Religion, die in unseren Breiten ja immer auch ihre kirchliche Ausdrucksform mit einschloss, steckt in einer tiefen Krise. Und während bei der Frage „Woran glaubst du?“ eher herumgedruckst wird, sind die Antworten auf die Frage „Wie hältst du‘s mit der Kirche“ mittlerweile ziemlich eindeutig und fallen recht auskunftsfreudig aus.

In meinem Kontext ist mit Kirche ja fast immer die katholische Kirche gemeint. Die Meinungen zu ihr sind oft gepfeffert: komisch, uncool, altmodisch, undemokratisch, frauenfeindlich, homophob, regiert von alten Männern. Wobei das noch die harmloseren Aussagen sind. Wenn es um das Thema „Missbrauch in der Kirche“ geht, fliegen verbal schon ganz schön die Fetzen.

Wie emotional das Thema besetzt ist, habe ich selbst auch schon mal am eigenen Leib erfahren: Vor einigen Jahren war ich spätabends mit einigen Priesterkollegen in der Innenstadt von Münster unterwegs. Wir kamen von einem eher förmlichen Abendessen und trugen alle die schwarze Priesterkleidung. Als wir dann einer Gruppe schon etwas alkoholisierter Männer begegneten, pöbelten diese uns direkt an und beschimpften uns mit der Parole: „Ihr seid doch alle pädophil!“

Dieser verbale Schlag ins Gesicht hatte gesessen. Und mir ist da ein für alle Mal deutlich geworden: Das Thema Missbrauch ist eine klaffende Wunde in meiner Kirche. Wenn wir hier nicht in der Aufarbeitung, Prävention und „Heilung der Wunden“ weiterkommen, dann ist die Kirche nicht mehr zu retten. Denn sonst ist all ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Wen wundert es da noch, dass viele Medien angesichts der Geschehnisse in Köln mittlerweile die Grundsatzfrage stellen: „Ist die Kirche noch zu retten?“ Oder sie – so wie der „Spiegel“ – das Bodenpersonal der Kirche als „Gottes ignorante Diener“3 bezeichnen.

Fakt ist: 2019 sind knapp 273.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten, 2020 schon wieder weit über 200.000. Auch die evangelische Kirche verzeichnet hohe Austrittszahlen. Die Gründe für die Austritte sind verschieden.4 Jahrelange Entfremdung, die finanzielle Seite der Frage wegen der Kirchensteuer und ein fehlender Bezug zu einer ansprechenden Gemeinde oder attraktiven kirchlichen Angeboten spielen sicher eine wichtige Rolle; auch die schon benannte allgemeine Glaubensverdunstung. Ein weiterer wichtiger Faktor ist zudem der Vertrauensverlust. Laut einer „Spiegel“-Umfrage vom Mai 2021 halten 57 Prozent der Katholiken ihre Kirche für wenig oder gar nicht vertrauenswürdig, bei den ehemaligen Katholiken sind es sogar 91 Prozent.

Die Frage wird daher drängender: Brauchen wir die Kirche noch?

Die Covid-19-Pandemie hat diese Frage zusätzlich weiter angeschärft: Im vielleicht größten Menschheitsdrama nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele die Kirche und ihre Amtsträger als unsichtbar und unbedeutend erlebt. Dabei sind wir doch eigentlich die Experten für die existenziellen Fragen des Lebens, wenn es um Leiden, Trauer und Tod geht.

Beim Thema Kirchenaustritt haben die Erschütterungen längst auch mein privates Umfeld erreicht. Ein guter Seismograf ist mir da meine Jugendclique aus dem Ruhrgebiet. Immer kurz nach Weihnachten treffe ich mich mit drei anderen Jungs von früher in der Heimat. Während wir an den Festtagen 2018 noch alle katholisch waren, stand ich ein Jahr später auf einmal als einziger Katholik da: Zwei waren mittlerweile ausgetreten und einer war zur evangelischen Kirche konvertiert. Ich möchte es mir lieber nicht ausmalen, wie es ganz generell in meinem Abi-Jahrgang (2000) aussieht: Wie viele der rund 100 Personen, die heute alle so um die 40 Jahre alt sind, mögen wohl noch Kirchenmitglieder sein?

Glaube und Tun

Der große Vertrauensverlust der Kirche beeinflusst auch die Frage nach dem Glauben. Denn für viele Menschen hängt die Hinwendung oder Abkehr vom christlichen Glauben eng zusammen mit dem, was die Kirche tut, sagt oder lässt. Ist oder erscheint das Tun und Sagen der Kirche in gewissen Bereichen unglaubwürdig oder doppelbödig, wachsen die Zweifel, ob der Glaubensbotschaft der Kirche zu trauen ist. Jeder Skandal in der Kirche rund um Geld, Sex oder Macht wirft für viele „normale Gläubige“ einen Schatten auf die kirchliche Verkündigung. Wenn sich bestimmte Gruppen von Menschen von der Kirche zurückgesetzt und ungerecht behandelt oder von Wortmeldungen von kirchlichen Vertretern oder von „Rom“ gar beleidigt fühlen, dann stellt sich für viele die Frage, wie das mit dem hoffnungsfrohen, barmherzigen und wahrhaft inklusiven Evangelium zusammenzubringen ist. Hier entstehen Risse und Wunden, die nicht so leicht zu kitten und zu heilen sind.

Der aktuelle Zustand der Kirche schadet demnach auch der christlichen Botschaft. Das tut mir sehr weh. Denn ich halte das Evangelium und insbesondere die Person und das Lebensschicksal von Jesus Christus für absolut überzeugend und vertrauenswürdig. Dieser Jesus ist wie ein Licht und aus meiner Sicht ist es die Aufgabe der Kirche, diesem Licht zum Strahlen zu verhelfen. Ganz im Sinne der ermutigenden Worte aus der Bergpredigt: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben […]. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Matthäus 5,14ff).

Mit diesen Worten benennt Jesus ganz klar: Erfahren die Menschen bei den Christen und der Kirche etwas vom göttlichen Licht und erkennen deren gute Taten, dann wird auch ein Weg zu Gott und zum Lobpreis Gottes geöffnet. Daher ist es so schmerzhaft, wenn viele Menschen – oft zu Recht – den Eindruck haben, dass die Kirche das Licht Christi eher hinter kalten Paragrafen und „gnadenlosen“ Kategorisierungen und Entscheidungen dimmt oder nahezu auslöscht. Dabei will die Kirche doch auch laut eigenem Bekunden einen gnädigen und liebenden Gott verkünden. Nur leider wirkt sie oft wie die Verkünderin eines großen Neins statt eines bedingungslosen Jas.

Das persönliche Wagnis

Für mich ergeben sich daraus zwei Folgerungen: Zum einen geht es darum, die Spannung und die Unterschiede zwischen „der“ Kirche und dem persönlichen Glauben auszuhalten und einen gewissen Spagat zu wagen. Ich weiß, es gibt keine hundertprozentige Deckungsgleichheit zwischen meiner Vorstellung vom Evangelium, meinen Glaubensidealen und der real existierenden Kirche und übrigens auch meines konkreten Versuchs, den Glauben zu leben und Kirche zu gestalten. Ich plädiere daher dafür, nicht nur zu dekonstruieren und nur das Schlechte zu sehen, sondern auch positiv Kirche zu konstruieren, mitzuprägen und trotz allem Leiden an der Kirche und aller Abgründe die Verbindung zu halten und vielleicht sogar die Kirche neu schätzen und lieben zu lernen.

Zum christlichen Glauben gehört immer auch die Gemeinschaft, die Vernetzung von Vergangenheit und Zukunft, das größere Ganze. Ohne tragende Glaubensgemeinschaft, also ohne Kirche, ist eine beständige christliche Existenz für mich kaum oder gar nicht denkbar. Daher habe ich die Kirche noch nicht aufgegeben und möchte vor allem in Kapitel 9 zeigen, wie man in der Kirche Gott „livehaftig“ erfahren kann. Ich bin überzeugt, jeder und jede kann einen Platz in der Kirche finden.

Zum anderen scheint es aber zugleich Gebot der Stunde zu sein, der ganz persönlichen, individuellen Ebene des Glaubens große Aufmerksamkeit zu schenken – weg von den Negativmeldungen über Kirche und ihre Vertreter und weg von bloßen allgemeingesellschaftlichen Trends.

Der Glaube richtet sich zunächst an das Du, an das konkrete und persönliche Du. Und damit sind wir wieder bei der Frage vom Anfang des Kapitels: Woran glaubst du?

Glaube ist eine Sache zwischen dir und Gott. Und zwar eine Sache des Vertrauens. Kannst du dich von Jesus, von seinem Evangelium, vom Licht des Glaubens angesprochen fühlen? Lösen die Worte Jesu, die Hoffnung des Glaubens eine Resonanz in dir aus? Dazu möchte ich in den folgenden Kapiteln meine zentralen Gedanken mitteilen und aufzeigen, inwiefern Glaube bedeutet, das Wagnis Vertrauen einzugehen.

Eine Sache des Vertrauens

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