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2. Glaube bedeutet Vertrauen

Nicht nur die Kirche und viele christliche Gemeinschaften haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und leiden unter Vertrauensverlust. Auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen gerät etwas ins Wanken. Werden sie durch Skandale erschüttert, gelten sie daraufhin als wenig vertrauenswürdig. Das betrifft politische Parteien genauso wie Interessensverbände, Automobilkonzerne, Sportvereine, und zwar nicht nur den DFB, bis hin zu kleinen Ortsgruppen. Denkt man daran, kommen einem eigene Bilder aus der Vergangenheit und entsprechende Skandale in den Kopf. Doch die damit schnell verbundene Einsicht „auch andere haben viel Dreck am Stecken“ macht selbstverständlich das Tun und Lassen der Kirche nicht besser. Der Blick auf „die anderen“ ist mir an dieser Stelle nur wichtig für die Gesamteinordnung, um zu verdeutlichen, wie ausschlaggebend Glaubwürdigkeit und wie fatal ein Vertrauensverlust für eine Gemeinschaft oder Gruppe sind.

In unserem Alltag wissen wir aus eigener Erfahrung: Werte wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Verantwortung und Treue können in unseren Beziehungen enttäuscht werden. Wir erleben Beziehungen, Cliquen, Partnerschaften und Ehen als zerbrechlich. Für Liebe und Freundschaft gilt so gesehen auch das treffende Bild, das der Apostel Paulus in der Bibel für den Glauben benutzt. Nämlich dass wir diesen Schatz in „zerbrechlichen Gefäßen“ tragen (vgl. 2. Korinther 4,7). Es handelt sich um fragile und daher um besonders schützenswerte Güter. Wohl gerade deshalb ist da bei vielen, insbesondere bei jungen Menschen, eine große Sehnsucht nach Klarheit, verlässlichen Haltungen und Werten. In Umfragen werden regelmäßig Familie und Freunde als die beiden wichtigsten Werte für das Leben angegeben.

Nach Ansicht einiger Zukunftsforscher ist die Familie sogar die neue Glaubensgemeinschaft der Deutschen: Die Menschen könnten einfach nicht anders, als im Leben an etwas Unangreifbares zu glauben, um den Halt und Sinn des Lebens nicht zu verlieren; daher „glaubten“ sie vor allem an die Familie, weil sie ohne das Gefühl der Geborgenheit nicht leben könnten.5 Gerade in der letzten Zeit, insbesondere verstärkt nach den Erfahrungen in der Coronapandemie, werden vor allem von Psychologen und Soziologen gute Freunde und tragende Freundschaften als noch zentraler als die Familie angesehen. Und wissenschaftliche Studien zeigten immer wieder, dass sich Beziehungen positiv auf Körper und Seele auswirken würden. Wer von guten Freunden umgeben sei, habe sogar eine höhere Lebenserwartung.6 Der Psychologe und „Freundschaftsforscher“ Wolfgang Krüger stellt dazu fest: „Herzensfreundschaften dauern länger als viele Ehen.“ Und weiter: „Wir brauchen Freundschaften quasi als den Ort einer großen Verlässlichkeit im Leben.“7 Das alte Lied der Comedian Harmonists „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt“ hat demnach nichts von seiner Gültigkeit verloren.8

Glauben heißt, sich auf etwas zunächst Unbekanntes einzulassen

Ein Zeitalter des Vertrauens?

Die Bedeutung und Wertschätzung von Freundschaft und Familie lassen sich wohl auch einordnen in eine aktuelle Großwetterlage, in der in vielen Kontexten der Slogan vertreten wird: „Wir brauchen wieder mehr Werte.“ Man spricht von den „Werten Europas“ oder einer „Werte-Gemeinschaft“. Einiges deutet darauf hin, dass dieser Trend – man erfährt vielfältigen Vertrauensverlust und sehnt sich gleichzeitig nach Halt, Werten und Stabilität – sich durch die Coronapandemie weiter verstärkt. Die Krise hat vieles, was schon unterschwellig da war, sichtbarer gemacht und wie unter einer Lupe vergrößert. Vielleicht hast du in den Monaten des Lockdowns auch innegehalten sowie klarer gesehen und stärker gespürt, was du wirklich brauchst und im Leben vermisst. So ein Blick richtet sich schnell auf zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Phänomene: Auf wen konnte ich mich in der Krise verlassen? Wer oder was gibt mir Hoffnung? Wie möchte ich zukünftig mein Leben gestalten?

Optimistische Zukunftsforscher wie der medial viel zitierte und interviewte Matthias Horx sind jedenfalls davon überzeugt, dass eine neue soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit entstehe, dadurch dass sich unsere Wahrnehmung in der Krise verändert habe.9 Es könnte ein neues Zeitalter beginnen, in dem Vertrauen und das Spüren von tragenden Verbindungen eine noch größere Rolle spielen.

Allerdings wird der Übergang in dieses „Neue“ nicht leicht. Viele sind durch die Erfahrungen der Pandemie ängstlich geworden, haben psychische Schwierigkeiten oder leben in einer – auch materiell – unsicheren Lebenssituation. Wie also fassen wir Mut, uns auf etwas Neues einzulassen? Ob wir da vom Glauben lernen können?

Glaube heißt doch, sich trotz aller Umstände auf etwas Unbekanntes einzulassen, Neuland zu betreten. Oder mit den schönen Worten aus dem Hebräerbrief der Bibel gesprochen: „Der Glaube ist der tragende Grund für das, was man hofft: Im Vertrauen zeigt sich jetzt schon, was man noch nicht sieht“ (11,1; Hfa). Glaube bedeutet also: hoffen und vertrauen.

Ich mag den Satz der deutschen Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006) sehr: „Ich setzte den Fuß in die Luft, / und sie trug.“10 Einen Schritt muss ich zunächst selbst unternehmen, setzen und mich vertrauensvoll vorwagen – so kann ich erfahren, dass tatsächlich ein neuer Weg entsteht, der mich und mein Leben trägt.

Die Sache mit dem Blick

An das Bild vom Schritt in die Luft muss ich auch immer denken, wenn ich die Berufungserzählungen aus den Evangelien lese. Da sind Männer und Frauen, die an einem bestimmten Punkt ihres Lebens auf Jesus von Nazareth treffen, von ihm angeschaut und angesprochen werden, und die sich dann auf ihn einlassen und ein neues Leben beginnen. Was hat sie dazu getrieben? Wie konnten sie einfach so aufbrechen in etwas Neues? Woher haben sie die Kraft und den Mut genommen?

Es hat mit der Faszination an der Person Jesu zu tun. Dem Gefühl, diesem Mann und seiner Botschaft der anbrechenden neuen Welt Gottes intuitiv trauen zu können. Meist fing alles damit an, dass sie gesehen, ja angesehen wurden. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu fühlten sich von seinem aufmerksamen, liebevollen, aber auch herausfordernden Blick wahrgenommen. Und sie ahnten: Da ist noch eine andere Welt, ein anderer Horizont, der sich meinem Leben öffnet. Neue, bisher ungeahnte Perspektiven, die locken.

Die Bibel beschreibt diesen Blickkontakt mehr als einmal: Jesus „sah“ Simon (Petrus) und Andreas, die auf dem See die Netze auswarfen, ebenso „sah“ er Jakobus und Johannes im Boot sitzen (vgl. Markus 1,16–20). An anderer Stelle, im Johannesevangelium, führt Andreas seinen Bruder Simon zu Jesus und dort wird berichtet: „Jesus blickte ihn an und sagte: ‚Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das bedeutet: Petrus, Fels‘“ (Johannes 1,42).

Durch die Sache mit dem Blick kommt alles ins Rollen. Wir wissen nicht genau, in welcher konkreten Lebenssituation Jesus diese Männer „erwischt“ hat. War ihr Leben in Ordnung? Hatten sie gerade Probleme? Bestand schon ein Draht zu Gott? Es ist reizvoll, diese „Leerstellen“ mit fiktiven Bildern und Szenen zu füllen. So geschieht es beispielsweise in der aktuellen Film-Serie über das Leben Jesu „The Chosen – der Auserwählte“. Hier wird die Situation des Simon Petrus beim ersten Blick Jesu auf ihn, beim ersten Angeschaut-Werden, folgendermaßen dargestellt: ein Mann an dem Tiefpunkt seines Lebens. Die Netze des Fischers vom See bleiben oft leer, seine Steuerschuld ist erdrückend, in der Ehe kriselt es. Er ist am Boden zerstört. Da begegnet ihm Jesus und fordert ihn auf, ihm zu folgen. Trotz anfänglichen Misstrauens lässt er alles stehen und liegen und schließt sich dem zunächst unbekannten Mann an.11

Neben dem Sehen spielt in anderen Berufungserzählungen auch das Hören eine wichtige Rolle. Paulus „hört“ eine Stimme, die sich als die Stimme Jesu zu erkennen gibt: „Auf seiner Reise nach Damaskus, kurz vor der Stadt, umgab Saulus plötzlich ein blendendes Licht vom Himmel. Er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme: ‚Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‘ ‚Wer bist du, Herr?‘, fragte Saulus. ‚Ich bin Jesus, den du verfolgst!‘, antwortete die Stimme. ‚Steh auf und geh in die Stadt. Dort wird man dir sagen, was du tun sollst‘“ (Apostelgeschichte 9,3–6).

Klarkommen, aufleben, loslegen

In der Begegnung mit Jesus (sehend wie hörend) entsteht – zunächst wohl recht spontan und eben intuitiv – eine neue Vision für das Leben. Und mit dieser Vision im Herzen wagen einige den Sprung nach vorne, den Sprung ins Vertrauen, dass diese Lebensvision trägt und eine erfüllende Zukunft verheißt.

Zum Glauben und Vertrauen gehören also auch Sinneserfahrungen. Es geht darum, gut hinzuhören und hinzuschauen und sich anschauen zu lassen. Leider hören wir heute häufig nicht mehr richtig (zu); wir hören zwar Musik, aber oft als Berieselung und alleine mit unseren „Ego-Tunneln“ (Kopfhörern). Oder wir sehen nicht mehr richtig hin: Wir sind schnell unterwegs und achten mehr auf das Machen eines Fotos oder Selfies, aber verweilen nicht an Ort und Stelle und lassen die Umgebung auf uns wirken. Steckt hinter der Glaubenskrise also auch eine Krise der Sinne? Ich glaube, da ist etwas dran.

Besser wahrnehmen und verstehen, was wir eigentlich brauchen und was unserem Leben (noch) fehlt, was wir vermissen – das ist die Initialzündung für jeden Schritt nach vorne, für den Eintritt in eine neue Lebensphase. Und oft steht eine Begegnung am Beginn eines solchen Erkenntnisprozesses. Bei den biblischen Jüngern war es die mit Jesus von Nazareth. Die Folge: In ihrem Innern entsteht auf einmal ein großer Freiraum. Sie stellen sich ihren Fragen und Themen. Vielleicht mag es dann zunächst etwas chaotisch in ihnen zugegangen sein. Aber das ängstigt sie nicht. Sie wissen: Jedes Chaos will ein Anfang sein. Durch die Begegnung mit Jesus erleben sie eine Inspiration. Sie lernen kreativ und originell mit neuen Augen und mit Gott auf ihr Leben zu blicken. Und schließlich treffen sie Entscheidungen: Sie finden Mut, souverän anzugehen, was vor ihnen liegt.

Ein befreundeter Jesuitenpater, der viele junge Menschen bei Entscheidungsfindungen begleitet, drückt diesen Prozess in einem Dreiklang aus: Klarkommen. Aufleben. Loslegen.

Glauben heißt, sich auf etwas zunächst Unbekanntes einzulassen, Vertrauen zu wagen. Klar ist aber auch, dass es bei diesem Weg, vielleicht schon ganz zu Beginn, Hindernisse gibt. Da sind Blockaden in mir und von außen. Da können Ängste aufsteigen, die mit meiner bisherigen Lebensgeschichte und gewissen Lebenserfahrungen zu tun haben, aber auch diffuse Ängste, die ich gar nicht so leicht zuordnen kann. Ein wenig vergleichbar ist das mit dem Prozess, sich auf einen anderen Menschen ganz und gar einzulassen, ihm Vertrauen zu schenken. Auch da gilt es oft, Hindernisse zu überwinden und sich zu trauen, Ja zum Gegenüber zu sagen. Ein „klassisches“ Beispiel für solche Ängste und Hindernisse wäre vielleicht der Mann, der als kleiner Junge in der Schule als Dickerchen gehänselt worden ist, und nun – trotz Waschbrettbauch – immer noch schambehaftet hofft, dass er selbst genug ist für die Beziehung mit seiner Freundin, dass er „reicht“.

Für den eigenen Glaubensweg jedenfalls hilft es, sich zu fragen: Welcher Beziehungs- oder Bindungstyp bin ich eigentlich? Eher abwartend und unsicher oder eher extrovertiert und neugierig auf Neues? Und welche Hindernisse muss ich überwinden, um den Glauben zu entdecken und Gott Vertrauen zu schenken? – Darum soll es im nächsten Kapitel gehen.

Eine Sache des Vertrauens

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