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Die Ursprünge des Wanderns
ОглавлениеWandern kann man natürlich nicht nur in den Bergen, sondern auch im Wald oder sogar in der Stadt. Aber was ist genau eigentlich Wandern? Im Duden steht: »ohne ein Ziel anzusteuern, gemächlich gehen«. Unsere Vorfahren kannten daher das, was wir heute als Wandern bezeichnen, gar nicht. In der Steinzeit sind die Menschen durchaus mit Tierfellen bekleidet durch die Gegend gezogen, aber sie waren unterwegs, um zu jagen – ja, um zu überleben.
Wandern – also Kilometer um Kilometer zu laufen aus purer Freude an der Bewegung – war anfangs nicht das Ziel der Menschen. Vielmehr legten sie große Distanzen zu Fuß zurück, weil es zunächst keine anderen Verkehrsmittel gab. Mit der Zeit wurden andere Fortbewegungsmittel erfunden wie zum Beispiel Pferdekutschen, die sich aber längst nicht jeder leisten konnte, ab dem 19. Jahrhundert die Eisenbahn sowie später Autos, Fahrräder und Flugzeuge. Arme Menschen, aber auch Handwerker und Händler, waren über Jahrtausende vornehmlich zu Fuß unterwegs.
Im Mittelalter wanderten vor allem Angehörige dieser beiden Berufsgruppen, die meisten anderen Menschen führten kein sonderlich mobiles Leben, sondern verbrachten in der Regel ihr Leben am selben Ort. Die Händler zogen von Siedlung zu Siedlung, um ihre Waren zu verkaufen und neue zu beschaffen. Handwerker wiederum sollten bei ihren obligatorischen Gesellenwanderungen Land und Leute kennenlernen, sich neue Techniken aneignen und vor allem Erfahrungen sammeln. Walz oder Wanderjahre nannte man diese Zeit der Wanderschaft zukünftiger Gesellen nach dem Abschluss ihrer Lehrjahre. Etwa vom Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung waren diese Jahre Voraussetzung für die Meisterprüfung. Heute noch sind Zimmerleute, erkennbar an ihren schwarzen Cordschlaghosen, nach ihrer Ausbildung häufig einige Jahre unterwegs. Ein Handwerker, der sich auf dieser traditionellen Wanderschaft befindet, wird als ›Fremdgeschriebener‹ oder schlicht ›Fremder‹ bezeichnet.
Bis heute gehen Zimmerleute auf die Walz, die seit 2015 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO zählt. Das Foto zeigt zwei reisende Handwerker in Erfurt 1990.
Mobilität war im Mittelalter bestimmten Berufsgruppen vorbehalten. Doch auch fliegende Händler und Spielleute mussten in der Regel ohne Fahrzeuge auskommen, also zu Fuß unterwegs sein. Letztere waren oft für Unterhaltung am Hofe zuständig, verbreiteten aber auch Neuigkeiten. In gehobenen Kreisen gab es zudem die sogenannten Scholare. Das waren Gelehrte, die mit einer ausgewählten Gruppe von Studenten von Universität zu Universität wanderten, um ihren geistigen Horizont zu erweitern.
Wenn überhaupt, waren die Menschen also unterwegs, weil sie unterwegs sein mussten. Wandern als pure Freizeitbeschäftigung gab es damals noch nicht. Der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304–1374) sowie sein Bruder Gherardo gelten in der Geschichte als die Begründer des Wanderns. Sie bestiegen im Jahr 1336 den Mont Ventoux und erreichten eine Höhe von 1900 Metern. Seine Erlebnisse schilderte Petrarca in einem Brief, der unter dem Titel »Die Besteigung des Mont Ventoux« berühmt wurde.
Petrarca wird nachgesagt, als Erster einen Berg aus purer Neugierde erklommen zu haben. Er wollte die Welt von oben betrachten. Das Bedürfnis, die Welt zu erkunden, kam in der Zeit der Renaissance auf. Man wanderte also nicht mehr ausschließlich aus Notwendigkeit, sondern immer mehr Wanderer waren auf einmal von Entdeckergeist getrieben.
Erst in der Epoche der Romantik (etwa 1795–1848) entstand allerdings das Wandern in der Form, wie wir es heute kennen. Wandern, um die Landschaft, die Luft und die Einsamkeit der Natur zu genießen und zu Fuß gehend zu sich selbst zu finden, wurde erstmals ein Mittel, um dem Alltag zu entfliehen und Verbundenheit mit der Natur zu spüren – ein Bedürfnis, das typisch war für diese Epoche. Wandern hatte damit plötzlich einen ganz neuen Charakter. Es wurde zum Gehen um des Gehens willen – ohne Ziel.
1895 gründete sich in Wien die Bewegung der Naturfreunde. Sie öffnete das Freizeitwandern für die proletarische Schicht. Die Naturfreunde hatten eine starke sozialistische Prägung, sie wollten das Wandern jedem ermöglichen. Sie errichteten flächendeckend Naturfreundehäuser, in denen Wanderer billig übernachten und Urlaub machen konnten. Seit ihrer Gründung haben sie mehr als 700 solcher Naturfreundehäuser errichtet, in Deutschland existieren etwa 400. Auch heute noch sind die Naturfreunde Deutschlands laut ihrer Vereinssatzung ein sozial-ökologischer und gesellschaftspolitisch aktiver Verband, der sich für Umweltschutz, sanften Tourismus sowie Sport und Kultur einsetzt. Mehr als 66 000 Mitglieder engagieren sich in 550 Ortsgruppen für Nachhaltigkeit und die Umwelt. Weltweit sind rund 350 000 Naturfreunde im Einsatz. Die Naturfreunde haben ebenso wie die Wander- und Alpenvereine das Wandern in die breite Bevölkerung getragen.
Richtig populär wurde das Wandern, nachdem der Berliner Student Hermann Hoffmann-Fölkersamb (1875–1955) 1896 eine Wandergruppe für Jugendliche gegründet hatte, mit denen er Ausflüge in die nähere Umgebung unternahm. Das war für die damalige Zeit ein Novum, denn eigentlich hatten Jugendliche aus der Bürgerschicht im wilhelminischen Kaiserreich kein eigenes Freizeitprogramm. Sie blieben in der Familie, gemeinsame Ausflüge mit Freunden etwa kannten Schüler damals nicht, und Mädchen erst recht nicht.
Zur Wandergruppe von Hoffmann-Fölkersamb gehörten daher zunächst nur Jungen. Der Jurist und Diplomat gilt als Begründer der legendären Wandervogel-Bewegung. Sein Nachfolger Karl Fischer gründete 1901 den Verein »Wandervogel – Ausschuss für Schülerfahrten«, der bald in anderen Städten Nachahmer fand.
Das Wandern wurde damit erstmals politisch: Es war auch ein Mittel, um sich vom Elternhaus zu emanzipieren, um Freiheit zu erlangen und eigene Wege zu gehen. Die jungen Wanderer kleideten sich bewusst leger und schliefen in Zelten unter freiem Himmel. Es ging ihnen aber nicht nur um das Naturerlebnis, die Wandervögel waren auch eine Protestbewegung. Wandern, Natur und Volksmusik kultivierten sie als Gegenprogramm zur Enge des deutschen Kaiserreichs. Innerhalb kürzester Zeit hatte der Verein rund 40 000 Mitglieder. Im Jahr 1907 entstanden erstmals eigene Wandergruppen für Mädchen – die damit ein kleines Stück Freiheit im Alltag erlangten. Wandern wurde erstmals ein Volkssport.
Eine Gruppe des Steglitzer Wandervogels aus Berlin auf großer Fahrt, um 1930.
Zuvor hatte es in Deutschland eher einen nationalistisch-völkischen Hintergrund gehabt, maßgeblich geprägt und beeinflusst von Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und seinen Turnern. Für ihn gehörte das Wandern zum »deutschen Volkscharakter« und war somit eine Methode, um das deutsche Nationalgefühl zu wecken. Aus Jahns Sicht seien »vaterländische Wanderungen« notwendig, weil sie zwar den Blick des Menschen erweiterten, aber ihn dabei dem Vaterland nicht entfremdeten. Darin begründet liegt die deutsche Wanderideologie, die dann später in Turnerschaften und Vereinen intensiv gepflegt wurde und zum deutschen Selbstverständnis beitrug. Vielleicht hatte das Wandern deshalb jahrzehntelang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein eher konservativ-spießiges Image. Zu nah schien es an den einst gepriesenen »deutschen Tugenden«, die nach dem Krieg zu Recht in Verruf geraten waren.
Inspiration fand die Wandervogel-Bewegung vor allem bei Autoren wie Hermann Hesse (1877–1962) oder Rainer Maria Rilke (1875–1926). Hesse schrieb in seinem Buch Wanderung: Aufzeichnungen:
Ich neige dazu, aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den Hosen zu haben. Lange hat es gedauert, bis ich wußte […], daß ich Nomade bin und nicht Bauer, Sucher und nicht Bewahrer. […] Der Wanderer ist in vielen Hinsichten ein primitiver Mensch, so wie der Nomade primitiver ist als der Bauer. Die Überwindung der Seßhaftigkeit aber und die Verachtung der Grenzen machen Leute meines Schlages trotzdem zu Wegweisern der Zukunft.
Schon im 19. Jahrhundert hatte die Zahl der Wanderungen allmählich zugenommen, vor allem die der Bergwanderungen. Damit war die Motivation für Touren erstmals auch eine sportliche: Es entstand das Bedürfnis, Gipfel zu erklimmen, sich mit der erhabenen Natur zu messen und diese zu bezwingen. Ungefähr in diesem Zeitraum entstand der Wandertourismus in den Alpen. Wandern war nun sowohl eine Form der Erholung als auch sportliche Betätigung. Einer der Auslöser war die industrielle Revolution – seit immer mehr Arbeiter von der Landwirtschaft in die Fabriken wechselten, suchten die Menschen nämlich einen Ausgleich zu ihrer Arbeit in der Natur, abseits von den inzwischen stinkenden und lauten Städten. Mit dem Bau des Eisenbahnnetzes Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich der Trend – es war nun bequemer und schneller möglich, in der freien Zeit die Stadt zu verlassen, um weite Reisen zu unternehmen und die Natur zu erleben. Allerdings hatten die Menschen in dieser Epoche weniger Freizeit als wir heute.
Etwa um 1900 entstanden in Deutschland die ersten eingetragenen Wandervereine, die anders als die Naturfreunde oft einen regionalen Fokus hatten. Der älteste Wanderverein Deutschlands ist der Schwarzwaldverein, gegründet 1864, der größte ist der Schwäbische Albverein, der 1888 in Plochingen ins Vereinsregister eingetragen wurde. Das Gebiet des Vereins umfasste in etwa das damalige Württemberg. Die Zahl der Mitglieder wuchs rasch – mit 91 000 Vereinsmitgliedern (April 2021) ist der Schwäbische Albverein heute noch der größte deutsche und auch der größte europäische Wanderverein.
Oft betreiben die Wandervereine heute eigene Hütten, in denen ihre Mitglieder übernachten oder feiern können. Zudem haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Wanderwege zu pflegen, auszuschildern und instand zu halten. Der Deutsche Wanderverband (DWV), 1883 gegründet, ist der Dachverband von inzwischen rund 58 landesweiten und regionalen Gebirgs- und Wandervereinen in der Bundesrepublik. Dort sind rund 3000 Ortsgruppen mit bis zu 600 000 Einzelmitgliedern organisiert. Die Vereine kümmern sich aber längst nicht nur um Unterkunft und Pflege der Wege, sondern sind ein Ort der Geselligkeit geworden. Sie geben zudem Wanderliteratur und -karten heraus, engagieren sich in der regionalen Kultur und pflegen das Brauchtum. Sie bieten aber nicht nur ein umfangreiches Programm für alle, die gerne und leidenschaftlich draußen unterwegs sind, sondern haben längst auch den Umwelt- und Naturschutz auf ihrer Agenda stehen.
Unterbrochen wurde die Wanderlust der Deutschen durch die Weltkriege. Bereits während des Ersten Weltkrieges 1914–1918 kamen beinahe alle Reisetätigkeiten zum Erliegen. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) hatte sogar erhebliche Auswirkungen auf die Wandervereine. Sie wurden im Zuge der Gleichschaltung dem Reichssportbund angeschlossen, und ihre Mitglieder wurden nach ideologischen Kriterien ausgesiebt. So wurde vor allem Marxisten und ›Nicht-Ariern‹ die Mitgliedschaft entzogen. Das Wandern und der Aufenthalt in der Natur wurden mit der Ideologie der Heimatliebe gleichgesetzt. Nationalsozialistische Institutionen indoktrinierten unter dem Deckmantel von Jugendorganisationen wie dem Bund deutscher Mädel bzw. der Hitlerjugend junge Menschen mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus. Nach 1933 wurde der Verein Wandervogel von den Nazis aufgelöst und zwangsweise in die Hitlerjugend eingegliedert.
Heute wird Wandern gerne als ›Trekking‹ oder ›Hiking‹ bezeichnet, um den sportlichen Aspekt zu betonen. Diese Begriffe klingen moderner und entsprechen dem Zeitgeist. Im Grunde ist natürlich dasselbe wie eh und je gemeint: eine aktive Form der Freizeitgestaltung an der frischen Luft. Im Prinzip ist Wandern eigentlich alles, bei dem die eigenen Füße zur Fortbewegung dienen. Mittlerweile werden aber viele Varianten unterschieden wie etwa Fernwandern, Trekkingtouren mit anspruchsvollen Routen, Bergwandern, Nordic Walking mit Skistöcken und Geocaching. Letzteres ist eine eher junge Freizeitbeschäftigung, bei der zu Fuß eine Schnitzeljagd oder Schatzsuche unternommen wird. Mittels GPS-Empfänger und Koordinaten suchen die Geocacher nach verborgenen Kästchen. Die Routen bestehen oft aus mehreren Aufgaben, aus denen sich wiederum neue Koordinaten ergeben. Sie finden sich im Internet bei entsprechenden Anbietern.
Natürlich gibt es weitere, hippe Ausprägungen des Wanderns wie Gehmeditationen, das Barfußwandern, Speed Hiking und das Nacktwandern – das seit einigen Jahren ebenfalls ein Trend geworden ist. Aber Obacht, das ist nicht überall erlaubt. Die Nudisten schätzen am Wandern ohne Kleidung, dass sie dabei viele Naturphänomene wie Wind, Sonnenstrahlen oder Regen intensiver erleben können. Manche kombinieren auch Nackt- und Barfußwandern.
Deutlich sportlichere Varianten sind das Bergwandern und das Speedwandern bzw. Speed Hiking, sehr schnelles Wandern mit Stöcken, das meistens in etwas anspruchsvollerem Gelände stattfindet. Viele sehen es als Sommeralternative zu Langlauf oder Skitouren, aber es eignet sich auch als konditionelles Aufbautraining sehr gut. Die Stöcke sind ein Hilfsmittel, um den Körper zu stabilisieren und die Oberkörpermuskulatur zu trainieren. Inzwischen gilt Speed Hiking als eigenständige Sportart, in der es auch Wettkämpfe gibt.