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Die verschiedenen Arten des Gehens: Nomadentum – Pilgern – Spazierengehen – Flanieren

Nomadentum

Beim Nomadismus handelt es sich um die älteste Wirtschaftsform weltweit. Nomaden sind umherziehende Völker, die vor allem von der Viehzucht leben. Die Anzahl der Tiere, die eine Sippe oder Familie besitzt, spiegelt den Wohlstand, weshalb das Vieh traditionell nicht zum eigenen Verzehr gedacht war, sondern lediglich als Milch- und später Felllieferant diente.

Nomaden sind Menschen, die nicht an einem festen Ort leben, sondern zu Fuß durch die Gegend ziehen – primärer Antrieb war einst das Jagen und Sammeln, heute ist es meist die Weidewirtschaft. Oft ziehen die Nomadenvölker entsprechend den Jahreszeiten von einem Ort zum nächsten, meistens geschlossen als Familie oder Sippengemeinschaft. In der Regel nehmen sie ihr ganzes Hab und Gut sowie den eigenen Viehbestand mit. Selten haben sie irgendwo dauerhafte oder feste Siedlungen. Nomaden passen sich in ihren Wanderbewegungen an die ökologisch nutzbaren Gebiete an – sie ziehen immer dorthin, wo das Gras gerade frischer und üppiger ist.

Das Nomadentum ist gewissermaßen die Urform menschlichen Lebens. Nomaden gibt es seit der Entstehung der Menschheit – vornehmlich bis zur neolithischen Revolution war es die vorherrschende Lebensweise. Die Sesshaftigkeit begann sich erst nach der Einführung des Ackerbaus zu verbreiten. Traditionell waren Nomaden Jäger und Sammler. Allerdings leben heute nicht mehr alle Völker vollnomadisch, manche ziehen nur teilweise umher und haben zusätzlich feste Standorte, die ihre Heimat sind.

Nomaden leben in der Regel in Wüsten, Steppen, Tundren sowie in der Prärie – also an Orten, an denen dauerhafte, ganzjährige Landwirtschaft keine Perspektive hätte. Deshalb ist für nomadische Gruppen Mobilität ein entscheidendes Element ihres Lebens – und in der Regel sind sie zu Fuß unterwegs. Durch Weidewanderungen erschließen sie sich fruchtbare Gebiete oder andere natürliche Ressourcen, die sie zum Überleben benötigen. Häufig beschränken sie sich aber in ihren Wanderungen auf ein bestimmtes Gebiet – in der Regel sind sie nicht in einem ganzen Land oder weltweit unterwegs.

Kennzeichen einer nomadischen Lebensweise ist eine flexible Anpassung an ökologische und soziale Rahmenbedingungen. Der Alltag der Nomaden ist geprägt von der Nutzung und der Suche nach Weideland. Man könnte sie als ökologische Vorbilder betrachten, da sie sich stets an die Natur und ihre Gegebenheiten anpassen – sie erhalten gewissermaßen durch ihre Lebensweise die natürliche Biodiversität und stemmen sich gegen den Aufbau von Monokulturen. Ihre Lebensräume werden aber durch die seit Jahrzehnten zunehmende Urbanisierung sowie die industrialisierte Landwirtschaft von Global Playern immer mehr eingeschränkt. Abgesehen von Nomaden und Bauern haben große Wirtschaftsunternehmen ebenso wie Banken und Investoren ein Auge auf das globale Weideland geworfen und längst weite Gebiete in Privateigentum überführt.

Durch die globale Wirtschaft werden Nomaden also zurückgedrängt auf kleine, engere Gebiete – was ihrem Lebenswandel eigentlich nicht entspricht. Auch ihre wirtschaftliche Grundlage wird ihnen allmählich entzogen, da ihre Produkte angesichts immer weitreichenderer Regulierungen und Zugangsbarrieren auf den internationalen Märkten kaum mehr zu vertreiben sind. Darunter leidet ihre ökologische Lebensweise, die oft schlicht unterschätzt und kurzfristigen ökonomischen Interessen geopfert wird. Damit geht auch ihr Wissensschatz über eine Lebensweise im Einklang mit der Natur verloren.

Trotz allem gibt es heute in vielen Gebieten der Welt weiterhin Völker, die keine festen Standorte haben, sondern wandernd von Ort zu Ort ziehen – vornehmlich in Entwicklungsländern und in eher dünn besiedelten Gegenden. Heute leben nomadische Völker vor allem noch in Steppengebieten, den Wüsten und Savannen Nordafrikas sowie in Teilen Asiens.


Nomaden aus der Ethnie der Nenzen in der russischen Tundra, aufgenommen im August 2000.

Aber auch die Inuit in Kanada und Grönland sind teils noch Nomaden, ebenso wie die Aborigines in Australien. In Europa kennen wir vor allem die Gruppe der Sinti und Roma – allerdings gehört diese ethnische Gruppe zu den unfreiwilligen Nomaden. Die Vorfahren der heute in Europa lebenden Roma und Sinti kamen ursprünglich aus der Gegend des heutigen Pakistans. Quellen zu ihrer Geschichte sind rar, aber vermutlich wanderten sie seit dem 8. bis 10. Jahrhundert über Persien, Kleinasien und den Kaukasus in Richtung Europa, etwa im 13. und 14. Jahrhundert dann über Griechenland und den Balkan auch in Richtung Mittel- und Westeuropa.

Vieles, was über ihre Geschichte bekannt ist, wurde eher von Nicht-Sinti und -Roma zusammengetragen. Lange Zeit wurde ihnen ein Wandertrieb unterstellt, in Wahrheit sahen sie sich aufgrund von Kriegen, Verfolgung und Vertreibung und damit einhergehender wirtschaftlicher Not dazu gezwungen. Hierzulande sind sie nach wie vor extremer Diskriminierung ausgesetzt. Tatsächlich haben die gängigen Stereotype recht wenig mit dem wirklichen Leben von Sinti und Roma zu tun. Den Begriff ›Zigeuner‹ gibt es laut der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), seit diese ethnische Gruppe vor rund 600 Jahren in deutschsprachige Gebiete einwanderte. Er leite sich möglicherweise aus dem Griechischen ab (»die Unberührbaren«) und werde mehrheitlich von den Angehörigen dieser Minderheit abgelehnt und als abwertend empfunden.

Auch entspricht laut der BpB die Vorstellung, Sinti und Roma seien »heimatlose Nomaden«, eher den »Fantasien der Mehrheitsgesellschaft als der Wirklichkeit«. Ein beträchtlicher Teil der Minderheit lebte zwar lange Zeit von mobilen Gewerben, vom Handel mit Textilien oder Kurzwaren, oft waren sie auch Musiker, Handwerker oder Schausteller. Der größte Teil der Gruppe ist allerdings bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts sesshaft geworden, auch Roma in Osteuropa leben seit etwa den 1970er Jahren in der Regel fest an einem Ort. Pflegen sie dennoch das Nomadentum, liegt das oft daran, dass sie an vielen Orten nicht gewollt sind und daher häufig weiterziehen müssen.

Dasselbe Schicksal haben bereits andere nomadische Völker erlitten, die inzwischen entweder ausgerottet sind oder auf Minigebiete zurückgedrängt wurden. Nomaden waren den sesshaften Völkern sowie den Eroberern bestimmter Gebiete der Welt suspekt: Sie waren nicht zu kontrollieren, wollten sich weder in die Lebensweise anderer Kulturen einfügen noch an künstlich etablierte Grenzen halten. Weil sie sich nicht unterwerfen wollten, fanden weltweit regelrechte Feldzüge und ethnische Säuberungen gegen nomadische Gruppen statt. Die indigenen Völker in Nordamerika, im Deutschen lange noch als ›Indianer‹ bezeichnet, wurden von den ersten Siedlern in Reservate gezwungen und ihres natürlichen Lebensraums ebenso wie ihrer ursprünglichen Lebensweise beraubt.

Die Aborigines – eine Sammelbezeichnung für die indigenen Völker Australiens – besiedelten vor etwa 40 000 bis 60 000 Jahren den Kontinent. Sie lebten ebenfalls vornehmlich als Jäger und Sammler. Aborigines sind keine einheitliche Ethnie, wenngleich der Sammelbegriff dies vermuten ließe, sondern bestehen aus unzähligen Völkern, Stämmen, Sippen oder Clans, die auch unterschiedliche Sprachen haben. Je nach Quellenlage gab es vor Ankunft der Briten 1788 wohl etwa 200 bis 700 verschiedene Völker, Australien hatte damals ca. 300 000 bis 1 000 000 Einwohner. Durch eingeschleppte Krankheiten, gegen die die indigenen Völker nicht immun waren, sowie durch gewaltsame Konflikte reduzierte sich deren Anzahl auf lediglich 60 000 im Jahr 1920.

Die australischen Behörden betrieben jahrzehntelang eine rigide Assimilationspolitik gegenüber den Aborigines – weshalb sich heute rund drei Viertel der indigenen Bewohner des Kontinents an die moderne Lebensweise angepasst haben. In einigen Gebieten lebten die Aborigines halbsesshaft, vor allem in weniger trockenen Gebieten, wodurch sie zum Beispiel von der Fischerei leben konnten. Die meisten der indigenen Stämme lebten eher seminomadisch, was bedeutet, sie zogen zyklisch durch ein bestimmtes Territorium, um sich Nahrung zu suchen, ließen sich dann aber wieder (in der Regel auch zur selben Jahreszeit) am selben Ort nieder. Sie hatten also durchaus so etwas wie eine Heimat, zu der sie immer wieder zurückkehrten. Durch Untersuchungen von Abfallansammlungen konnten Archäologen zeigen, dass manche dieser Plätze über Tausende Jahre hinweg jährlich besucht wurden. In den trockenen Gebieten waren die Aborigines ausschließlich Nomaden, sie mussten ihre Nahrungssuche über sehr weite Gebiete erstrecken, um überleben zu können.

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