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2 schwarzsehen für anfänger

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Fahrradfahren ist was Tolles, eine der wenigen Tätigkeiten auf der Welt, über die ich sagen würde: Das macht mich richtig glücklich. Zum Beispiel da, wo man ganz nah am Meer langfahren kann, sodass man es schon richtig riecht. Wenn dann der Gegenwind pustet und ich voll in die Pedale treten muss, kann ich meine Gedanken fliegen lassen. Dann ist es genau hier perfekt.

Von Schwarzbeck nach Kiel ist es ‘ne ganz schöne Strecke. Genauer gesagt 20,4 km – laut Navigationsgerät. Trotzdem – besser frei auf dem Fahrrad, als im vollgestopften Bus gleich zu Beginn des Tages den ganzen Mutanten zu begegnen.

Draußen vor dem grauen Klotz von Gebäude warten sie schon: die Menschen, mit denen ich den bisher wichtigsten Abschnitt meines Lebens verbracht habe, meine Mitschüler. Aber nur die, die immer noch keinen Ausbildungsplatz ergattert haben, die absolut keinen Plan haben, so wie ich. Freakshow.

Manchmal würde ich mich gerne hinter einer dicken, schwarzen Sonnenbrille verschanzen wie ein Hollywoodstar. Zum Beispiel jetzt.

Dann meine gute, alte, immer um alles und jeden besorgte Klassenlehrerin, Frau Frevert, nur echt mit brauner Ledertasche unterm Arm und Hosenröcken an den Beinen. Hässlich und hinreißend zugleich. Und wer ist das da neben ihr? Bestimmt die neue Referendarin – die eigentlich erst mit dem nächsten Schuljahr anfängt, aber jetzt anscheinend trotzdem schon mal da ist. Wahrscheinlich wurde ihr das empfohlen, zum »Reinschnuppern« ...

Ich weiß, ich sollte nicht so zynisch sein. Ich kann nichts gegen diese Menschen hier sagen. Sie haben mich nie gemobbt, unterdrückt oder ungerecht behandelt. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen. Trotzdem: Am liebsten würde ich weiterfahren. Immer weiter. Und dann einfach beschließen irgendwo zu bleiben, spontan. In einem Dorf mit einem lustigen Namen. Oder einer Stadt mit einem blauen Haus neben einem See.

Ob das ginge – einfach einen Ort zu suchen, der einem gefällt, und dann dortzubleiben? Und wenn ich einfach so abhauen würde?

»Tooooom!«

Zu spät. Entdeckt. Stehen bleiben.

»Na, träumst du etwa?«

Die neue Referendarin schmunzelt mich an und trägt dabei Chucks. Na so was. Wie heißt sie noch mal? Bestimmt Steffi. Das war so, früher. Steffi Graf. Jetzt heißen die Mädchen Anna, Lea und Sarah. Und die Typen Lukas, Paul und Tom, so wie ich. Hab ich bei www.beliebte-vornamen.de nachgeguckt. Da kann man sich die Vornamens-Hitlisten bis 1890 oder so reinziehen. Aber hier bei uns auf dem Dorf sieht’s nicht so aus wie in der aktuellen Top Ten, da stehen auch die größten Namens-Hits der Achtziger und Neunziger noch ganz vorne mit dabei – die Olivers, Stefans und Markusse dieser Welt.

Wir haben sogar einen Mike. Aber der ist nicht da. Der hat schon einen Ausbildungsplatz. Der hatte immer schon einen Plan. Mike wird KFZ-Mechaniker.

Papa wäre froh, wenn ich Mike wäre.

Mike der Mittelstürmer.

Vielleicht hätte er mich einfach anders nennen müssen, von vornherein. Vielleicht wurden da schon die Weichen gestellt ...

»O.k. Also: jeder erhält jetzt von mir einen Fragebogen, den er bitte gewissenhaft ausfüllt und sich dabei Gedanken zu seinen Interessen macht. Wir gehen die Antworten dann direkt hier durch und sprechen Empfehlungen aus. Und dann könnt ihr euch vor Ort über die passenden Berufe informieren und gleich im Computer gucken, ob ihr vielleicht Adressen findet zum bewerben. Bitte seid bei euren Wünschen und der Einschätzung eurer Talente ehrlich und realistisch, damit es auch was bringt«, sagt Steffi, die eigentlich Sarah heißt. Sie verteilt die Bögen.

Finden Sie heraus, wo Ihre Stärken und Schwächen liegen!

Was macht mir Spaß?

Was kann ich besonders gut?

Was interessiert mich?

Überlegen Sie, welche Berufe zu Ihren Interessen und Fähigkeiten passen könnten!

Welche Tätigkeiten interessieren mich?

Wo möchte ich gerne arbeiten?

Womit möchte ich arbeiten?

Was möchte ich beruflich erreichen?

Einige meiner Mitschüler kichern und schreiben witzige Antworten auf. »Ich möchte Germany’s Next Topmodel werden« und so. Hilfe. Man darf auch nicht vergessen, dass ich ein Jahr älter bin als die anderen, fast zwei.

Sowieso, warum sollte man unbedingt dazugehören? Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, bitte, dass sich von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet in der eigenen Schulklasse die aufhalten, die am besten zu einem passen? Das wäre doch ein bisschen zu einfach, oder?

Als ich noch klein war, da war irgendwie alles ganz selbstverständlich, und ich hab nicht mal ein bisschen über so was nachgedacht. Da hab ich einfach dazugehört. Aber seit ich einmal sitzen geblieben bin, noch in der Grundschule, kurz nachdem das mit Dir war, hab ich irgendwie den Faden verloren ...

In der neuen Klasse war ich auf einmal der Loser. Von da an hab ich mich dann irgendwie bewusst ins Abseits gestellt, damit ich meine Ruhe hatte ... Und jetzt ist das eben meine Position geworden. Wie beim Fußballspiel. Da steh ich ja auch immer im Abseits – nee, kleiner Scherz. Aber da hat ja auch jeder Spieler seinen Bereich. Und ich steh eben im Tor. Falls ich überhaupt eingewechselt werde.

Ich hoffe, Du machst Dir keine Sorgen, wenn ich das alles so schreibe, und denkst, ich bin hier total alleine. Ich weiß sowieso – Du machst Dir immer gleich Sorgen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir zusammen Fernsehen geguckt haben: Du warst immer ganz aufgeregt, sogar bei irgendwelchen Kinderfilmen, die wir schon zigmal zusammen gesehen haben. So aufgeregt, dass ich Dir manchmal vorher ins Ohr geflüstert habe, wie es ausgeht, damit Du kein Nasenbluten kriegst oder so.

Deswegen sage ich das jetzt lieber auch gleich: Mach Dir keine Sorgen, wenn Du das hier liest. Wenn ich das hier an Dich schreibe, dann bin ich ja schließlich noch da, und außerdem bin ich ja die Hauptfigur der Geschichte – ich will jetzt nicht sagen der Held oder so. Aber die Hauptfigur, die bleibt der Geschichte ja meist bis zum Schluss erhalten.

Also. Ich schreib einfach in den Fragebogen, was mir in den Kopf kommt. Mal sehen, ob mir noch zu helfen ist ... Glaub ich zwar nicht, aber O.k. An mir soll’s nicht scheitern ...

»Ich will Anzüge tragen, das stell ich mir irgendwie vor, aber nicht in der Bank arbeiten. Ich würde gerne auch handwerklich tätig sein, etwas richtig bauen oder herstellen, aber nicht nur rackern. Im Büro sitzen, aber auch draußen unterwegs sein. Manchmal habe ich gerne mit Menschen zu tun, wenn sie nicht so viel reden und ich auch mal meine Ruhe haben kann. Ich will etwas tun, woran ich glaube, etwas, das für die Menschen wichtig ist, und einen sicheren Arbeitsplatz, nix, was nächstes Jahr abgeschafft wird. Und ich will immer gerne einen Abschluss. Etwas, das auch Mal zu Ende geht, wo man sich das Ergebnis angucken kann.«

So. Gibt es das?

Besser als nix

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