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4 die nacht des lebenden toten

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Ich bin irgendwie weggenickt und jetzt ist es schon dunkel. Lüfte mein Zimmer rasch. Papa sitzt unten und schaut fern. Ich will mich vorbeistehlen, doch natürlich sieht er mich und fragt gleich, wie’s gelaufen ist. Er sieht so einsam aus dabei, vor seinem gekachelten Wohnzimmertisch, dass er mir richtig leidtut. Ich glaube, er sieht sich das Programm auch gar nicht bewusst an. Das rauscht alles an ihm vorbei, wie Lebensgeräusche, die er als Kulisse für sein Dasein braucht. Ich muss einfach stehen bleiben.

»Und. Was hat der Berufstest ergeben?«

Vielleicht findet er es ja auch gut, oder? Besser als gar nichts?

»Sie haben mir etwas empfohlen«, sage ich nebulös. »Und ich habe auch schon angerufen vorhin. Und ich bin für morgen eingeladen«. Schnell laufe ich zur Haustür.

Liebe Damen und Herren von der Presse, Tom Rasmus beantwortet jetzt leider keine weiteren Fragen mehr zu diesem Thema.

»Ja, und, das ist ja toll, und wo? In der Reifenfabrik? Beim Halli im Hotel?«

»Ich sage es dir, wenn die mich haben wollen. O.k.? Sonst ist es ja dann auch enttäuschend.«

Er prustet, falls ich daraus ein Geheimnis würde machen wollen, bitte sehr.

Jetzt ist er auch noch eingeschnappt. Ich fahr mit dem Fahrrad zur Tanke und kaufe was zu trinken, dann zum Feld gleich hinter der Ortseinfahrt von Schwarzbeck.

Einer will gefragt werden und ich lasse ihn sitzen. Und einen will ich fragen und weiß noch nicht mal, ob er überhaupt da ist. Für mich da ist. Ganz dunkel da draußen und nichts zu hören. Dann finde ich Mike.

Es stinkt. Ich stolpere über eine Flasche.

»Hey, aufwachen. Mike!« Mike liegt da wie tot. Er hat gekotzt. Was mach ich denn. Ich dreh ihn vorsichtig um. Er ist noch warm, nicht meine erste Leiche, würde ich sagen.

Seine neue Jeans ist dreckig, er hat geschlossene Augen. Ich schlag ihm vorsichtig ins Gesicht. Und wenn er stirbt? Ist denn hier keiner? Die sind anscheinend schon lange vorher abgehauen. Muss man jetzt Mund-zu-Mund-Beatmung machen?

Ich erinnere mich, dass wir mal beste Freunde waren. Aber es stinkt so doll nach Kotze. Ich öffne eine Bierflasche und gieß ihm das Bier ins Gesicht, um das wegzuspülen. Er fängt an zu husten. Ich heb ihn hoch. Er atmet und spuckt.

»Hey. Was, was ist denn los?«, fragt er, als habe jemand ihn zu früh geweckt. Nichts, nichts, ich wollte einfach mal wieder vorbeikommen, sag ich. Mike greift zu der offenen Bierflasche, gurgelt und spuckt aus.

»Brrr. Is ja ekelhaft. Was stinkt denn hier so?«, meint er fast vorwurfsvoll und dann gleich wieder cool: »Komm, lass uns mal zum See rüberlaufen ...«

Ich lass mein Fahrrad stehen, steck mir noch ‘ne Flasche Bier ein. Wir gehen stumm nebeneinander her. Vielleicht schaffe ich es, ihn zu fragen, ob er noch mal Autofahren mit mir übt.

Früher waren wir in einer Bande zusammen, mit noch ein paar anderen aus der Nachbarschaft. Nachts bin ich aus dem Fenster oben geklettert, während ihr unten im Wohnzimmer vor dem Fernseher saßet. Mike wohnte nur eine Straße weiter. Wir haben uns in leere Häuser geschlichen und so getan, als ob wir dort alle zusammenwohnen. Mike war der Anführer, aber ich gehörte auch ganz gut dazu.

Dann warst Du auf einmal nicht mehr da.

Und ich habe bald darauf angefangen schlechte Musik zu hören, wie Mike sagt. Er ist in der Fußballmannschaft immer weiter aufgestiegen.

Ich weiß nicht, woran es eigentlich lag. Seine Eltern haben sich scheiden lassen. Mike ist mit seiner Mutter in eine Mietswohnung ein paar Straßen weiter gezogen. Aber wir hätten uns trotzdem sehen können. Irgendwie war es vorbei. Und dann ist Mikes Mutter irgendwann aus unserem Bad gekommen.

Das weißt Du noch gar nicht, oder? Woher auch.

Ich hätte nicht gedacht, dass sie ihm gefällt. Und er ihr. Aber über so was denkt man auch einfach nicht nach, bis dann auf einmal einer aus dem Bad kommt. Ich weiß nicht, wie lange Papa und sie heimlich zusammen waren – so von wegen »irgendwann sagen wir es ihm«. Es war schon ein paar Jahre nach Deinem Tod, als ich früher nach Hause kam und diesen blöden Behälter für meine Zahnspange gesucht habe, und dann kam sie auf einmal in Carstens Bademantel die Treppe hinunter. Er stand in der Küche am Herd.

Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm gewesen, wenn sie es vorher erzählt hätten. Ich hab es Mike verraten, und seit dem Tag ist es irgendwie merkwürdig mit uns gewesen. Zum Beispiel hab ich nicht mehr einfach so bei ihm geklingelt. Und er auch nicht bei uns. Ich glaube, sehr lange waren die beiden dann auch nicht mehr zusammen.

Beim Wasser angelangt, zieht Mike sich sofort aus. Ich hoffe, er ist nicht mehr so besoffen und ertrinkt noch. Ich ziehe mich auch aus. Wir springen von einem Baumstamm aus ins Wasser. Es ist warm genug. Ich leg mich auf den Rücken und lass mich treiben.

Mike schnaubt und wäscht sich den Dreck der Nacht ab. Ich setz mich wieder auf den Baumstamm und beobachte ihn, öffne das Bier, indem ich den Korken am Baumstumpf mit dem Fuß abtrete.

»Wann fängst du an?«

Er weiß sofort, was gemeint ist. Weil es eben zurzeit das Thema ist.

»Schon Anfang August«, antwortet er und nimmt mir das Bier sofort aus der Hand. Er trinkt stramm, die halbe Flasche in einem Zug.

»Kannst du dir das vorstellen, ab dann das ganze Leben?«

»Wieso? Das ist alles, was ich jemals wollte ...« Er sieht mich mit seinem unbedarften Sommersprossengesicht an, als wolle er sagen: »Was ist denn das überhaupt für eine Frage?«

Ich nicke. Ich weiß.

»Und du?«

»Die haben mir was vorgeschlagen ...«, flüstere ich fast, entspannt flüstern, als wäre es was ganz Normales. Ist immerhin ‘ne gute Gelegenheit, das zu erzählen. Allein und nach so einer Geschichte.

»Ja, was denn?«, fragt er.

»Bestattungsfachkraft«, antworte ich locker. Klingt bloß nicht locker. Der ganze Beruf klingt nicht locker.

»Na ja. Ich dachte ja immer, du studierst«, sagt er nur. »Dass du einer bist, der von hier weggeht.« Er überlegt. »Ist doch krass, oder. Hast du Six Feet Under gesehen?«

Ich schüttle den Kopf.

»Da zeigen die das richtig. Wie die an den Leichen rummachen und so. Hab ich letztens mit Madlen gesehen. Da waren ihre Eltern im Urlaub. Wir saßen bei denen vorm Fernseher, als ob wir da zusammen wohnen, so richtig wie ein altes Ehepaar. Mit Bier und Beinen hoch. Klingt scheiße, oder? Aber mir hat’s irgendwie gefallen ... Dann hat sie auch ‘ne ganz andere Stimme. Wenn wir allein zusammen sind. Nicht so kratzig. Ganz weich. Wie ihre Haut.« Er grinst. »Und soll ich dir sagen, wo sie am weichsten ist? So weich, so was hast du noch nie angefasst, das ist wie etwas, das zerfließt in deiner Hand, so zart ..« Er zupft mir an den Haaren. »Na ja, schon gut, ich seh schon. Willst du gar nicht wissen, oder?«

Er zieht sich schon wieder an. Wäscht die Jeans im Wasser ab und schlüpft dann hinein. »Damit komm ich gar nicht klar, echt nicht. Viel zu eng. Wie kannst du denn so was tragen, das quetscht am Sack. Scheißmode. O.k., ja, ich mach mal los, ja ... Gute Nacht.«

Jetzt hab ich noch nicht mal nach dem Autofahren gefragt. Mein Fahrrad liegt immer noch an derselben Stelle.

Der Mond sieht aus wie eine müde Banane, und gleich neben ihr hängt noch ein träger Stern in der Luft. Dann kommt plötzlich eine Sternschnuppe angezischt. Aber ich weiß gar nicht, was ich mir wünschen soll, heute. Lieber nichts.

Gute Nacht. Ich stell den Wecker auf acht.

Kann nicht glauben, dass ich morgen wirklich dorthin gehe. Nur weil mir die neue Referendarin gefällt. Weil sie die richtigen Worte gefunden hat und die richtigen Turnschuhe anhatte – das ist doch bescheuert, das glaubt mir keiner. Und was hat sie dazu gebracht, ausgerechnet bei mir anzurufen?

Oder vielleicht hat sie ja bei allen noch mal angerufen. Vielleicht arbeite ich dann mein ganzes Leben lang als Totengräber, nur weil ich dieser Frau mal gefallen wollte. Und alle aus der Klasse nehmen die seltsamsten Berufe an, weil sie auf Sarah stehen. Sie ist direkt vom Arbeitsamt eingeschleust worden. Für die ganz schwierigen Fälle ... Die, die sich wirklich nicht entscheiden können.

Ich träume unruhig und seltsam. Dass ich fliegen kann, träume ich manchmal. Und dann habe ich immer Angst vor der Landung. Ist so. Ehrlich.

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