Читать книгу Piv - und das Geisterhaus - Nina Sahl - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеMille will in dieser ersten Nacht in ihrem neuen Zuhause nicht ein einziges Auge zu machen. Sie will nach Hause und zwar auf der Stelle. Und ganz gleich wie viele Schlaflieder ihre Mutter ihr vorsingt – es hilft einfach nichts.
Piv sitzt auf dem Sofa und beobachtet ihren Vater dabei, wie er am Fernsehgerät herumtüftelt und versucht die Kanäle neu einzustellen. Lina ist längst in ihrem Zimmer verschwunden und Oma und Opa haben Großmutter nach Hause gefahren. Jetzt sitzt Piv ganz allein auf dem Sofa, nach diesem langen Umzugstag, und macht Feierabend. Auf dem Tisch stehen Kaffee, Mineralwasser und Gebäck. In der weißen Tasse ist Mutters Kaffee wie gewöhnlich schon wieder kalt geworden. Immer kommt ihr etwas dazwischen, bevor sie ihn austrinken kann.
„So“, klingt es stolz hinter dem Fernseher hervor, wo Vater im Schneidersitz an den Kabeln und Knöpfen herumgewerkelt hat.
„Was wollen wir sehen, Pivsen?“
Sie zuckt mit den Schultern und lässt drei Kaugummiblasen nacheinander in ihrem Mund zerplatzen. Vater soll aussuchen, worauf er Lust hat. Piv ist es eigentlich gleich. Sie merkt, wie die Müdigkeit langsam in ihr aufsteigt.
Mille wimmert immer noch hinter der Tür ihres hellroten Prinzessinnenzimmers. Wenn Piv die Ohren spitzt, kann sie hören, wie ihre Mama der kleinen Schwester immer und immer wieder das Elefantenschlaflied vorsingt. Mit einem lauten Gähnen erhebt Piv sich vom Sofa, streckt sich und gibt ihrem Vater einen Gutenachtkuss.
„Gehst du schon schlafen?“, fragt er verblüfft, jedoch ohne den Blick vom Fernsehbildschirm abzuwenden. Piv nickt nur. „Gib mir noch einen Kuss für Mama“, fügt er noch hinzu, als sie sich gerade auf den Weg in ihr Zimmer macht. „Ich sorge dafür, dass sie ihn bekommt, wenn sie aus Milles Zimmer kommt.“ Er lächelt und Piv gibt ihm artig noch einen zweiten Gutenachtkuss. „Gute Nacht, Pivsen“, hört sie ihn noch rufen, als sie aus dem Wohnzimmer tapst und durch den Flur in ihr Kellerzimmer huscht.
***
In der ersten Nacht in ihrem neuen Zuhause ist es rabenschwarz unten im Keller. Niemand hat sich darum gekümmert, Lampen im dunklen Kellergang anzubringen. Das gesamte Untergeschoss versinkt in tiefster Dunkelheit. Gegenüber vom Badezimmer liegt ein kleiner Abstellraum. Ein Gedanke huscht durch Pivs Kopf. Hatte ihr Vater vorhin nicht die alte Taschenlampe darin abgelegt? In das kleine Regal gleich neben der Tür? Wie praktisch, so kann Piv die Lampe dort immer finden und im Notfall benutzen, falls mal die Glühbirnen kaputtgehen. Wenn denn jemals Lampen und Glühbirnen hier unten angebracht werden.
Piv holt tief Luft und tastet sich durch die Dunkelheit zur Tür der Abstellkammer. Vorsichtig drückt sie die Klinke herunter. Die Tür klemmt leicht und Piv muss etwas fester drücken, um sie aufzustoßen.
Eine Wolke aus Staub und ein Schub Kälte schlagen Piv entgegen und wirbeln ihr um den Kopf. In die dichte Staubwolke eingehüllt muss Piv kräftig husten, bevor sie wieder normal Luft holen kann.
Stockdunkel ist es hier drinnen. Piv kann zwar nicht viel erkennen, aber sie weiß, dass die gesamte Kammer mit Möbeln vollgestellt ist. Nicht ihre Möbel, sondern die des toten Mannes. Die standen hier schon, als ihre Eltern das Haus kauften. Aufeinandergestapelte Kisten, Taschen, Koffer, Säcke und Möbel über Möbel. Piv schafft es kaum, sich durch den Türspalt zu zwängen.
Vorsichtig streckt sie die Hand nach dem Regal neben der Tür aus und tastet nach der Taschenlampe. Sie will den eisigen, feuchten Raum wenn möglich gar nicht betreten. Schon der Gedanke daran lässt ihr einen Schauer über den Körper fahren. Zum Glück liegt die Lampe so nah an der Tür, dass Piv sie mit den Fingerspitzen berühren kann. Sie muss sich ein wenig strecken, um sie zu fassen zu kriegen, doch bevor sie sie fest in der Hand hält, kullert sie aus dem Regal herunter auf den Boden. In der Dunkelheit kann Piv nicht erkennen, wohin sie ihre Füße setzt, als sie nun doch zögerlich die Kammer betritt. Unglücklicherweise tritt sie mit den Zehenspitzen genau an die Taschenlampe, die sofort weiter unter ein altes, zerschlissenes Sofa rollt, das quer in dem vollgerümpelten Raum steht. Es führt einfach kein Weg daran vorbei, diese Taschenlampe zu fassen zu kriegen, schließlich muss Piv noch den Weg in ihr Zimmer finden und ihr Bett beziehen, was ohne Licht kaum möglich ist. Verflucht aber auch! Wenn ihr Papa doch bloß die Lampen angebaut hätte. Oder wenigstens eine Glühbirne in die Halterung ihrer Nachttischlampe geschraubt hätte. Dann müsste Piv jetzt nicht auf dem Boden dieser abscheulichen Kammer, vollgestellt mit dem Kram eines Toten, kriechend nach dieser verflixten Lampe suchen.
Genervt rutscht sie auf Knien hinter das Sofa und streckt die Hand aus. Sie tastet wild hin und her, bevor sie die Lampe endlich findet und zu sich zieht. Lautlos richtet Piv sich wieder auf und will gerade den magischen Knopf drücken, der etwas Licht in das Dunkel zaubern soll, als sie plötzlich merkt, dass sie nicht alleine hier unten ist. Irgendjemand scheint hier unten zu sein.
Verängstigt blinzelt Piv mit den Augen, schaut sich um und versucht in der Schwärze etwas zu erkennen. Nichts. Nur Dunkelheit. Kalte, staubige Dunkelheit, die beinahe knirscht, wenn man einatmet.
Als Piv die mühsam beschaffte Taschenlampe zum Leuchten bringt, schleicht sie sich aus dem staubigen Raum davon. Mit einem lauten Knall schlägt die Tür hinter ihr zu. In diese Kammer kriegen sie keine zehn Pferde mehr. Jedenfalls nicht, bevor ihre Eltern sie von Möbeln und Kisten des Toten entrümpelt und ordentlich gelüftet haben. Wie fürchterlich es da drinnen gestunken hat! Nach Moder oder fauligem Holz.
„Wo bist du denn, mein Schatz?“
Mamas Stimme lässt Piv erschrocken zusammenfahren. Schnell eilt sie den Kellerflur entlang zu ihrer Mutter, die Piv eine Stehlampe hinunter in ihr Zimmer gebracht hat. Sie wirft einen hellen Kegel an Pivs niedrige Zimmerdecke. Als Piv ihr Zimmer betritt, bezieht ihre Mutter gerade ihr Bett.
„Hier bin ich“, murmelt Piv mit heiserer Stimme und schenkt ihrer Mutter ein müdes Lächeln.
Mama lässt die Bettwäsche für einen kurzen Augenblick links liegen und gibt ihrer zweitältesten Tochter einen Kuss auf die Stirn
„So ein Theater, das die Mille da anstellt, was?“, seufzt sie. „Meine kleine Räubertochter. Jetzt hätte ich dir fast nicht Gute Nacht gesagt.“
Sie wendet sich wieder dem Bettlaken zu, das sie über der Matratze ausbreitet und schüttelt Pivs Kissen auf, damit es weich und kuschelig wird. „Aber zum Glück habe ich zwei so anständige und große Mädels, die mir helfen können“, bemerkt sie, während sie die Bettwäsche über die Daunendecke stülpt. Piv denkt jedoch, dass sie heute keine besonders große Hilfe war. Außerdem hängt ihr das angsterfüllte Gefühl, nicht allein in der Abstellkammer gewesen zu sein, immer noch in den Gliedern. Ihr war, als würde jemand ganz dicht neben ihr stehen und sie ansehen.
„Warum steht dieser ganze alte Kram eigentlich noch immer dort in der Kammer?“, fragt sie ihre Mutter, die gerade die Bettdecke zuknöpft, das Bett aufschüttelt und behutsam auf das weiße Laken legt.
„Die alten Sachen stehen hier schon seit mehreren Jahren.“ Mutter dreht sich um und sieht Piv an. „Keiner der Erben war besonders interessiert an ihnen. Wir könnten natürlich einige von ihnen benutzen, vor allem auch um ein bisschen Leben und Inhalt in dieses große Haus zu bringen. Deswegen haben wir mit ihnen abgesprochen, dass wir den ganzen Kram mit übernehmen und das aussortieren, was wir nicht brauchen. Vielleicht findest du unter den Sachen etwas, was du gerne in deinem Zimmer haben möchtest? Wir haben auf jeden Fall eine Menge Platz.“
Piv kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie die Sachen eines Toten herumstehen haben will. Weder in ihrem Zimmer noch irgendwo anders hier im Haus. Aber leider hat sie bei der Angelegenheit nicht so viel Mitspracherecht. Wenn ihre Mutter erst eine Idee hat, ist sie davon nicht mehr abzubringen. Man kann es einfach genauso gut gleich sein lassen, sie umzustimmen, da es eh nichts bringt und sie sowieso macht, was sie will und sich ausgedacht hat.
„So mein Schatz“, sagt sie und lächelt ihre Tochter an. „Hier steht auch ein Holzbaukasten für dich bereit. Meinst du, du kannst heute Nacht alleine hier unten schlafen?“ Plötzlich sieht sie Piv besorgt an. „Wir sind ja oben im Schlafzimmer, nicht wahr?! Ich lass einfach unsere Tür zum Flur offen stehen und dann lassen wir auch deine Zimmertür und die Kellertür einen Spalt weit offen stehen. So können wir auf jeden Fall immer hören, wenn etwas ist. Okay? Dann rufst du einfach oder kommst rauf zu uns.“
Piv nickt sachte, als Mama ihr noch einen Kuss auf die Stirn gibt und ihr mit dem Zeigefinger über die Wange streichelt.
An diesem finsteren lautlosen Abend in dem kalten, dunklen Keller würde Piv alles dafür geben, wieder ein kleines Mädchen zu sein und zu Mama ins Bett zu krabbeln. Dort in der Ritze zwischen Mamas und Papas Matratze würde sie wie ein kleines Baby schlafen. Stattdessen soll sie ihre erste Nacht im neuen Zuhause in diesem fürchterlich dunklen Keller verbringen.
***
Aus unerklärlichen Gründen fällt Piv sofort in einen tiefen Schlaf, bevor sie noch richtig in ihre Federn gesunken ist. Draußen ist ein richtiges Sauwetter und der Regen peitscht wütend gegen die Fensterscheiben. Die gewaltigen Baumkronen rauschen im Wind, aber drinnen ist es still und ruhig.
Sanft und ruhig schläft Piv in dieser ersten Nacht in ihrem neuen lilafarbenen Kellerzimmer. Über ihr liegt die kleine Mille in ihrem hellroten Prinzessinnenzimmer, mit dem Kopf am Fußende ihres Bettchens und einem Meer an Kuscheltieren wie eine Schutzmauer um sich aufgestellt. Im Zimmer nebenan liegen Vater und Mutter in einem tiefen Schlaf. Wie gewöhnlich schnarcht Papa leise vor sich hin. Noch eine Etage weiter oben schläft Lina unter schrägen Wänden und umgeben von allerlei Krimskrams und Postern.
Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag – alle können am nächsten Morgen ausschlafen. Mutter und Vater wechseln sich an den Wochenenden regelmäßig ab, wer als erstes aufsteht und Frühstückskaffee für den anderen macht. Dann stellen sie meist eine Schale mit süßem Gebäck und zwei Tassen mit dampfendem Kaffee auf ein Tablett und kuscheln sich damit gemeinsam ins Bett. Wenn die Mädchen aufwachen, kriechen sie zu ihren Eltern ins warme Bett. Piv liebt diese Tage. Tatsächlich ist der Sonntagskaffee das letzte woran sie denkt, bevor sie in ihren tiefen Schlaf fällt.
Plötzlich schlägt das Unwetter um in einen wilden Sturm. Wütend rast er draußen durch den Garten und reißt einen der großen Bäume aus der Erde. Doch niemand bemerkt etwas davon; alle schlafen tief und fest. Erst als ein gleißender Blitz über den Himmel zuckt, gefolgt von brüllendem Donner, fährt Mille mit einem spitzen, ohrenbetäubenden Schrei aus dem Schlaf, der bis in Pivs Kellerzimmer dringt. Erschrocken fährt sie auf und sitzt kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Herz schlägt heftig in ihrer Brust und sie atmet hastig. Langsam schwingt Piv die Beine über die Bettkante und steht auf.
Schlaftrunken tapst sie die Treppe hinauf. Pivs Mutter ist bereits in Milles Zimmer, steht an ihrem Hochbett und versucht sie zu trösten.
„Warum hat sie denn so geschrien?“, fragt Piv mit müder Stimme und reibt sich die Augen. Ihre Mutter dreht sich halb zu ihr um und lächelt, während sie Milles Kopf mit Küsschen bedeckt.
„Bist du auch vom Gewitter geweckt worden?“, fragt sie mit gedämpfter Stimme. Milles lautes Geplärre ist in ein wimmerndes und hicksendes Schluchzen übergegangen.
„Nee“, murmelt Piv. „Das war Mille. Wie spät ist es überhaupt?“
„Keine Ahnung“, antwortet Mama leise. „Aber es wird wohl bald Morgen. Es wird schon langsam etwas heller draußen.“
Piv dreht sich um und sieht aus dem Fenster. Man kann tatsächlich schon ein erstes Sonnenschimmern erkennen.
„Kannst du mal bitte im Schlafzimmer auf den Radiowecker gucken wie spät es ist?“
Schweigend gehorcht Piv, trabt leise die wenigen Schritte in das Zimmer nebenan, wirft einen raschen Blick durch den Türspalt in das dunkle Schlafzimmer.
„Es ist zwanzig vor sechs“, gähnt Piv, als sie zurück in Milles Zimmer kommt. Lächelnd sieht ihre Mutter sie an.
„Dann können wir ja eigentlich auch gleich aufstehen“, meint sie und streichelt Mille über die Wange. „Jetzt brauchen wir auch nicht mehr zurück ins Bett zu kriechen. Außerdem haben wir heute noch einiges vor.“
Mama lächelt und nimmt Mille auf den Arm. Dann geht sie an Piv vorbei ins Wohnzimmer.
„Willst du schon mal anfangen, den Frühstückstisch zu decken, Piv?“, fragt sie, bevor sie mit der strampelnden Mille in der Küche verschwindet. „Dann machen wir zwei uns einen frischen Kaffee!“
Müde schlurft Piv ihr hinterher, um das Geschirr zu suchen und den Tisch zu decken. Wenn sie es in dem Umzugschaos überhaupt findet.