Читать книгу Prinzessin Liane und der Engel Bonifatia - Nora Olafson - Страница 5
Liane auf der Blumenwiese
ОглавлениеBonifatia hielt ihr Versprechen. Sie kam und nahm Liane, die sich wieder umgezogen hatte, an die Hand. Die Kleider, die Liane normalerweise trug, hatten viele Rüschen und Tüll – wie das bei Prinzessinnen so ist –, da hätten die anderen Kinder gelacht. Und Liane wollte zu den Kindern dazugehören.
Bonifatia begleitete Liane aus dem Schloss. Niemand störte sich daran. Auch die ängstlichen Eltern winkten ihr nach. Liane genoss die Sicherheit, die ihr Bonifatia vermittelte. Auch freute sie sich darauf, von Bonifatia etwas Neues kennenzulernen.
Liane genoss, dass Bonifatia sie an der Hand nahm. Da erlebte sie eine Geborgenheit, die sie sonst nicht kannte. Bonifatia führte sie und traute ihr zugleich etliches zu, was man ihr im Schloss nie gestattet hätte. Bonifatia führte sie hinaus vor die Stadt. Dort gelangten sie an eine Wiese. Ein kleiner Bach führte durch das hohe Gras. Sein Gurgeln klang lieblich und melodiös.
“Hörst du das Lied?“ fragte Bonifatia ihre Begleiterin.
„Ja, ich kann es gut hören“, kam die prompte Antwort. "Die Melodie, die du hier hörst, jubelt der Bach aus lauter Freude. Er redet mit Steinen, die im Bachbett liegen. Sie sind seine Freunde. Mit ihnen tanzt er. Schau mal, wie schön die Sonnenstrahlen im Wasser schimmern.“
Liane stutzte: "Da sind doch viel mehr Wesen am Reden und Singen. Hör doch mal: da ist ein besonderer Vogel. Er singt nicht eigentlich. Er ruft eher: Kuckuck!“
“Tiere und Pflanzen drücken ihre Freude auch aus, sie reden auch miteinander. Am besten, du läufst auf die Wiese. Ich werde mich hier auf den großen Stein, einen Findling, setzen und auf dich warten. Am besten, du machst es so, dass du zuerst die Blüten in aller Pracht auf dich wirken lässt. Du wirst dann noch viel mehr entdecken.“
Liane begann zögernd, auf die Wiese zu gehen. Sie merkte sehr bald, dass es nicht gelingen konnte, über eine Wiese zu gehen und nicht zugleich auch Blüten umzutreten, zu knicken, an ihre Blütenblätter zu stoßen. Sie sah sich um und hörte zu, was sie untereinander erzählten. Da fiel ihr die kleine Biene auf, die die große Sonnenblume, die alle anderen Blüten überragte, fragte, ob sie sich an ihren Nektar satt trinken dürfe.“ Du musst wissen, dass wir – ich meine die anderen Bienen, die zu meinem Volk gehören, und ich – einen ganz besonderen Honig produzieren. Dazu müssen wir zu den Blüten auf der Wiese fliegen.“
“Das geht in Ordnung“, sagte die Sonnenblume und nickte mit ihrer großen Blüte. Liane wurde ganz fröhlich. Sie sah in so viele Blütengesichter, die offen waren, sich freuten, dass Liane über die Wiese lief und einfach nur die Freude am Leben genoss. Die Fröhlichkeit der Blüten übertrug sich auf Liane. Voller Freude schlug ihr Herz bis zum Hals. Sie begann zu singen und plötzlich stimmten die Blüten mit ein. Es entstand ein Chorgesang, den nur der zu hören vermochte, der zum Hören nicht nur seine beiden Ohren hatte, sondern auch das Herz einsetzte.
Bonifatia sah von ihrem Findling am Rande der Wiese zu, wie Liane die Schönheit der Welt und die Freude am Leben entdeckte. Bisher war sie immer traurig durch den Schlosspark gegangen. Ihr dämmerte nach und nach, dass die Blumen, die auf den Beeten im Vorgarten blühten, genauso schön, genauso lebendig, genauso farbig wie die Blüten auf der Wiese waren. Weil sie aber so allein war, weil ihre Eltern ständig Angst um sie hatten, fühlte sie sich sehr eingeengt. Seit Bonifatia in das Schloss gekommen war, hatte sich schon sehr viel verändert. Auch ihre Eltern lächelten sie an, wenn sie an der Hand von Bonifatia das Schloss verließ.
Liane hatte schon einige Zeit auf der Wiese verbracht. Es wurde Zeit, dass sie mit Bonifatia sprach. Sie würde ihr sicher noch mehr erklären können.
“Wieso sind die Pflanzen so fröhlich?“ wollte Liane als erstes von Bonifatia wissen, als sie wieder bei ihr angekommen war. “Das erkläre ich dir gerne. Aber du musst mir erst einmal sagen, was du alles erlebt hast.“
Bonifatia erfuhr von der Biene, die im Auftrag eines Menschen speziellen Nektar von Blüten sammelte, um dann besonderen Honig herzustellen. Sie hörte von den Steinen im Bach, die den Geschichten des singenden Baches lauschten. Sie hörte von dem Gesang der Blüten, bei dem Liane hatte einstimmen können. Die Zeit verging wie im Flug, anders, als wenn Liane gelangweilt und unglücklich in ihrem Zimmer oder im Park mit ihren Spielsachen gespielt hätte.
„Warum ist das so?“
„Was?“ fragte Bonifatia zurück.
“… dass die Menschen, die nichts oder wenig haben, glücklicher sind, als wenn sie alles haben?“
“Nun, die Natur ist nicht nichts“, schmunzelte sie Bonifatia an. "Es ist leider so, dass die Menschen die Natur für so selbstverständlich nehmen. Sie denken wenig – oder vielleicht gar nicht – darüber nach, dass die Natur ein unvergleichliches Geschenk für alle ist. Die Tiere wissen das noch. Denk an die Biene, oder die Schmetterlinge. Sie freuen sich an den Pflanzen. Die Menschen glauben ganz schnell, dass nur materielle Dinge zählen. Wenn wir am Rand des Dorfes an den blühenden Streifen Wiese vorbeikommen, kannst du einen Strauß für deine Familie mitnehmen. Deine Eltern werden sich sicher freuen, und für dich ist es eine Erinnerung an ein wunderbares Erlebnis.“
Liane wusste, wie gut es Bonifatia mit ihr meinte. Sie wusste auch, dass sie ihr noch eine Menge zeigen würde. “Ja, wir werden noch einige Male auf die Wiese gehen. Da gibt es noch so vieles zu entdecken. Aber das hättest du heute gar nicht alles fassen können. Denn im Grunde ist die Welt ein so gigantisches Wunderwerk, dass man viel Zeit braucht, um alles genau zu studieren. Außerdem neigen die Menschen dazu, das immer wieder schnell zu vergessen. Dann werden sie unglücklich, so wie du es gewesen ist.“
“Ich werde mich bemühen, den Ausflug heute nicht so schnell zu vergessen. Dazu war der Ausflug viel zu schön.“
Als Liane ins Schloss kam, stellte sie sogleich den Wiesenblumenstrauß auf den langen Tisch. Ihre Eltern staunten nicht schlecht, denn seit Jahren hatten sie keine so gewöhnlichen Blumen, wie sie es nannten, bei sich stehen gehabt. Die Freude ihrer Tochter an den Blumen und daran, sie selbst gepflückt zu haben, färbte auf sie ab und sie verbrachten einen heiteren Abend, so wie es schon lange nicht mehr gewesen war. Es schien, dass in den Eltern auch eine Veränderung vorging, seit Liane sich mit der Hilfe von Bonifatia aufgemacht hatte, die Schönheit der Welt und ihre Bedeutung für sich zu erkennen.