Читать книгу Die Reisen des Raben Maximilian - Nora Olafson - Страница 5
Pläne
ОглавлениеNina und Lukas telefonierten regelmäßig. Zwischen ihren Besuchen an Wochenenden war dies die wichtigste Möglichkeit für sie, miteinander in Kontakt zu bleiben. Wir bekamen natürlich immer nur mit, was Lukas erzählte. Aus seinen Reaktionen vermuteten wir, was sie ihm gesagt hatte.
Aber an einen besonderen Samstag damals erinnere ich mich immer wieder mit einem Staunen. Nina und Lukas kannten sich damals noch nicht sehr lange. Nina fragte unseren Papa, ob er Lust habe, sie auf einer längeren Reise auf einem Kreuzfahrtschiff zu begleiten. Sie werde in diesen Wochen dort arbeiten. Unser Papa erwähnte das einmal kurz. Natürlich konnten wir uns damals nichts darunter vorstellen. Von den Plänen, die sie sehr bald schmiedeten, bekamen wir nicht viel mit. Wir vermuteten, dass es die erste von mehreren Reisen sein würde. Es wäre uns viel zu kühn erschienen, davon zu träumen, irgendwann einmal mitfahren zu dürfen. Damals hatte ich kein großes Bedürfnis, länger zu verreisen. Ich wusste zu wenig davon. Als Rabe in der Buchhandlung war ich niemals weggekommen. Als mich Lukas damals aus der Buchhandlung mitnahm, lernte ich die Welt draußen kennen. Sie erschien mir laut und hektisch. Ich musste mich erst langsam an den Lärm gewöhnen.
Als ich nach den ersten Eindrücken von einer Stadt bei Lukas einzog, war die Welt da draußen inzwischen spannend und aufregend, so dass ich sie als Abenteuer empfand. Ich freute mich aber auch immer sehr, wenn wir dann wieder zu Hause waren. Deshalb haben wir auch gar nicht gedacht, dass ich eines Tages mit auf die großen Fahrten gehen würde. Das wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Allein schon darüber, dass wir die Reisepläne von Nina und Lukas mitbekamen, freuten wir uns. Das war schon ein bisschen wie Mitreisen. Mindestens einmal im Jahr waren die beiden in den folgenden Jahren unterwegs. Ihr wisst, dass Lernen zu meinen größten Vergnügen gehört. Über viele Monate saß ich jeden Nachmittag auf der Tischecke bei Felix, dem Jungen, der in der Nachbarwohnung wohnte. Ich schaute ihm zu, wie er Hausaufgaben machte. Ich sog alles auf, was ich lesen und hören konnte. Am Anfang war das sehr anstrengend. Ich lernte ein bisschen Mathematik, dann ein bisschen Englisch, Deutsch. Dann kamen die Nebenfächer dran: Erdkunde, Pflanzen und Tiere (der Name dieses Faches ist ein für mich schwieriges Wort, und ich habe lange gebraucht, bis ich es aussprechen konnte: Biologie). Was mir das Lernen schwer machte, war, dass der Lernstoff viele Dinge voraussetzte, die Felix bereits früher gelernt hatte. Einmal nahm ich allen Mut zusammen und fragte ihn, als er fertig war, so dass ich ihn nicht störte: „Was ist eigentlich das Nordkap?“ Ich hatte Lukas bei einem Telefonat sagen hören: „Dann sind wir beide das erste Mal zusammen am Nordkap.“ Es klang, als ob dies ein ganz besonderer Ort wäre. Felix war über meine Frage erstaunt, denn er hatte schon gelernt, was das Nordkap war und wo es lag. Aber es fiel ihm dennoch schwer, nachzuvollziehen, wie das ist, wenn man selbstverständliche Dinge nicht weiß oder noch nichts von ihnen gehört hatte. „Das Nordkap ist das nördlichste Ende von Europa“, erklärte er mir. „Aber so einfach ist das nicht: Inzwischen weiß man nämlich, dass der Felsen, der so heißt, nicht der nördlichste Fleck Europas ist. Aber die Menschen sind das inzwischen so gewohnt. Es würde ihnen schwer fallen, wenn heute ein anderer Felsen als der nördlichste gelten würde. So sagen sie Nordkap zu dem nicht am nördlichsten liegenden Felsen.“ Felix hatte eine wunderbare Art zu erklären. Bei ihm schien das so leicht. Wie gerne hätte ich einen richtigen Schulunterricht besucht. Ich hatte den Eindruck, dass es Felix auch Freude bereitete, mir meine Fragen zu beantworten. Ich verlor langsam die Scheu, sie zu stellen. Ich wusste nie, ist eine Frage richtig oder ist sie dumm. Ich musste noch so vieles wissen, um einigermaßen den Überblick zu haben. Gute Fortschritte machte ich mit dem Schreiben. Da meine Flügel kleiner waren als üblich, war es nicht nur schwierig, genau gesagt unmöglich zu fliegen. Es war auch schwierig zu schreiben. Ich musste bei meinen Versuchen den Stift immer sehr weit hinten anpacken, und das machte das Schreiben zwar nicht unmöglich, aber sehr schwierig. Bei Felix lernte ich, wie das bei den Menschen ist, wenn sie Linkshänder sind. Da ist es auch nicht leicht, so zu schreiben, dass man nicht mit der Hand über die Tinte wischt. Aber Felix hatte das mit Übung gelernt. Und wenn er das konnte, dann wollte ich mich dem auch stellen. Wir sprachen immer wieder einmal über das Lernen. Ich beobachtete, dass es Felix zunehmend leichter fiel. Einmal kam seine Mutter früher von ihrer Arbeit nach Hause und sah uns beide auf der Terrasse sitzen. Ausgerechnet an diesem Tage konnte Felix erzählen, dass er eine wirklich gute Englischarbeit geschrieben hatte. Bis zu diesem Tag hatte er sich immer mit mäßigem Erfolg gequält. „Das ist ja ganz toll“, die Mutter von Felix umarmte ihn. „Ich freue mich so für dich. Du wirst sehen, es wird dir immer leichter fallen.“ Und an mich gewandt fügte sie hinzu „Ich freue mich, dass du da bist. Deine Freude am Lernen ist richtig ansteckend für Felix.“ Sie setzte sich zu uns an den Tisch und schlug vor, dass wir zum Ende des Lernens ein Spiel machen sollten. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich ein Würfelspiel kennen. Das hat so viel Spaß gemacht. Ich nahm den Würfel in meinen Schnabel und ließ ihn auf den Tisch fallen. Das allein schon hätte ich stundenlang tun können. Dazu war es eine gute Übung, die kleinen Männchen auf dem Brett mit dem Flügel voran zu bewegen. Zum ersten Mal erlebte ich selbst, dass ich mit dem, was ich bei Felix lernte, etwas anfangen konnte. Beim Würfeln musste man die Punkte, die die Würfel anzeigten, zusammenzählen. Noch vor ein paar Wochen hätte ich das nicht gekonnt. Dieses Spiel war für mich ein hervorragendes Training. Mit meinem kurzen Flügeln die kleinen Figuren zu packen und an die richtige Stelle weiterzusetzen, war für mich gar nicht so einfach. Und natürlich hatten wir einen Heidenspaß, wenn wir einen anderen aus dem Spiel werfen konnten. Für Felix war es nicht so einfach zu erleben, wenn ein anderer seinen Platz einnahm und seine Figur wieder zurück musste. Ihm fiel es schwer zu verlieren. Während die anderen beiden würfelten, machte ich mir so meine Gedanken über das Spiel. Es schien mir so, als ob dieses Spiel ein gutes Beispiel für das Leben sei. Manchmal gewinnt, und manchmal muss man auch wieder von vorne anfangen. Fridolin hatte sich bei einem kühnen - man könnte auch sagen unvorsichtigen – Ausflug auf die Terrasse den Flügel gebrochen. Oder Kwautsch hatte es noch viel schlimmer erlebt. Er erreichte damals einen mächtigen Tiefpunkt, als er aus einem Spielwarenladen zu Sören in das Kinderzimmer kam und erleben musste, dass dieser schlecht mit ihm umging. Sören war das Kind, bei dem Kwautsch eine Zeitlang gelebt hatte. Aber er hatte uns noch nicht die ganze Geschichte erzählt. Wir wussten nur, dass er damals sehr gelitten hatte. Das Leben ist wohl ein ständiger Wechsel zwischen hoch und tief, schön und traurig, erfolgreich und erfolglos … eigentlich genauso wie dieses Spiel. Insgeheim hoffte ich, es würde sich wieder einmal die Gelegenheit geben, ein solches Spiel zu machen. Vielleicht könnte ich auch unseren Papa dazu bringen, uns ein solches Spiel zu schenken. Denn wir waren schließlich vier. Und dieses Spiel war für vier gemacht. Wir würden sicher viel Spaß damit haben.