Читать книгу Afghanistan Horsegirl - Norbert F. Schaaf - Страница 6

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3 Die Höhle

Sie gingen den Höhenpfad am Rande der tiefen Schlucht entlang in nordwestliche Richtung. Haschem und Hermann schritten leichtfüßig voran, befreit von den Lasten der Stahlseilrolle und der Metallstangen. Leicht zu Mut war ihnen dennoch nicht, der Weg zurück zu dem Pick-up war ihnen versperrt, und sie wussten nicht, was sie nun erwartete. Der Weg wurde allmählich breiter und abschüssig und führte in einem Bogen in ein Tal, das im unteren Teil am Grund überraschend grünen Bewuchs aufwies. Sie erreichten eine Stelle, wo ein schmaler Wasserfall den Berg senkrecht herabstürzte, einen kleinen Teich bildete und als dünnes Rinnsal talwärts plätscherte. Es wurde kurz gerastet, um zu trinken. Nach der nächsten Wegbiegung öffnete sich das Tal ein wenig und machte Platz für Büsche und Bäume und eine Wiese, deren Gras an verschiedenen Stellen abgeweidet war. Spuren von grobstolligen Motorradreifen furchten den Boden, äußerlich getrocknete Pferdeäpfel lagen umher, und sich ausbreitende Fährten führten zu einer Tränke am Bach. Wo sind die Pferde tagsüber, fragte sich Hermann, und wie viele werden sie haben?

Nach einer Weile war Pferdewiehern zu hören, lange bevor die Tiere zu sehen waren, eingepfercht in eine Seilhürde um die Stämme schlanker Nadelbäume, und sie wandten ihre Köpfe den herannahenden Männern zu. Eines der Pferde war Hermann nicht unbekannt: der Schecke des jungen Menschen, Aliz.

„Schöne Pferde habt ihr“, sagte Hermann beflissen, „gute Pferde.“ Er wendete sich Aliz zu. „Dein Pferd ist auch darunter, nicht wahr, Aliz? Lass mich raten, welches es ist.“

Aliz zuckte die Achseln, jedoch mit großen, wissbegierigen Augen.

Ein rundes Dutzend Pferde befand sich im Pferch, mehrere Braune, zwei Graue, ein Schimmel, drei Rotfüchse, eine fahlgelbe Stute und ein kleiner, fahlgelber Hengst mit braunen Flecken. Die Tiere gingen im Schritt umher, mit beweglichen Ohren und aufmerksamen Augen. Hermann ließ seinen Blick über sie schweifen, bevor er jedes einzelne bedachtsam betrachtete.

„Es ist der Schecke“, sagte er schließlich, als habe er es sich gerade erst überlegt und sich für den kleinen Hengst entschieden.

„Wie kommst du darauf?“ wollte Aliz wissen. „Das musst du mir erklären.“

Hermann hob eine Augenbraue. Aha, dachte er, da will der des Lesens Unkundige meine Berechtigungskarte checken. „Du bist als Wächter für die Sicherheit der Leute zuständig und bildest meist die Nachhut. Da willst du nicht gerne von den falschen Augen erspäht werden und trägst Kleidung in den Farben der Felsen – wie dein Hengst. Wie heißt er?“

„Jahil“, antwortete Aliz mit Stolz in der Stimme. „Er ist das schnellste und wendigste Pferd in ganz Nordafghanistan.“

„Das glaube ich dir, Aliz“, sagte Hermann lächelnd. „Ein feuriger Steppenhengst für einen kühnen Steppenreiter.“

„Warum lächelst du so?“ fragte Aliz zweiflerisch mit gehobener Stimme, sodass die Pferde die Köpfe hoch empor reckten und wachsam herschauten.

„Jahil ist vor kurzem scharf geritten worden“, erklärte Hermann, wobei er seinen Blick zwischen dem Hengst und Aliz hin und her schweifen ließ. „Du musst es sehr eilig gehabt haben. Bist du von etwas davon geritten oder wolltest du schnell irgendwohin kommen? Oder was hat dich gehetzt?“

„Ich lasse mich nicht hetzen“, versetzte Aliz rasch und heftig, „von nichts und niemandem. Nicht mal von Dämonen.“

„Du hast Jahil gehetzt“, sagte Hermann fest. „So wie sie dich gehetzt haben?“

„Was redest du da? Niemand ist gehetzt worden, weder Jahil noch ich.“

„Du hast Jahil durchs Unterholz gehetzt“, behauptete Hermann, „oder er hat Peitschenschläge zu spüren bekommen. Du siehst nicht aus wie einer, der das Pferd schlägt, das ihm wert und teuer ist.“

„Du weißt gar nichts, Fremder.“

„Ich weiß, dass dein Hengst ein wenig lahmt. Was ist passiert? Ist Jahil gestürzt oder hat er sich im Sprung die linke Vorderhand angeschlagen?“

„Es ist nichts. Jahil hat sich vielleicht den Huf ein wenig vertreten. Der Weg ist manchmal ziemlich schief und recht schmal.“

„Er hat außer den Kratzern an den Augen und am Maul auch eine Schwellung am oberen Schienbein, die nicht gut aussieht.“

„Die ist frisch. Hat ihm der große Braune da drüben versetzt. Letzte Nacht. – Wie kommt es, dass du etwas von Pferden verstehst, German? Ich denke, du bist Ingenieur.“

„In diesem Land muss man etwas verstehen von allen Fortbewegungsmitteln. Wenn man weg muss oder wenn man irgendwohin will.“

„Ich will nirgendwohin“, sagte Aliz mürrisch. „Und ich lasse mich nicht hetzen. Von niemandem, hörst du? Mit welcher Berechtigung kommst du Fremder hierher und sagst mir, was ich zu tun habe?“

Der junge Mensch ist kompliziert, dachte Hermann, eigentlich immer eine reizvolle Herausforderung für mich – wenn er eine Frau wäre. „Tue ich das?“ fragte er herausfordernd. „Mit keinem Wort habe ich derartiges gesagt.“

„Aber gedacht! Ihr Fremden denkt, dass ihr alles besser wisst, und dass wir tun sollen, was ihr für richtig haltet.“

Die Männer standen nun alle um den Pferch herum und schauten auf den fahlgelben Hengst, auf dessen Fell Schatten- und Lichtreflexe spielten und die scheckigen Flecken vervielfachten.

„Ich bin hier, um zu helfen“, sagte Hermann, „meine Hilfsorganisation schickt mich im Lande herum, wo immer es etwas zu tun gibt. Die Leute sagen mir, was sie benötigen, und ich führe es aus, wie sie es haben wollen. Zuletzt hat man mir gesagt, ich solle diese Seilbrücke instandsetzen, benutzbar für Maultiere und ihre Führer. Wenn ich Hilfe brauche, bitte ich darum. Gewiss bin ich ein Fremder hier, ich habe mir nicht ausgesucht, wo ich geboren wurde, und in meinem Land halten sich afghanische Landsleute auf, dort sind sie die Fremden.“

„Sie sollten lieber hier sein“, sagte Aliz bitter, „und mithelfen, das Land aufzubauen und zu modernisieren.“

„Sie werden hier verfolgt und mit Gefängnis oder gar Tod bedroht, deswegen sind sie geflüchtet.“

„Alle können sie uns nicht verfolgen und ins Gefängnis sperren oder töten. Wenn alle zusammenhalten würden, hätten wir die Macht und nicht die anderen.“

Hermann sah die Männer lebhaft zustimmen. Aliz ist kein schlechter Kerl, dachte er, im Gegenteil, alle sind sie gute Kerle. Sie sind in Ordnung, und so sind es prächtige Kerle. Es gibt kaum Ihresgleichen, wenn sie gut sind und in Ordnung. Wenn sie aber spielen wie beim Buskashi, dann gibt es keine schlimmeren Kerle als sie, das kann jedermann leicht erkennen. Sie haben die besten Pferde der Welt, aber stehen sich selbst im Wege. Sie sind mal wie Schakale, die vom Wolfsrudel gehetzt werden, mal wie Schakale die einen Wolf hetzen. Wölfe sind sie nicht. Wölfe werden ausgerottet.

Er sieht nicht nur gut aus, für einen Ausländer, dachte der junge Mensch, der sich Aliz nennen ließ, er ist auch charakterfest und lässt sich nicht einschüchtern. Die Menschen sind alle gleich auf der Erde, hier oder anderswo, bei den Paschtunen, Hasaras, Tadschiken, Usbeken oder bei den Briten, Russen, Amerikanern oder den Deutschen oder irgendwelchen anderen Völkern, da gibt es gute und schlechte, mehr oder weniger talentierte, faule und fleißige, schwache und starke, friedliche und aggressive, alle sind sie Menschen, jeder wie er ist mit der gleichen Lebensberechtigung, und jeder Mensch besitzt seinen ganz einzigartigen Charakter. Aber doch sind manche einem sofort sympathisch, viele mehr oder weniger gleichgültig, ein paar sogleich unsympathisch. Dieser Deutsche, den sie German nennen, ist mir sympathisch, sehr sympathisch. Er könnte beinahe einer dieser verehrungswürdigen Albinos sein, mit seinen hellen Augen und Haaren, denen Allah die normalen Farbpigmente genommen, dafür jedoch außergewöhnlichen Verstand gegeben hat.

„Ich habe Hunger“, sagte einer der Männer, die anderen aus ihren Gedanken reißend. „Gehen wir hinein essen.“

Mit beifälligem Gemurmel folgten ihm die Männer unter den Blicken der neugierigen Pferde.

Nur Haschem und Hermann blieben zurück, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Sie stiegen mit dem Sattelitenfunkgerät der neuen Kameraden auf die nächste Anhöhe und versuchten Kontakt mit ihrer Einsatzzentrale aufzunehmen. Nach mehreren Versuchen meldete sich zwar eine Stimme, schwer verständlich in abgehackten Lauten, doch sie wurden falsch weitervermittelt, und dann waren plötzlich die Akkus leer und damit jede Verbindung zu den Ihren im Norden abgerissen. In ihr Schicksal ergeben und unverdrossen kletterten sie den Felshang hinunter, um sich zunächst der Gruppe um Aliz anzuschließen.

Das kann ja heiter werden, dachte Hermann. Hoffentlich sind die Männer nicht nur in Ordnung und gute Kerle, sondern auch heitere Menschen. Gute Menschen sind immer heiter, heiter und musikalisch. Ich werde schon mit ihnen zurechtkommen, schließlich bin ich Brückenbauer, sogar mit dem jungen Menschen in seiner weichen Schale mit dem harten Kern. Ein eigenartiger Mensch. Er wirkt ein wenig androgyn, mit einer Spur mehr femininen Zügen als maskulinen. Doch das liegt wohl an seiner Jugend. Wie alt er sein mag? Der Menschenschlag hier ist altersmäßig schwer einzuschätzen. Die jungen Männer wirken bereits mit vierzehn, fünfzehn Jahren sehr erwachsen. Da muss Aliz noch sehr jung sein und ein Spätentwickler dazu.

Hermann hielt inne. Was machst du dir da bloß für Gedanken, schalt er sich, hör jetzt auf zu denken. Wenn das so einfach wäre, war sein nächster Gedanke, Gedanken macht man sich nicht, Gedanken kommen und gehen, sie schießen einem durch den Kopf, ob man will oder nicht. Nur wenig kann sie aufhalten. Hunger zum Beispiel, dachte Hermann, bevor er noch das Knurren des eigenen Magens vernommen hatte. Ich habe Hunger wie ein Wolf, dachte er, oder wie ein Schakal? Ganz egal, Hauptsache, man bekommt bei Aliz und seinen Leuten etwas Gutes zu essen.

Sie hatten die Talsohle wieder erreicht und schritten an dem Pferch vorbei in die Richtung, die die Männer vorhin gegangen waren. Das war ein guter Platz hier. Man konnte die Seilhürde erst bemerken, wenn man quasi unmittelbar davor stand. Die Baumkronen spendeten Schatten und Sichtschutz. Von der Luft aus würde kein Lager von Menschen mit ihren Tieren zu erspähen sein. Und von einem menschlichen Lager war hier weit und breit nichts zu entdecken. Es schien auch keine Wachen zu geben. Hermann sah sich gründlich um, als er mit Haschem näher hinzu schritt. Ein Lager war immer noch nicht auszumachen, und sie standen schon beinahe direkt vor dem Steilhang des Tales mit einer tafelglatten, berghohen Felswand.

„Nun, German, was meinst du?“ fragte Haschem.

„Gar nicht mal so schlecht, Haschem“, erwiderte Hermann. „Wo habe ihr die Kräder?“

„In einer Nebenhöhle“, antwortete Haschem. „Es sind gute, leichte Geländemaschinen, nur hapert es an Kraftstoff, seit die Brücke nicht mehr intakt ist. Mit dem Restsprit hat sich ein Kamerad auf den weiten Umweg übers Gebirge gemacht.“

Unvermittelt klaffte über Felsgeröll am Bergfuß ein großes Loch, das sich zu einer geräumigen Höhle auswuchs. In einer Nische am Eingang, von den Sonnenstrahlen unerreichbar, saß ein Mann in Nomadenkleidung und hantierte mit einem langen Draht. „Seid gegrüßt“, sagte er, „wenn ihr Freund Haschem und der Brückenbauer seid.“ Er hatte natürlich Haschem frühzeitig an der Stimme erkannt und ihn den Namen „German“ sagen hören. Ohne aufzusehen werkelte er an dem dünnen Metallstrang weiter.

Hermann setzte seinen Rucksack innerhalb des Höhleneingangs ab, Haschem tat desgleichen. Aus dem Innern der Höhle drangen die Saitenklänge einer Dambura.

„Wir sollten das Zeugs nicht so nah nebeneinander lagern“, sagte Hermann und horchte befriedigt.

„He, Mukhi“, rief Haschem den Drahtbieger an. „Schaff meinen Rucksack in die Höhle. Ganz nach hinten.“

„Drinnen brennt Feuer“, gab Mukhi zurück. Seine schwarzen Augen glühten in einem dunkelbraunen, herben Ledergesicht.

„Das macht nichts, wenn es nicht auch Kapseln sind“, sagte Haschem. „Also los!“

Mukhi, der Nomade, brummelte etwas vor sich hin, was sich nach Flüchen und Verwünschungen anhörte.

„Mach schon!“ befahl Haschem scharf.

Der Nomade rührte sich immer noch nicht, sondern zischte: „Ich rühr´s nicht an, Mann, und wenn´s dreimal in die Luft fliegt.“

„Dann wärn wir dich immerhin los samt deinem kranken Nomadenhirn“, schimpfte Haschem.

Mukhi bastelte ungerührt an seinem Draht weiter. Sieht aus, dachte Hermann, als wenn er ihn aus einem Stahlseil von der Hängebrücke herausgedreht hat.

„Was wird das, wenn´s fertig ist?“ fragte Hermann, der Brückenbauer, den Nomaden gleichwohl beschwichtigend und setzte sich neben ihn.

„Für den grauen Wolf“, antwortete Mukhi, „mit einer Schlinge, in der er sich fängt und verendet.“ Grinsend und dabei seine bräunlichen, schadhaften Zähne zeigend deutete er Hermann mit einer Gebärde das Zuziehen der Schlinge um den Hals an. „Todsicher“, sagte er.

„Er fängt damit Langschwanzmurmeltiere“, sagte Haschem. „Er ist Nomade. Darum redet er immerzu nur vom Grauwolf. Die grauen Wölfe gibt es hier wirklich, aber falls er tatsächlich einmal einen fangen sollte, wird er vom indischen Elefanten sprechen oder mindestens vom Schneeleoparden.“

„Und wenn ich den Schneeleoparden fange?“ sagte Mukhi, „was dann?“ Zähne zeigend blinzelte er Hermann an.

„Dann wirst du vom Schneemensch reden“, sagte Haschem. „Von Yeti höchstpersönlich.“

„Ich fang den Yeti“, rief der Nomade munter. „Natürlich: Ich fang den Yeti. Und dann kannst du reden, Haschem, wovon du willst.“

„Nomaden sind große Schwätzer“, sagte Haschem verächtlich abwinkend, „aber kleine Jäger“, und zog Hermann in die Höhle hinein, der im Losschreiten seinen Rucksack ergriff, beinahe wie der Buskschi-Reiter den kopflosen Hammel. Er wusste die Rucksäcke mit ihrem Inhalt nicht gerne so nah beieinander. Das Spiel der Dambura klang lauter und der Duft von einem Reisgericht waberte ihnen entgegen, und Hermann freute sich, dass es jetzt etwas für seinen knurrenden Magen geben würde.

Die Männer saßen dicht gedrängt am Boden um eine große kupferne Platte mit Qabeli, einem Gericht aus braunem Reis mit Zwiebeln, Rosinen, Karotten und winzigen Lammfleischstücken. Daneben lag ein Tuch ausgebreitet, Platz für eine weitere Speiseplatte. Haschem setzte sich ohne weiteres daran mit gekreuzten Beinen und bedeutete Hermann mit knapper Geste, es ihm gleich zu tun.

Die Höhle war dürftig erhellt durch das flackernde Licht von mehreren rußenden Fackeln in Halterungen an den Felswänden. Bestimmt besaß die Höhle einen Abzug.

„Ich habe Hunger wie ein Grauwolf“, sagte Haschem. „Oder besser gesagt wie drei Grauwölfe.“ Er lachte meckernd vor sich hin. „Na siehst du“, rief er, „da kommt das Essen schon.“ Damit deutete er auf eine alte Frau, die eine mittelgroße Kupferplatte mit Qabeli herantrug und vor den beiden Männern auf dem Tuch abstellte. Aus ihrer Schürzentasche holte sie drei Gläser hervor und stellte sie auf das Speisetuch. Vom Feuer nahm sie einen Drahtkorb mit Fladenbrot.

„Schau mal, wer den Tee bringt“, sagte Haschem.

Der junge Mensch, der alten Frau auf dem Fuße gefolgt, kam mit einem Samowar in der Hand herzu. „Sei gegrüßt, Aliz“, sagte Haschem zu dem jungen Menschen, der in die Hocke ging zwischen die beiden Männer, um den Samowar abzustellen, und sogleich anfing, die Teegläser zu füllen. „Seid gegrüßt“, sagte er dabei. Die Männer sahen ihm zu und sein Gesicht jeweils von der Seite, und Hermann meinte etwas darin zu sehen, was er nicht definieren oder beschreiben konnte, wohl aber fühlen, da sein Herz höher schlug. Er war sehr bemüht, Aliz nicht anzustarren, aber auch nicht wegzusehen. Er sah das Gesicht nun nicht zum ersten Mal, doch das Seltsame darin kam in dem flackerigen Schummerlicht doppelt stark zum Ausdruck und auch doppelt geheimnisvoll. Der junge Mensch stellte das Glas mit dem heißen Tee vor ihn hin, und Hermann bemerkte wieder seine auffallend sehnige Hand mit schmalen, kräftigen Fingern. Die rötlichen Striemen und verkrusteten Kratzer auf dem Handrücken bezeugten unverkennbar die Peitschenschläge aus dem Buskashi-Spiel. Der junge Mensch setzte sich anstandslos dazu, und die Männer begannen eifrig zu essen, die ersten Reiskugeln, die sie sich in den Mund schoben, waren unrund und locker. Die Männer wischten sich das Fett mit den Handrücken vom Mund, nur Aliz, der kleine Reiskugeln formte, behielt den Mund sauber und aß weniger gierig. Er sah Hermann voll ins Gesicht mit fragendem Blick, ob ihm das Essen munde. Hermann erwiderte den Blick lächelnd mit bejahendem Ausdruck. Der junge Mensch ist wirklich ein hübscher Kerl, dachte er unwillkürlich, seine Zähne strahlend weiß und hübsch unregelmäßig hinter den vollen, schön geschwungenen Lippen. Gegen das Flackerlicht war der sehr feine Bartflaum in seinem braunen Gesicht deutlich zu sehen, Hermann empfand es spontan als sehr apart wie auch die hohen Wangenknochen, die ein wenig kantig aus dem hübschen Gesicht hervorragten. Er hat wirklich ein hübsches Gesicht, dachte Hermann, ohne den dunklen Flaum würde es ein bildschönes Frauengesicht für ein Cover abgeben. Hermann schlug unwillkürlich die Augen nieder, wegen der Art seiner Gedanken und der langen Dauer seines Blicks.

In diesem Moment erwiderte der junge Mensch Hermanns Blick, betrachtete das Gesicht mit den rötlichen Barthaaren und den herabfallenden rotblonden Haarlocken, der langen weißen Nase, den schmalen Lippen, dem Grübchenkinn, den Charakterfurchen und den heiteren hellblauen Augen. Kein übler Mann, dachte der junge Mensch, aber ein Westler und ein Ungläubiger. Der Gedanke mit dem Ungläubigen war nicht besonders ernst gemeint, Aliz war eigentlich überhaupt nicht gläubig, es war mehr gemeint als Synonym für „Fremder“ beziehungsweise „Ausländer“. Wenn ich bei ihm wäre in seinem Land, wäre ich fremd, schoss ihm durch den Kopf, und er schlug die Augen nieder, weil er das gedacht hatte, dass er sich bei ihm vorstellen konnte in dem fernen, seltsamen Land, das seine Soldaten herschickte, um einen Aufbau zu sichern, der kaum stattfand, weil alles sogleich wieder zerstört wurde, kaum dass es errichtet war. Aliz und Hermann blickten gleichzeitig wieder auf und einander in die Augen, und das Atmen fiel ihnen ein wenig schwerer und das Herzklopfen wurde spürbar stärker, sobald sie einander ansahen. Und beide ließen die Augen zwischen den Augenwinkeln hin und her wandern, ob sie nicht irgendjemand auffielen.

Man aß schweigend weiter, eine Reiskugel nach der anderen formend und in den Mund werfend jetzt. Das Reisgericht war delikat zubereitet, nach der Landessitte ein wenig fettig, aber sehr wohlschmeckend. Sie schlürften ihren Tee dabei, stießen dezent, wenn auch nicht völlig geräuschlos auf, und die Männer rieben sich zufrieden die Bäuche. Hermann wischte sich das Fett von den Lippen, während Aliz ihn unentwegt betrachtete und Haschem sich einzig um sein Essen kümmerte. Mit Stückchen von dem Fladenbrot wischten die Männer die Essensreste zusammen, und Hermann tupfte das würzige Fett auf, bevor er sich das Brot genüsslich in den Mund schob. Er beugte sich zur Seite, um Tee aus dem Samowar in sein Glas fließen zu lassen, derweil Aliz seine beobachtenden Augen nicht von ihm ließ.

Hermann schlürfte den dunkelbraunen, starksüßen Tee zur Hälfte aus, und sein Atem stockte unwillkürlich und verstörend, sowie er den jungen Menschen anblickte.

„Wie alt bist du, Aliz?“ fragte Hermann mit trockener Kehle, sodass er sich räuspern musste.

Haschem sah ihn kurz von der Seite an, mit angehobenen Augenbrauen auf den Tonfall von Hermanns Stimme lauschend, erhob sich mit einer lässig grüßenden Handbewegung an den Kopf und gesellte sich der Männergruppe nebenan zu, wo ein Platz frei geworden war.

„Alt genug“, gab Aliz Hermann zurück mit eindringlichem Blick.

„Du kommst aus der Steppe im Norden. Bist du ständig im Gebirge?“

„Nein. Eigentlich nur den Sommer über. Den Winter kann man nicht in den Bergen verbringen.“

„Aliz ist ein schöner Name.“

„German ist auch nicht schlecht.“

„Richtig heiße ich Hermann. Wo leben deine Eltern.“

„Im Paradies – wenn es nach ihrem Glauben geht.“

„Oh, das tut mir leid. Ist es denn nicht dein Glaube?“

„Mein Vater ist gestorben, als ich ganz jung war, er war schon alt und von Krankheit entstellt mit amputierten Gliedmaßen, und meine Mutter ist bei einem Bombenangriff deiner Fremdenbrüder umgekommen. Man hat ihre Leichenteile, oder was noch davon übrig war, einzeln aufgeklaubt und zusammen bestattet. Wie sollten sie so im Paradies sein?“

„Hast du Geschwister?“

Aliz schüttelte heftig den Kopf. „Nach meinem Vater hätte ich ein ... einen großen Bruder haben sollen.“ Er stockte kurz, bevor er fortfuhr: „Mich hat er nie geliebt. Ich war ihm zu klein und zu schmächtig für meinen Jahrgang. Meine Gelenkigkeit und Wendigkeit hat er nie bemerkt, geschweige denn gelobt.“

„Das ist jetzt Vergangenheit“, sagte Hermann.

„Es ging nie gut weiter für mich. Bis heute. Vor einiger Zeit haben mich die von Allah verfluchten Taliban geschnappt. Ich war schon in dem Bus, der uns in ihr Gefängnis bringen sollte. Er ist in eine automatische Sprengfalle bei einer Brücke gefahren und in die Luft geflogen, der vordere Teil voraus. Nur von den hinten Sitzenden haben welche überlebt. Die meisten der Gefangenen hat man wieder gefasst. Mich nicht. Nie mehr lasse ich mich erwischen und ins Gefängnis sperren. Eher sterbe ich.“

„Bist du verletzt worden?“

„Und ob! Doch an Stellen, die man nicht zeigen kann.“

„Tief im Innern, kann ich mir denken“, sagte Hermann. „Im tiefsten Innern des Gemüts.“

„Ja, so kann man sagen. Da bin ich in die Berge geflohen und habe mich diesen Leuten hier angeschlossen.“

Der Nomade schlenderte vorbei und verhielt bei dem, was er hörte. „Aliz ist mir über den Weg gelaufen, als er auf der Flucht herumirrte wie Falschgeld.“

„Unsinn“, sagte Aliz ärgerlich, „ich war auf der Suche nach Essen und Schutz. Das war nicht schön.“

„Deiner schönen Augen wegen habe ich dich aufgelesen. Wir haben ihn mitgenommen, obwohl viele glaubten, ihn zurücklassen zu müssen. Er war wirklich nicht gut drauf.“

Aliz schwieg verbissen. Hermann wurde mit einem Mal bewusst, dass er mit dem jungen Menschen nicht allein war und auch, dass er es vermied, ihm in die Augen zu sehen, da sich dann ein anderer, seltsamer Ton in seine sonore Stimme mischte.

„Du bist ein gutaussehender junger Mann“, sagte Hermann zu Aliz. „Deine Verlobte kann sich glücklich schätzen.“

„Ihm ist keine versprochen“, sagte Mukhi voreilig. „Und das ist auch gut so. Du hättest mal sehen müssen, wie er drauf war, als wir ihn mitschleppten. Und er ist noch lange nicht wieder auf dem Posten. Hat Rückfälle. Erst neulich ist er für eine ganze Woche verschwunden, und als er wieder auftauchte, war er schlechter drauf als zuvor.“

Aliz senkte missmutig die Augen, und sein Kopf war plötzlich rot angelaufen.

„Du wirst ja ganz rot“, sagte Hermann. „Warum?“

„Hat Angst, sein Gesicht zu verlieren“, sagte Mukhi.

„Unsinn“, versetzte Aliz. „Ich habe eine Wut, eine Mordswut.“

„Auf wen?“ fragte Hermann.

„Auf dich!“ erwiderte Aliz, immer noch mit hochrotem Kopf.

„Warum denn das?“ wollte Hermann erstaunt wissen.

„Weil du mich erröten machst. Ich will nicht rot werden, schon gar nicht vor einem Fremden.“

„Wirst du öfters rot?“

„Eigentlich nie.“

„Jetzt bist du rot geworden.“

„Ich werde mich zurückziehen, zu meinem Schlafplatz, ganz hinten in der Höhle.“

„Bleib nur, Aliz“, sagte Hermann.

„Damit ich noch mal rot werde? Nein! Ich gehe.“ Er drehte sich auf dem Fuße um und schritt ins Innere der Höhle.

Hermann schaute ihm nach. Sein Gang war voller Anmut, ganz im Gegensatz zu jener Unbeholfenheit, mit der die anderen Männer in ihren hochhackigen Stiefeln einherstapften.

Hermann goss sich noch einen Tee ein und schlürfte in kleinen Schlucken, während er sich seinen Gedanken hingab, die er von Aliz wegzulenken suchte, die aber immer wieder zu ihm zurückkehrten. So war er richtiggehend erleichtert, als er Haschem kommen sah, der sich neben ihm niedersetzte.

Sie besprachen ihr weiteres Vorgehen und kamen nach stundenlanger Beratung, etlichen Abschweifungen und vielem Hin und Her zu dem Entschluss, am nächsten Morgen in aller Frühe aufstehen zu wollen und einen Weg zurück zu dem Geländewagen zu suchen. Sie waren sich einig, dazu die Schlucht quer durchklettern zu müssen in schwierigem, gefährlichem Ab- und Aufstieg. Sie schlugen sich beizeiten in die Schlafsäcke, nachdem Haschem die Männer über ihr Vorhaben informiert hatte, die prompt ihre Rucksäcke mit einem langen Seil und Proviant versahen.

In den Schlaf vermochte Hermann lange nicht zu finden. Die Luft in der Höhle war stickig war, schwer vom Geruch der Reisspeise mit dem gebratenen Lammfleisch, von den Gewürzen und dem Öl, von den Düften der vielen, ihm unbekannten Kräutern, die in Büscheln von Leinen herabhingen. Die Luft war durchtränkt vom Geruch scharfen Menschen- und süßlichen Pferdeschweißes, eingebeizt in die Kleidungsstücke der Höhlenbewohner. Von irgendwo erklang leise eine Dambura und der Gesang des Nomaden, dessen Klang den Raum durchzog mit harter, hoher Stimme. Sie wurde abgelöst von einer eher weichen Stimme, der von Aliz, die leise, aber vollkommen klar sang:

„Wenn dieser Tag anbricht – ganz waffenstill,

Wenn dieser Tag anbricht – ganz waffenstill,

Wird freies Atmen sein – in einem lächelnden Land,

jedoch viel Zorn – noch übrig.

Wenn dieser Morgen kommt – ganz hell und frei,

Wenn dieser Morgen kommt – ganz hell und frei,

wird sehr viel Arbeit sein – in dem zerbombten Land,

doch es gehört – seinen Völkern.

Wenn dieser Morgen graut – in Afghanistan,

Wenn dieser Morgen graut – in Afghanistan,

wird manches andre Volk – nach seinen Herren sehn,

ist großer Zorn – noch übrig.“

Hermann atmete tief ein, lautlos seufzend, stark angerührt. Der Gesang hatte in ihm den Gedanken wach gerufen an eine längst vergangene Zeit, die er bei einer Tante und einem Onkel verbracht hatte. Der Onkel hatte ein kleines Gestüt besessen, doch es war die Tante gewesen, deretwegen die Pferdebesitzer nicht nur aus der Region, sondern sogar von weit her kamen, um ihre Pferde therapieren zu lassen. Tante Andrea galt als Pferdeflüsterin wegen ihrer Gabe, den Pferden Ängste nehmen und Macken austreiben zu können, allein durch ihr Verständnis der Natur dieser Tiere, und Hermann hatte über viele Wochen beobachten können, wie die Pferde sich untereinander verhielten, welche Körpersprache sie anwandten und worauf sie reagierten. Tante Andrea hatte aus ihrer Auffassungsgabe und ihrem Begriffsvermögen sowie der Uneinsichtigkeit und Begriffsstutzigkeit mancher Pferdehalter ungleich mehr Gewinn geschlagen als der Onkel aus der Vermietung der Pferdeboxen. Hermanns Gedanken der Erinnerung ließen die Pferde vor seinem inneren Augen willig ihre Reiterinnen im Sattel tragen, sich in Transportanhänger führen, und jetzt wechselten die Gedanken zu Aliz auf seinem Pferd bei dem Buskashi, unter den rauen Burschen unterschiedlichster Herkunft, die sich in den Sätteln bewegten, als seien sie darauf geboren; auf Pferden, fast ausschließlich Hengsten, feurig und kaum zu bändigen, Tiere mit denen man in eine Schlacht ziehen könnte, kein Vergleich zu den empfindlichen, kränkelnden Gäulen in den deutschen Vorstadtställen; vor den erregten Männern am Rande der Arena, die in jeder Faser ihres Körpers mitfieberten, vom jüngsten Knaben bis zum ältesten Greis; während der Frontreiter durch die gegnerischen Reihen pflügte, die wild um sich dreschende Peitsche in der einen Hand, den kopflosen Hammel in der anderen und die Zügel zwischen den Zähnen; mit einer exotischen Ausstrahlung an Kraft, Männlichkeit und Ehrgefühl, die wie die gänzlich fehlende Zimperlichkeit und die gleichzeitige überbordende Ruhmsucht diesem jungen Burschen Aliz so ganz eigenartig, ja befremdlich zu Gesicht stand. Darüber schlief Hermann ein, und schon der erste Traum führte ihn in eine zukünftige Traumwelt, in der er sein Glück fand mit der ersehnten Frau, die unverkennbar und verwirrend die Züge seines neuen jungen Bekannten trug.

Am anderen Ende der Höhle seufzte der junge Mensch Aliz tief auf. Ihm war, als könne das Dambura-Spiel etwas in ihm wecken, das längst verschüttet schien, als versuche aus der Tiefe der Zeit etwas in sein Bewusstsein zu dringen, das seinem Gedächtnis unerreichbar war. Der Geruch des Pferdeschweißes ließ die Erinnerung an seine Zeit als Stallknecht auf dem Gut des reichsten Clanchefs der Provinz in ihm aufblitzen, verklomm aber sogleich wieder wie der Kerzendocht in der Lampe und das Verstummen der Dambura und ließ ihn erschöpft in den Schlaf sinken, eintauchend in die Welt des Traums, führend ins frühere Leben wie in jeder Nacht, das frühere Leben weiter führen müssend auch wie in jeder Nacht, mit verhassten Gestalten und Geschehnissen, Gebäuden und Gegenden.

Schließlich herrschte in der Höhle nur mehr die Lautkulisse der Nacht in der Sprache des Schlafs: Schnarchen, Seufzen, Wimmern, Husten, Pfeifen, Bellen, Knurren, Blöken, Wiehern, Hufeklappern, Eselsschreie und Glöckchenbimmeln vereinigten sich zu der wispernden, halb tierischen, halb menschlichen Kakophonie einer skurrilen Traumdimension.

Hermann vermochte nicht wirklich einzuschlafen, er lag auf dem Rücken mit halb geschlossenen Augen und leicht offenstehendem Mund, und durch den Schlitz seiner Augenlider fiel sein Blick auf die an einem gespannten Seil herabbaumelnde kümmerliche Lampe, deren von zerschmolzenem Hammelfett genährte Docht rußend rauchte. Freilich verlieh gerade die Schmutzschicht auf dem Lampenglas dem nur schwach hindurchflimmernden Licht einen wohltuenden, gedämpften Schein, der, kaum stärker gefärbt als die zartfarbene Safranblüte, die Augen entspannte und barmherzig die Beschränkung, Dürftigkeit und Schmutzigkeit der Höhle und der Schläfer verschleierte.

Hermann glaubte kaum eine Stunde geschlafen zu haben, als er sich von Haschem unsanft geweckt fühlte. Durch den Höhleneingang schimmerte fahles Licht, der Morgentee war heiß, süß und belebend.

Sie säumten nicht lange und brachen auf, jeder seinen Rucksack geschultert.

Afghanistan Horsegirl

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