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Kapitel 5

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Im Esterházykeller

Nach einer wirklich anstrengenden Sitzung des Redaktionsausschusses, in der man ausführlich und ergebnislos über die Lohnentwicklung diskutiert hatte, pilgerten der Chefredakteur samt seinen Kollegen ausnahmsweise nicht ins nahe gelegene Stammcafé, nein, man lenkte seine Schritte in Richtung Stadtheurigen, in den Esterházykeller am Haarhof, 1. Bezirk, mit dem Grundgedanken, wenn dort seit 1683 guter Wein ausgeschenkt wird, sollte man voll Vertrauen auch heute noch dorthin gehen können. Immerhin hatte man die ehrwürdigen Katakomben im 19. Jahrhundert mit elektrischem Licht ausgestattet, trotzdem starrte die Öffnung des Einganges kaum weniger dunkel heraus als vor 300 Jahren und ließ jeden der Herren zuallererst respektvoll einen prüfenden Blick auf die ungeahnte Tiefe mit ihren 27 Stufen werfen, bevor man tatsächlich riskieren sollte, auf diesen in die unendlichen Weiten dieses berühmten Kellers hinunterzusteigen.

Unter großem Gestöhne und Gejammer schafften es die Zeitungsmenschen schließlich doch, in den untersten Teil dieses Weinrefugiums zu gelangen, um sich ebenso, wie weiland die tapferen Verteidiger Wiens gegen die türkische Belagerung, am frischen Weine zu laben. „Und? Wie geht´s dem Fräulein Tochter?“, fragte Carl seinen Kollegen. Erich verdrehte die Augen. „Heute Nacht durchgeplärrt. Die Zähne!“ „Na, da sind wir ja hervorragend ausgeruht, wie ich sehe. Könnte es sein, dass du vorhin in der Redaktion eingenickt bist?“ fragte Carl. „Das könnte nicht nur sein, diese Hypothese lässt sich absolut verifizieren“, lachte Erich. „Wo dürfen wir denn, wertes Fräulein?“, fragte der Chefredakteur. „Für zehn Personen? Im zweiten Gang links, wenn´s den Herren beliebt“, sagte die zierliche Serviererin artig. „Es beliebt, wenn´s nur rasch was zu Trinken gibt“, seufzte Dr. Brock voreilig „ich bin total ausgedorrt.“ „Bitte, vor Ihnen“, gab sich der Ressortchef für Innenpolitik wohlerzogen, denn er wusste, der Chefredakteur schätzte nun einmal gutes Benehmen. Schließlich nahm man an dem zugewiesenen Tisch Platz, wenngleich sich die Augen nur langsam an das schummrige Halbdunkel der sparsamen Beleuchtung gewöhnten und die ängstliche Blicke einiger Weniger, die über das uralte Ziegelgemäuer glitten, sich noch vorbehielten sich in Sicherheit zu wiegen, nur vorsichtig dem bereits servierten, frischen Wein zuwandten.

Auch schien an reichlich vorhandenem Sodawasser kein Mangel. „Wolfi“, sagte Carl zum Chefredakteur, „bitte sag´ doch ein paar Worte, bevor wir - du weißt schon. Ist alles feierlicher dadurch, oder?“ „Es wird Zeit, dass dem Schleichhandel endlich der Kampf angesagt wird, was?“ rief Dr. Brock voreilig in die Runde. Alle nickten stumm. „Ja, der Graue Markt“, sagte Carl, „als ob die Kaufleute nicht schon genug Ärger mit der blöden Marken-verrechnung haben!“ „Es ist eine Katastrophe“, fuhr Brock fort, „weil tatsächlich die gesamte legale Versorgung der Bevölkerung gefährdet ist.“ „Wartet noch, wir holen uns nur ein Weckerl vom Buffet“, bat Carl. Erich schloss sich ihm an. Auf dem Weg durch die engen Gänge meinte Carl:“ Ich bin schon froh, dass es hier noch was zu essen gibt. Zumindest müssen wir noch nicht wie die Berliner aus der Luft versorgt werden, was, Erich?“ „ Das tät´ uns noch fehlen“, seufzte Erich und fixierte die mit Essig- und Salzgurken gefüllten Gläser, den Topfenaufstrich, Bohnensalat, die kalten Schinkenfleckerl und einige Käsesorten mit starrem Blick, die in der gläsernen Vitrine aufgereiht waren.

„Preisfreiheit heißt das Zauberwort jetzt, hab´ ich gelesen.“ „Ja“, sagte Erich, „sie soll das Allheilmittel für sämtliche wirtschaftlichen Sorgen sein. Unser oberster Wirtschaftsplaner ist zumindest ein überzeugter Anhänger dieser Idee“. „Was wünschen die Herren?“ fragte die Dame hinterm Buffet. „Also, ich nehm´ ein Wachauerlaberl und ein kleine Portion vom Liptauer, bitte“, bestellte Carl, „und was hat er noch gesagt?“ wandte er sich zu Erich, „bei freien Preisen ist der Konsument der Herr der Produktion. Nicht wie bei den behördlichen, die uns dieser Rolle angeblich beraubt. Wenn die ÖVP schon einmal das Herz für die Konsumenten entdeckt, wird man leicht misstrauisch, was?“ Erich lächelte und zuckte mit den Schultern. „Mir bitte ein Schmalzbrot mit Zwiebel, ja?“ sagte er. „Schließlich weiß keiner, wie die Wahrheit aussieht, aber es ist zumindest ein Ansporn für Leistungsfähigkeit, oder? Wer wirklich konkurrenzfähig ist, und möglichst billig produzieren kann, wird vermutlich diese Zeit durchstehen können, glaube ich.“

„Naja, dieses sogenannte Konsumentenparadies, wenn es je existiert hat“, meinte Carl, „ ist Vergangenheit, denn der Monopolkapitalismus wird die freie Preisbildung nicht nur ausschalten, sondern wird sie verhindern, und er wird vor allen Dingen eines tun, nämlich Preis und Profit auf der Höhe halten, wir werden es ja erleben, denke ich“. „Bitte, die halten doch alle zusammen, damit das Absinken der Preise verhindert wird, das liegt doch auf der Hand“, sagte Erich und kostete im Gehen vom Schmalzbrot. Mittlerweile hatten sich allerorts zahlreiche Gäste eingefunden, auch ausländische Militärs waren darunter. Erich und Carl hatten wieder zu ihrem Tisch zurückgefunden, an dem längst rege Diskussionen liefen. „Sagt´s einmal, wo bleibt´s ihr denn solange? Ich hab´ nix trinken dürfen, bis dass ihr wieder bei uns seid, ich wäre beinahe verdurstet“, rief Dr. Brock schon von weitem. „Du ja, das schau´ ich mir aus der ersten Reihe an, dass du darauf gewartet hast“, lachte Carl. „Also, wieder glücklich vereint erlaube ich mir, euch allen zuzuprosten“, sagte der Chefredakteur und hob sein Glas. „Prost“, erschallte es vielstimmig.

Für einen Moment trat Ruhe ein. Jeder prüfte bedächtig, in kleinen Schlucken kostend und mit der Zunge schnalzend den kalten Welschriesling, einem der häufigsten Weine des Burgenlandes. Ein wirklich rassiger Wein mit etwas höherem Säuregehalt aber fruchtigem Bukett. Nachdem man die Gläser abgesetzt hatte, rechtfertigte sich Carl: „Wir haben da draußen ein wenig politisiert. Wir haben uns gedacht, die Herren, die jetzt für die freie Wirtschaft eintreten, sollten darüber nicht im Unklaren gelassen werden, dass dann mit der Profitsicherung Schluss sein muss, die sie sich bis jetzt durchgesetzt haben. Dann darf es nämlich auch keine gesetzlichen Handelsspannen, keine Genossenschafts- und keine Zwischenhandelsgesellschaften oder dergleichen mehr geben, sonst tauschen wir unsere Rolle der behördlichen Preiskontrolle gegen die der Profitmacher ein, oder?“

Allgemeines Gelächter. „Deinen Humor möchte´ ich haben“, sagte Leopold Lewandovsky.“ „Und deswegen hätten wir hier alle an Auszehrung sterben sollen?“ rief Dr. Brock entrüstet. „Könntet ihr vielleicht einmal eine Sekunde ernst sein?“, fragte Erich und lachte, um anzuschließen, „aber was ganz anderes, es gibt, wie ich heute gelesen habe, noch Männer, die den Mut haben, bei passender Gelegenheit energisch aufzutreten, und mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, um zu demonstrieren, dass mittlerweile auch die Geduld der Bauern zu Ende ist.“ „Was hat er denn jetzt wieder? Seit wann erklärt sich ein Stadtmensch wie du solidarisch mit den Agrariern?“, fragte der Chefredakteur ungläubig unter allgemeinem Amüsement. „Hat folgenden Grund“, fuhr Erich fort, „gewisse Kreise sind oft äußerst gehässig gegenüber der Landwirtschaft eingestellt, und die sehen nur die volle Schüssel da draußen, ohne zu kapieren, was landwirtschaftliche Arbeit tatsächlich bedeutet.“ „Aha“, nickte Carl geduldig. „Diese Herrschaften können auch nicht sehen, dass durch das Preisverhältnis zwischen Ablieferungspreis und den Kosten für landwirtschaftliche Geräte und so weiter ein schwerer Schaden entstehen wird.

Wir Städter, meine Herren, wissen nur allzu gut, was Hungern heißt. Wir könnten zumindest einen kleinen Beitrag zur Landarbeit leisten, wenn wir auf diese Zustände in unseren Kolumnen darauf hinweisen würden, meint ihr nicht auch?“ „Ach, daher weht der Wind“, entfuhr es Carl, „aber, ich kenn´ da einen Schweinebauern in Dings da draußen, der steckt unsere ganze Redaktion in den Sack, das sag´ ich euch, soviel verdient der an den Viechern. Davon können wir mit unserem Pimperlgehalt (niedriger Lohn) nur träumen! Ich hab´ nicht das Gefühl, dass ich den unterstützen muss, eher umgekehrt!“ Alle, außer Erich, fanden Carls Einwand ziemlich belustigend. Neuer Wein wurde bestellt, auch Soda. Die Stimmung war hervorragend und beinahe konnte man vergessen, was oberhalb der 27 Treppen draußen so vor sich ging. „Als ob wir keine anderen Sorgen hätten“, warf Kurt Gruber ein, der für die Gerichtsprotokolle zuständig war. „Nehmen wir einmal die Kommunisten her. Alles, was jetzt bei uns geleistet wird, versuchen sie kleinzureden. Sogar die Zeitung einer Besatzungsmacht stellt sich in allem und jedem gegen die Republik und unsere Regierung.

„Genau“, sagte Dr. Brock und wurde hochrot im Gesicht, „das glaube ich auch schon langsam. Die „Österreichische“ drängt die Gemeinden mit Hilfe der Ortskommandaturen zum Zwangsabonnement. Das ist eine Schweinerei sondergleichen! Wie würden die Kommunisten schreien, wenn das in anderen Zonen der Fall wäre, stellt euch das einmal vor!“ „Ich frag´ mich überhaupt, warum mit Steuergeldern die Zeitungen unserer Besatzer subventioniert werden sollen?“ fragte Gruber erbost. Vom benachbarten Gewölbegang hörte man russischen Männergesang und Gläserklirren. Eine Weile hielt man inne und lauschte. „Na servus“, sagte Carl leise, „besser, wir gehen vor denen nach Hause.“ In allen Gesichtern am Tisch lag ein wenig Angst. Angst, vorm Angepöbelt werden, Angst vor der Unberechenbarkeit des Fremden. „Ach was“, versuchte er die Kollegen abzulenken, „die Sozis werden die Quellen der Not schon verschließen, wie sie sagen, oder?“, und grinste vielsagend. „Also ich glaube, die arbeiteten Menschen haben längst durchschaut, was die Kommunisten und ihre Auftraggeber vorhaben, davon bin ich überzeugt“, meinte der Chefredakteur.

„Eben. Und darum haben wir auch unsere ganze Hoffnung auf die Amerikaner und den Herrn Truman gesetzt. Ich sag´ euch, solange wir die Freiheit nicht haben, und Leute wie die da“, Gruber sprach leise weiter, „wie die Kommunisten unsere Demokratie ernsthaft gefährden, sollten sich die Amis von den Russen nicht über den Tisch ziehen lassen.“ In diesem Augenblick meldete sich der eher introvertierte Lokalredak-teur, der sich bisher an seiner Tischecke eher im Hintergrund gehalten hatte, zu Wort: “Alles gut und schön. Aber wie schaut die Wirklichkeit aus, wenn ich einmal fragen darf? Was ist mit den Moneten?“ Leopold stellte sein Glas ab und wandte sich jäh Otto Karner zu. „Ich weiß, dass dir das Hemd näher ist als der Rock“, sagte er milde zu ihm, „mich würde das selber auch interessieren. Wer waren gestern die Chefverhandler, raus damit?“ Carl schenkte sich eben etwas Wein nach und grollte: „Zz, dass man nicht einmal beim Heurigen seine Ruhe hier herinnen hat. Mit euch geh´ ich noch einmal wohin, Pack, gieriges.“

„Pah, wenn er was weiß, und das die ganze Zeit gewusst hat!“, rief Brock, „unerhört so was, was sagt ihr dazu?“ Alle pflichteten ihm lautstark bei. „Hört´s auf, ich sag´ ja alles. Nur noch ein Schluckerl, ja? Wegen der Trockenheit. Also, auch wenn´s den Pelzmützen da draußen nicht passt“, er legte seinen Finger an Mund und zischte, „pssst! Es geht in Richtung eines modernen, demokratischen Presserechtes. Immerhin haben wir nach den letzten, höchst unangenehmen Auseinandersetzungen mit unseren lieben Besatzern, das muss ich schon sagen, erreicht, dass wir...“ Plötzlich torkelte eine russischer Soldat am Tisch vorbei, hielt sich an der Schulter des Chefredakteurs fest, und lallte etwas wie, „Dai siuda, schudak“, oder so ähnlich. Alle waren wie gelähmt. „Bleib ruhig!“, mahnte Carl, „bleib einfach sitzen“. Brock traten die Schweißperlen auf die Stirn. Er saß da wie gelähmt. Der Russe setzte Brock´s Glas an seine Lippen und trank es aus bis auf den letzten Tropfen. Dann stellte er es so heftig zurück auf den Tisch, dass es zerbarst. Die Splitter stoben in alle Richtungen davon. Alle duckten sich, niemand getraute sich, auch nur einen Pieps von sich zu geben.

Mit einem Male stand ein Offizier hinter dem ungehobelten Kerl, fasste ihn am Leibriemen, zerrte ihn unter lautem Gelächter hinter sich her in Richtung Toilette und rief den geschockten Redakteuren zu: „Wsiegda w piani! Charascho!“ Dabei lachte er aus vollem Halse. Eine Zeit lang saßen sie da wie die Ölgötzen. Carl brach den Bann, trank erst einmal vom Spritzer und sagte dann:“ Wenn ich nicht so eine Scheißangst vor diesen Mistkerlen hätte, ich tät´, ich weiß nicht was. Ich habe neulich eine Geschichte gehört, da war ein Ehepaar allein zu Hause, auf dem Land. Kommt so ein besoffener Iwan, klopft an der Tür. Sie macht auf, sieht den Kerl, ruft oh Gott, oh Gott und schreit nach ihrem Mann. Der ist mittlerweile beim Hintereingang hinaus und davon, hat die Arme allein gelassen. Ist eh nix passiert, Gott sei Dank. Schließlich hat er einen Schluck Wasser getrunken und ist wieder davon. Aber, stellt euch vor, was du da mitmachst, es ist verrückt, was?“

Alle nickten stumm und starrten vor sich hin. „Ich sag´ euch was, damit ihr auf andere Gedanken kommt.“ Während Erich nervös an seiner Zigarettenpackung herumnestelte, stieß Leopold das Glas von Gruber um, sodass sich die ganze Bescherung auf Brock´s Hose ergoss. „Bravo“, sagte dieser, „nur weiter so. Wird noch ein schöner Abend.“ Jetzt lächelten doch die ersten zaghaft. Die Kellnerin, die zufällig in der Nähe war, machte rasch sauber. „Kann ich jetzt?“ fragte Carl. „So, äh, also, es geht bei uns in Richtung eines demokratischen Presserechtes, wie wir alles wissen ...“. „ Fast wie im Zauberberg“, flüsterte Erich Otto zu, „da ist auch von zwei Russen-tischen die Rede. Von einem guten und von einem schlechten.“ „Ja“, sagte Gruber, „wir haben den schlechten heute.“ „Geh´ bitte“, mahnte Carl, „immerhin haben wir es bisher geschafft, zumindest eine Anerkennung unseres Vorhabens bei den Behörden durchzusetzen.

„Welch´ zittrige Freude, hat der Chef das genannt, richtig?“, warf Erich ein. Alle lachten. „Genau so war es“, fuhr Carl fort. „Gut. Also, nachdem wir so was Ähnliches wie Informationsfreiheit anstreben, unser Traum von den früheren Voraussetzungen der Vorkriegspension ausgeträumt ist und wir alle nicht wollen, dass in offiziellen Mitteilungen etwas anderes zu sehen sein soll, als bloß ein Licht, das uns wie ein Irrwisch in die Sümpfe führt, wollen wir dennoch festen Boden unter unseren Füßen haben, oder?“ Allgemeine Zustimmung. „Ein amtliches Kommuniqué ist für gewisse Zwecke sicherlich unentbehrlich. Allerdings kann es die Informations-freiheit eben so wenig ersetzen wie eine dirigierte Presse die freie Presse“, fügte er hinzu. Die sowjetischen Besatzer im Nachbargang sangen lauter. Carl musste gleichfalls lauter reden, um von allen verstanden werden. „Wie ihr auch wisst, hat es bisher eine Flut von Anträgen verschiedener Sektionen gegeben, die sich mit den Bedingungen dieses Kollektiv-vertrages nicht einverstanden erklärt haben. „Na, da kann man nix machen“, warf Leopold ein. „Also so - Moment, es wäre daher angebracht, Selbständigkeit, und zwar nicht nur der finanziellen Gebarung, sondern auch in manch anderer Hinsicht Selbständigkeit zu erlangen, nicht wahr?“ fügte Carl in Richtung Chefredakteur hinzu, der ihn freundlich anlächelte.

Die anderen applaudierten. „Seid ihr verrückt geworden?“ flüsterte Gruber, „einmal aufgefallen reicht, oder?“ „Vielleicht könnten wir sogar ein eigenes Organ oder Mitteilungsblatt diesbezüglich herausbringen“, schlug Erich vor. „Ja, könnten wir“, brummte Dr. Brock, „ und du machst die Redaktion, in Ordnung?“ „Natürlich könnten wir. Unser Problem liegt leider darin, dass wir trotz der alliierten Anerkennung noch immer keine klagbaren Ansprüche aus dem Vertrag gegen unsere Brötchengeber besitzen. Und das, meine Herren, sollte sich schleunigst ändern. Prost, Herrschaften!“ Carl nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. „Nussberger is´ es keiner“, konstatierte er kritisch, und schnalzte fachmännisch mit der Zunge. „Dir kann man es wirklich nicht recht machen, wie?“, ärgerte sich Leopold und klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Also, was ist jetzt mit dem Geld? Kriegen wir jetzt mehr oder nicht?“, fragte Otto ungeduldig.

„Moment, dazu komm´ ich noch. Wir haben - also, die Delegierten haben festgestellt, dass die derzeit geltenden Tarifsätze nicht mehr ausreichend sind ...“. „Hört, hört“, riefen alle durcheinander, „und wir haben uns daher wegen der entstandenen Verzerrung des Gehaltsgefüges an die Bundesregierung gewandt, indem wir gefordert haben, dass die Herausgeber, die nach wie vor auf ihrer unnachgiebigen und verständnislosen Haltung beharren, endlich erkennen, dass sie uns ganz einfach ausbeuten. Wir haben auch darauf hingewiesen, dass wir gewerkschaftliche Mittel ergreifen werden!“ Bravorufe! „In einer Demokratie muss Informationsfreiheit nach beiden Seiten hin wirken!“, rief Gruber. „Sehr richtig“, setzte der Chefredakteur fort, „und die Informationsquellen müssen frei und für alle zugänglich sein. Außerdem, wir müssen die Möglichkeit haben, unserer Informationen mit Hilfe der aktuellen Nachrichtenmittel, ungehindert durch jede Zensur und ohne jede Verzögerung verbreiten zu können, und drittens ...“.

„Und drittens muss er auch von seiner Arbeit leben können“, fiel ihm Carl ins Wort, „sonst können wir gleich zusperren!“ Allgemeiner, etwas verhaltenerer Applaus als zuletzt. „Und überdies gehört den Herrschaften vom Papierkartell eines auf die Pratzen geklopft!“, zürnte Brock, hochrot. „Genau. Die Sektion hat die Bundesregierung längst aufgefordert, gegen die willkürliche und völlig unverantwortliche Verteuerung vorzugehen“, fügte Carl hinzu. „Na und, mit welchem Erfolg? So was ist nicht nur ein Anschlag auf unsere wirtschaftliche Sicherheit, sondern gefährdet überdies auch die Presse- und Informationsfreiheit rigoros“, sagte Dr. Brock. „Ich sehe bereits schwarz für unser neues Wohnzimmer“, jammerte Otto, „ich hör´ meine Frau schon lamentieren: Hättest was G´scheites gelernt, du Hungerleider! Aber nein, einen Zeitungsschmierfinken muss ich heiraten.“ „Deine Gemahlin bewirft unsere Ehre mit Schmutz?“, fragte Leopold süffisant, „ich mein, ihr Herren, da werden wir sie einmal vorladen müssen, nicht wahr?“

Die kurz aufflammende Heiterkeit flaute sehr rasch wieder ab. „Du armer Mensch!“ Leopold schlug Otto väterlich auf die Schulter. „Sag´ ihr einfach, Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.“ „Was wisst ihr denn von meiner Frau“, sagte Otto mit nach oben gerichtetem Blick. Eine Zeit lang hörte man der Unterhaltung an den übrigen Tischen zu, immer mit einem sorgenvollen blick in Richtung Russentisch, an dem es merkwürdig ruhig zu sein schien. Zwei von ihnen hatten ihre Köpfe auf die Tischplatte gelegt und schliefen. Der Offizier war der Nüchternste von ihnen. Carl hatte sich vorsichtig zu ihnen umgedreht. Da er sich nicht unmittelbar von ihnen beobachtet fühlte, flüsterte er: “Jetzt hört einmal alle her.“ Er räusperte sich, blickte wohlwollend in die Runde und fragte zunächst: „Wo bleibt eigentlich der Rest unserer Redaktion? Was ist mit dem Schuchter? Und dem Herrn Obergrafiker, und dem Kulturmenschen?“

„Zugesagt haben sie, dass sie kommen“, sagte der Chefredakteur und zuckte mit den Achseln. „Lauschet“, fuhr Carl fort, „und es begab sich, wie Karl Heinrich Waggerl zu sagen pflegte, dass ich neulich der sowjetischen Gazette gewahr wurde und darin törichterweise zu lesen begann. Was habe ich in Erfahrung bringen können? Na? Ihr glaubt es nicht, aber darin rühmen sich die Sowjets in ihrem volksdemokratischen Eroberungsdrang, der in Europa vorläufig so gut wie abgeschlossen scheint, schließlich auch zur Okkupation geistiger Güter entschlossen zu sein, und dies geht so vor sich: Nachdem wir immerhin seit fünf Jahren die drückende Last ungerechtfertigter Besatzung erdulden müssen, können wir es uns leisten, einmal so richtig boshaft zu lachen, und zwar darüber, dass sich unsere obersten Besetzer in Moskau damit brüsten, ein wissenschaftliches Territorium nach dem anderen als russische Urgeistigkeit zu entlarven, und vor meinen erstaunten Augen sich sämtliche Erfindungen und Entdeckungen an die Fahnen heften wollen.“

Am Tisch grinsende Gesichter. Leopold trommelt mit den Fingern nervös auf die Tischplatte. Carl fuhr fort: „Da wäre zunächst einmal der Russe Popow, wer auch immer das ist, oder war, der hat das Radio erfunden.“ Schallendes Gelächter. „Abwarten, Herrschaften, es kommt noch besser“, sagte Carl, „damit noch nicht genug. Wie man liest, sind die Moskauer Propagandabeamten seit Monaten damit beschäftigt, sämtliche wissenschaftliche Großtaten dieser schönen Welt als russischen Ursprungs zu deklarieren. So ist es einer bisher noch immer geheimen, sowjetischen Studienkommission gelungen, die erste Atomzertrümmerung durchzuführen, und nicht, wie sie vielleicht bisher dachten, Herrschaften, dieses etwa den Deutschen Hahn und Strassmann, oder unserer Lisa Meitner zuzuordnen, nein, schon gar nicht Albert Einstein. Die waren allesamt Gauner und Faschisten, wie in der Zeitung zu lesen ist.“

„Jetzt mach´ einen Punkt“, rief Brock dazwischen, aber auch er lachte aus vollem Halse. Gruber schielte zum Russentisch, alles war friedlich. „Und außerdem liegt ihr völlig falsch, wenn ihr bisher geglaubt habt, dass James Watt die Dampfmaschine und Robert Fulton das Dampfschiff erfunden hätte. Überdies werden die mit dem Karl Marx keine rechte Freude mehr haben, weil er sein gesamtes wissenschaftliches Denken auf der Funktionalität der Dampfmaschine aufgebaut hat, die eigentlich von einem Kapitalisten erfunden worden ist. Aber sie haben den Fehler wieder repariert denn, ihr werdet es nicht glauben, es handelt sich bei diesen Erfindungen neuerdings gleichfalls um russische.“ Gelächter. „Die Russen haben dann noch das Flugzeug, die Glühbirne, das Dynamit, das Penicillin, das Radar, Rechenmaschinen, Schmelzöfen, den Telegrafen und das Telefon, und nicht zu vergessen, das U-Boot erfunden. Geht das hinein in eure Köpfe, ja?“ fragte Carl gelangweilt und prüfte die Länge seiner Fingernägel, schien jedoch selbst dabei höchst amüsiert.

„Ja, genau,“ rief Erich, „das hat ein sibirischer Bauer erfunden, so zwischen Schweine füttern und Stall ausmisten, und die Probefahrt hat er in der Jauchengrube durchgeführt, sozusagen unter erschwerten Sichtbedingungen, ha ha ha!“ „Hervorragend, macht nur weiter so. Hier herunten können überall russische Spione sein. Irgendwann werden sie euch zu Hause besuchen und euch heimlich vergiften“, flüsterte Leopold ängstlich. „Geh´, sei doch nicht so pessimistisch“, versuchte ihn Erich zu beschwichtigen. „So gesehen sind Bessemer, Edison, Graham Bell und Morse durchwegs Betrüger und Plagiatoren“, setzte Carl hinzu. „Gruber, was hältst du davon?“, fragte Dr. Brock, „das Morse-alphabet heißt von jetzt an Kominform - Hexeneinmaleins!“ „Und die Aufklärung, wie ihr wisst, ist natürlich auch den Russen zuzuschreiben, mit fällt nur nicht ein, wer hier federführend gewesen ist“, brüllte Carl dazwischen, und wand sich hin und her vor Lachen. „Genau! Fortan wird man in demütiger Linientreue das Absurde glauben müssen, dass auch Drehbänke, Schweißverfahren, Transformatoren, Isolatoren, synthetischer Gummi und weiß der Teufel, was noch alles für Lebensnotwendigkeiten der kapitalistischen Produktion leider nicht in den Ländern der Großindustrie, Irrtum! – sondern in den agrarischen, mittelalterlich feudalen Garküchen des Bolschewismus erfunden und produziert worden sind“, konterte Erich.

Alle lachten und debattierten daraufhin heftig, ja, sie versuchten gar, sich in der Fantasie immer neue Errungenschaften auszudenken, die sich die Sowjets aneignen könnten, alles nur, um ihre heimlichen Ängste zu verdrängen, wenn schon einmal Gelegenheit war, aus dem Alltag auszubrechen, um so richtig ausgelassen zu sein. Noch waren die Zerstörungen des Krieges nicht ganz beseitigt. Noch war der Friede auf der Welt nicht eingekehrt, sollte er überhaupt jemals einkehren. Immer noch gab es irgendwo Kriegs-gefangene, fern der Heimat, Flüchtlinge, Verschickte und Verschleppte und auf allen Gesichtern lastete die Furcht vor neuer Gewalt und vor einem neuen Krieg, und diesmal gar vor einem atomaren. Auch wenn alles sehr weit weg schien, war es doch irgendwie sehr nah. Plötzlich wurde es ruhiger am Tisch, an dem die Redakteure saßen. Jeder Einzelne wurde nachdenklich, isoliert von allem, was bisher war. Dieses Land, durch seine Besatzer behindert, in seiner Entwicklung erschwert, gehemmt, dürstete nach Freiheit, mehr denn je. „Wir fordern die Freiheit“, murmelte Brock vor sich hin. Alle blickten beinahe ehrfürchtig auf ihn. „ Ich denke, es wäre hoch an der Zeit, den Abschluss des Staatsvertrages und den Abzug der ... dieser ..“, Brock musste husten, „gottverdammten Bande da draußen ...!“

Carl stieß ihn in die Seite: “Ich bitte dich, nicht so laut!“ „Hast ja Recht, entschuldigt bitte, aber weil´s wahr ist.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir bekennen uns doch zur Demokratie. Was müssen sie denn so lange herumverhandeln?“, warf Gruber ein. „Was Brock gesagt hat, ist schon richtig. Nicht nur die Sozis, es sind die Christdemokraten ebenso der Meinung, dass wir jede Form des Terrors, der Diktatur, ja, jegliche Tendenz zur Einparteienherrschaft wie auch zur Volksdemokratie verwerfen und ablehnen. Ist doch so, oder? Sie könnten sich daher mit dem Staatsvertrag wirklich beeilen,“ sagte Erich. Carl grinste. „Da bist du damit hier drinnen ziemlich richtig - zur Volksdemokratie. Ein bisserl lauter noch, wenn´s geht. Die sitzen ohnehin gleich ums Eck. Ach was!“, ärgerte er sich, und leerte sein Glas. Stille. Von den anderen Gängen her drangen Heurigengesang, zwischendurch aber auch russische Wortfetzen an ihre Ohren.

Die Stimmung wollte nicht mehr so richtig aufkommen, als ob sie ohnehin bloß künstlich genährt worden war, wohl eher durch die Bedrücktheit aufgeputscht, die, bedingt durch die allgemeine Situation, nunmehr isoliert im Vordergrund auf ängstlichen Gesichtern zu liegen kam. Während sie hier gelacht hatten, kämpfte man in Berlin ums Überleben, um sich gleichzeitig von der sowjetischen Umklammerung zu lösen, die Diplomatie jedoch zu nichts anderem imstande war, als laufend zu versagen. Als hätten alle zur gleichen Zeit dasselbe gedacht, begann der Chefredakteur folgenden Satz: „Kollegen, wir alle mögen es sehen wie wir wollen, aber über den Ist-Zustand können wir uns ganz sicher nicht hinwegsetzen. Und der ist nun einmal durch den Begriff des Kalten Krieges geprägt und zementiert. Nicht nur wir alle warten auf eine Entspannung der Weltpolitik, als Sieg der Vernunft über eine Politik, deren Argumente aus dem Bereich der Diktatur und der Gewalt gewonnen waren.“

„Darf´s noch was sein die Herren?“, unterbrach die Serviererin. Leopold winkte ab. „Wir alle spüren die Auswirkungen dieser Politik noch immer in unseren Gliedern. Aber wir spüren auch, dass wir für uns alle, und für diese Welt, jede kleine Hoffnung auf eine dauernde, friedliche Regelung in Anspruch nehmen müssen, und sei sie noch so gering. Sonst geht es nämlich nicht vorwärts, sondern rückwärts. Es hat zuletzt den Anschein gehabt, als wäre der Beschluss der Sowjets, von ihrer strengen Haltung abzugehen, ein Zeichen. Man fragt sich allerdings, ob dieser Entschluss ein grundsätzlicher oder ein taktischer war.“ Alle nickten zustimmend. „Ich frag mich das auch“, sagte Gruber, „wenn ich an die Einigung in New York denke. Was hat sie bis jetzt bewirkt? Von einem Ende des Kalten Krieges sind wir weit entfernt.“ „Ja, ja. Ich glaube, die schwerste Aufgabe liegt noch vor uns,“ reagierte Erich. „Wenn die nicht miteinander reden können, dann seh´ ich schwarz“, fügte Dr. Brock hinzu. Carl lehnte gelangweilt an der hölzernen Trennwand zum nächsten Tisch und beobachtete die Diskussion.

„Das kann schon sein, oder auch nicht“, meinte Leopold nachdenklich, „aber bedenkt bitte, dass unser Geschäft neben der Weltpolitik auch das unserer eigenen Welt ist. Das heißt im Klartext, dass ich für die morgige Schlussredaktion noch zwei Berichte vermisse.“ Alle hoben die Köpfe und blickten in Richtung des Chefredakteurs. „Wann, verehrter Herr Lokalredakteur, darf ich mit dem Artikel über die Frauenversammlung der Gemeindebediensteten rechnen?“, wandte sich Leopold an Otto Karner, der zurückgezogen in seiner Ecke kauerte. “Die Frau Abgeordnete, aber besonders der Herr Oberamtsrat Zehetmeier setzen mir bereits das Messer an!“ Brock hob vorwurfsvoll die Brauen. „Der Artikel ist längst fertig, Herr Doktor“, stammelte Otto, „es war nur leider bisher kein Platz dafür“, entschuldigte er sich. „Ah, das ist mir neu. Aber gut, dann werden wir dafür eben Platz schaffen, nicht wahr? Carl, sorg bitte dafür, dass der Sportteil morgen ein wenig abspeckt, denen tut´s nicht so weh, wenn sie nicht gleich alle wissen, unter welchen Umständen wir gegen die Ungarn verloren haben“, sagte der Chefredakteur.

Das ungeteilte Vertrauen

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