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2. Vom Sohn aus gutem Hause zum bolschewistischen Bürgerschreck


Textilkaufhaus Bitter, 1995

Quelle: Sammlung Stadtmuseum Ibbenbüren

Der am 4. oder 5. März 1908 in Ibbenbüren geborene Friedrich Ludwig Bitter7 entstammte einer Familie von Textilkaufleuten. Drei Generationen der Familie Bitter betrieben das angesehene Textilkaufhaus gleichen Namens, dessen Gründung auf Ludwigs Mutter Martha und Vater Ludwig sen. zurückgeht. Ludwig hatte sieben Geschwister.

Die Kriegsjahre 1914-1918 hatte die Familie wie viele andere noch in einiger Not verbracht.8 Diese Notzeit zählte zu Bitters frühesten Kindheitserinnerungen. Als Zwanzigjähriger notiert er: „Dann steht vor meinem Auge klar die schwere Zeit während der letzten Jahre des Krieges und nach dem Kriege. Wie wir in Wind und Wetter hinausgingen zu den Bauern und um ein Ei und […] Butter flehten. Ich entsinne mich gut eines Wintertages, an dem ich mit meinem Bruder Hubert nach Püsselbüren zum Hamstern ging. Kniehoch und stellenweise noch höher lag der Schnee. Die ganzen Jahre haben wir selbst unser Brennholz aus dem Berg geholt.“9

Bescheiden waren die Anfänge des Bitter'schen Textilhandels: „Unser Vater hatte in Greven eine Stellung bekommen. Wie er zu dem Entschluss kam, weiss ich nicht, aber bald brachte er Inlettreste mit, die unsere Mutter unter der Hand erkaufte. So entwickelte sich nach und nach unser Geschäft.“10

Nach den ersten vier Klassen an der katholischen Volksschule wechselte Ludwig zur Ibbenbürener Amtsrektoratschule. Nachdem er die achte Klasse absolviert hatte, verließ er die Schule vorzeitig wegen einer nicht näher dokumentierten schweren Erkrankung. Sie dauerte ein Jahr. Die Rekonvaleszenzzeit sollte ein ganzes weiteres Jahr erfordern. Danach trat Ludwig Bitter in das elterliche Textilgeschäft ein. Doch nicht für lange: „[…] auch in unserm Geschäft konnte ich's nicht aushalten.“11


Martha und Ludwig Bitter sen. mit ihren Kindern., o.J. Ludwig Bitter jun. steht hinter seiner Mutter

Quelle: Sammlung Stadtmuseum Ibbenbüren

Ob nun durch den Wunsch der Eltern, insbesondere der Mutter, gedrängt oder aus eigenem Antrieb oder in einer Mischung von beidem - Ludwig Bitter wollte jetzt katholischer Priester werden. Jeden Abend ging er nach Geschäftsschluss in die Kirche. Im Rückblick des Jahres 1928 empfand er diese Zeit als „eigenartige Periode“.12

Zwar freute es die Eltern, dass ihr Sohn ein klares Berufsziel vor Augen hatte. Umso mehr, weil sie als fest im Glauben verwurzelte Katholiken diesen Weg nur gutheißen konnten. Doch sollte ihre Freude schon bald wieder geschmälert werden - durch Ludwig selbst.

Dieser hatte zwar 1924 nach nur sechs Monaten Vorbereitungszeit durch Privatstunden bei einem Lehrer Richter und bei Lehrer Mersmann von der Rektoratschule die Aufnahmeprüfung in die neunte Klasse (Obertertia) am Rheinenser Dionysianum bestanden.13 Zu Ostern 1926 war er problemlos in die elfte Klasse (Obersekunda) versetzt worden.14 Doch schon Weihnachten 1926 ließ der hoffnungsvolle Spross seine Eltern brieflich wissen, dass er sich nicht mehr vorstellen könne, Priester zu werden und am liebsten auch gleich das Gymnasium wieder verlassen wollte.15 Er wolle lieber ein Handwerk erlernen.16 Im Nachhinein machte er sich deswegen Vorwürfe: „Meiner Mutter hab ich dadurch den ganzen Wei[h]nachten verdorben […].“17

Immerhin erklärte er sich nach Gesprächen mit seinen Eltern bereit, das Gymnasium bis zum Abitur besuchen zu wollen. Obgleich damit von außen gesehen Bitters Kurs als angehender Abiturient wieder in ruhigeres Fahrwasser geführt hatte, fühlte er sich innerlich zerrissen wie eh und je. Ein Muster, das sich in verschiedenen Konstellationen seines weiteren Lebensweges immer wieder neu zeigen sollte.

So gestand er sich 1928, ungefähr ein Jahr vor dem Abitur, selbst ein: „Ich befinde mich in einem Wirrwarr sond[e]rgleichen. Ich weiss nicht, was ich werden soll, ich weiss nicht, was ich wählen soll, ich weiss nicht, was ich tun soll. Ich werde von keinem verstanden. Vielleicht von einem, von meinem Klassengenossen Schepers18, sonst sind alle zu flach.“19

Nun mag man solche Äußerungen mit einigem Recht als Zeugnis einer Adoleszenzkrise ansehen oder abtun. Tatsächlich aber begleitete die angestrengte Sinnsuche und die radikale Infragestellung der eigenen Person ebenso wie aller möglichen Lehren Ludwig Bitter fast bis an das jähe Ende seines kurzen Lebens. Als Oberstufenschüler am Dionysianum blieb er jedoch auf Dauer beileibe nicht so isoliert, nicht so unverstanden, wie er es sich anfänglich einredete. Er pflegte Freundschaften mit Hugo Bendiek, einem Ibbenbürener Bäckersohn, und Hubert Hinterding, Spross einer Mesumer Bauernfamilie. Vorher (1927/28) war er mit einer Ria aus Mesum enger befreundet, die sich nach einem Dreivierteljahr von ihm trennte. Die Trennung machte ihm zeitweilig zu schaffen. Mit dem vermeintlich seelenverwandten Josef Schepers sollte er jedoch zeitlebens - anders als Hubert Hinterding - nie engeren Umgang pflegen.20

In seiner Klasse war er vermutlich einer der Wortführer. Denn nach der mündlichen Abiturprüfung monierte er das Verhalten seiner Mitschüler in einem vorherigen Konflikt mit der gesamten Lehrerschaft: „5 Tage vorher das große désastre [Unglück] mit den Lehrern. Da sah man[,] wie feige doch die Schüler sind, wenn es darauf ankommt.“21 Man hatte anscheinend Anstoß an Beiträgen in einer Zeitschrift genommen und den Schulrat eingeschaltet. Seine Reaktion war: „Mich lässt das kalt.“ 22

Schon auf der Oberstufe des Gymnasiums stieß er mit ein, zwei Studienräten heftig zusammen, die seine Berechtigung zur Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik in Zweifel zogen, sich vielleicht auch etwas über ihn lustig machten. Sein Idealismus sei eine Manie. Außerdem könne jemand, der den Ersten Weltkrieg im zarten Alter von sechs bis zehn Jahren erlebt habe, den Krieg gar nicht glaubwürdig kritisieren. Er verstünde nichts davon.

Einer dieser Zusammenstöße veranlasste ihn zur Anfertigung einer schriftlichen Abrechnung mit solchen Standpunkten. Seinen undatierten autobiografischen Text „Ich glaube an Gott. In Tagebuchform“ durchtränkt kalter Zorn auf diese Pädagogen. Von denen müsse und wolle er sich gar nichts sagen lassen. „Manie! So tut man das ab! Manie! Erledigt. Nicht normal! Weil wir, ich es wagen, etwas vom Krieg zu wissen. […] Und doch rattern jetzt noch in meinem Ohr die flachen Güterwagen, die Zug für Zug an unserem Haus vorbeirollten. Unser Haus! Entschuldigt! Wir wohnten nur zur Miete. Aber direkt an der Eisenbahn! Und auf den Güterwagen saßen und standen die Soldaten […].

Und sangen und sangen: ' […] in der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehen.' Ja [,] es gab kein Wiedersehen für sie].“23

Sodann listet er bis zur Revolution und Inflation in Nachkriegsdeutschland akribisch auf, wann, wo und wie ein Junge wie er vom Krieg betroffen war und kleidet diese Aneinanderreihung in ein poetisches Gewand.24

Als Kommunist hatte er sich schon vorher gesehen25,was wohl auch seine Mitschüler wussten. Die meisten von ihnen entstammten dem mittleren und gehobenen Bürgertum.26

Durchblättert man den „Klassenspiegel“, die „Bierzeitung“ seines Abiturjahrganges 1929, finden sich deutliche Hinweise darauf, dass sie ihn sehr wohl verstanden, zumindest einzuordnen wussten. Jeder Abiturient wurde hier in Texten und Zeichnungen humoristisch-satirisch charakterisiert.

Bitters Person nimmt mehr Raum als andere ein, was seine mögliche Meinungsführerschaft in der Klasse unterstreicht. Zumindest dürften sich die Mitabiturienten an seiner Person gerieben, sich mit seinem Standpunkt auseinandergesetzt haben. Deutlich wird Bitters klares politisches Profil, das seinen Klassenkameraden und bestimmt ebenso den Lehrern vor Augen stand. Es zeigt einen – vielleicht etwas weltfremden - jungen Mann, der sich für die Unterdrückten, die Erniedrigten und Gedemütigten dieser Welt vorbehaltlos einsetzt. Russen und Chinesen stünden ihm womöglich näher als das eigene Volk. Die Gewalttaten der aufständischen, revolutionären Kräfte des Ostens rede er sich wohl schön.27

Hugo Bendiek, der dem Gymnasium „in den letzten Jahren innerlich ganz fern gestanden hatte“28, wird als Jüngling porträtiert, der über die letzten Fragen der Welt nachsinnt. Er unterliege einigen Stimmungsschwankungen. Mal sei er himmelhochjauchzend froh, mal zu Tode tief betrübt. Ihn scheine es in die Ferne zu ziehen, wo ihm vielleicht das Glück winke.29 Der Dritte im Bunde, Hubert Hinterding aus Mesum, erscheint als jemand, der ganz seinen geistigen Vorlieben lebt: der Literatur, vor allem aber der Musik. Man verdächtigte ihn, ein echter „Geistesstratege“ zu sein, wiewohl er schweigsam und einsam seiner Wege ginge.30

Die drei Schulfreunde hatten also ein größeres Feld gemeinsamer intellektueller Interessen zu bestellen. Auf dieser Basis kommunizierten sie miteinander. Gleichwohl waren in diesem Trio auch gegenseitige emotionale Anziehungskräfte wirksam. So suchten wohl alle drei, insbesondere aber Bitter und Hinterding, schon seit späteren Schulzeiten nach Menschen, denen sie sich uneingeschränkt öffnen konnten. Hierfür kamen zunächst nur Angehörige des eigenen Geschlechts in Frage. Sie besuchten eben ein Jungengymnasium. An halbwegs ungezwungene, freie Gespräche oder einen intellektuellen Austausch mit Mädchen war kaum zu denken. Auch an den männerdominierten Universitäten änderte sich das Bild nicht wesentlich.

Spottlied nach der Melodie:

„Der Gott, der Eisen wachsen ließ …“

„Tyrannenfeind, von ganzem Herz

Ist Bitter, hoch an Stärke

Er ruft gar oft in welchem Schmerz

Im Vers zum blut'gen Werke:

Zu tilgen von der ganzen Erd'

Die Herrscher alle mit dem Schwert,

So daß ein Reich von Brüdern

Ersteh und blühe nah und fern.

Daran will er mit rechtem Mut

Und ganzer Treue halten,

Und freudig der Tyrannenbrut

Die Schädeldecke spalten.

Und wer für Fürst und Reichtum spricht,

Den hauet er zu Scherben.

Der soll im Land der Zukunft nicht

Mit seinen Brüdern erben.

Noch einen grimm'gen Feind hat er

In der Mathes erblicket.

Denn dieses Fach, das faßt er sehr,

In Formeln er ersticket.

[…] Satz und Formel liebt er nicht.

Das sind zu harte Laute.

Er sieht voraus im Wahngesicht

Die Freiheit ferner Leute.“31


„Bitters Sinnbild - Willkommen teure Brüder!“

Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB


„1. Stock, L. Bitter, Russisches Konsulat“

Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB


Hugo Bendiek

Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB


Hubert Hinterding

Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB


Abitur 1929 am Dionysianum Rheine. Ludwig Bitter: vorderste Reihe ganz rechts.

Quelle: Sammlung Greiwe, Rheine


Schepers (links), Hinterding (rechts), o.J.

Quelle: Sammlung Greiwe, Rheine

So war es wohl auch eine Frage der Gewohnheit und Bequemlichkeit, dass man in vertrauter Männerrunde blieb.

Erst Jahrzehnte später bekannte sich Hubert Hinterding gegenüber Hugo Bendiek dazu, schon immer homosexuell gewesen zu sein. Er beklagte die einstige Sprachlosigkeit der Drei über wahre Gefühle.32 In ähnlichem Sinne wies er einen der Brüder Bitters kaum verhohlen darauf hin, dass er sich als Gymnasiast zu Ludwig als seinem Banknachbarn primär aus nicht-intellektueller Motivation hingezogen fühlte. Dieser habe seine emotionale Zuneigung jedoch weder gespürt, geschweige denn erwidert.33 Ganz so einfach, wie Hinterding meinte, war es jedoch nicht. Kaum hatte Bitter sein Studium in Münster aufgenommen, sehnte er sich nach einem echten Freund und notierte einen einzigen Namen – den Hinterdings, mit Fragezeichen.34 Von Bendiek musste sich Hinterding anhören, seine bittere Abrechnung mit der Vergangenheit wie der Gegenwart führe zu nichts.

Hinterdings allgemeine Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation, nicht aber eine von ihm - Bendiek und anderen - gar nicht vertretene Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen sei schuld an der von Hinterding beklagten Flachheit sozialer Kontakte.35 Womöglich wussten Bendiek wie Bitter längst, d.h. seit Abiturzeiten Bescheid von Hinterdings Grundproblem. Bitter notierte damals: „Und Hubert? Ja[,] was ist in Hubert gefahren? Und das haben wir solange nicht gesehen? Ganz nicht, aber doch kannten wir ihn. Jetzt kenne ich ihn. Ganz, seine Jugend, sein Schicksal, sein Denken und [unleserlich].“36

Die von Hinterding beklagte Sprachlosigkeit des Trios in puncto Gefühle ist damit allerdings nicht widerlegt. Dazu passt eine Sentenz aus Bitters Notizbuch: „9.) Die Liebe zwischen den Menschen, erst recht Mann zu Mann, das grosse Thema! Wie die Kälte und Entfremdung überwinden?“37

1929 waren Bendiek und Hinterding studienhalber nach Wien gezogen. Bendiek blieb dort für zwei Semester zum Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik (Französisch). Das dritte Semester verbrachte in Königsberg. Dort „erfuhr er ein kurzes Glück in der Liebe zu einer Studentin“.38 Weiter zog es ihn nach Paris, wo er in die französische Literatur und Philosophie eintauchte. Seinen Abschluss als Doktor der Philosophie machte er schließlich als Assistent von Professor Peter Wust in Münster.39

Hubert Hinterding wechselte nach den zwei Wiener Semestern an die Universität Münster, wo er Musik studierte. Er strebte eine Karriere als Konzertpianist mit Doktortitel an.40 Dann aber ließ er es bei einer Abschlussprüfung zum Privat-Musiklehrer bewenden. Ein undatiertes, 89 Seiten starkes Werk, die „Tanz-Fantasie für kleinen Chor und kleines Orchester nach Versen aus den 'Sonetten an Orpheus' von R. M. Rilke“, dürfte sein Examenswerk darstellen.41 Im Sommersemester 1933 nahm er wieder das Studium in Münster auf. Nun war er zur Germanistik und von der anvisierten Musikerkarriere in Richtung Gymnasiallehrer gewechselt. Ein halbes Jahr danach war er der SA als Anwärter beigetreten.42 Der Eintritt in die SA war vermutlich die Erfüllung einer unumgänglichen Bedingung für den Abschluss des Studiums.43 Exmatrikuliert wurde Hinterding jedoch im Sommer 1935, ohne den zweiten Abschluss erlangt zu haben.44 Er ging nun seinem Broterwerb als selbständiger Musiklehrer und Komponist im Umkreis Rheines nach.45

Als Ludwig Bitter das Dionysianum mit dem Abiturzeugnis in der Tasche verließ, hatte er Französisch, Spanisch, Griechisch und Latein mit einigem Erfolg gelernt. Später folgten noch Russisch und Englisch. Auf dem Zeugnis wurde vermerkt, er wolle Volkswirtschaft studieren.46 Davon war bald keine Rede mehr. Bitter hatte ein Faible für Geschichte, Fremdsprachen und Literatur. Zeitweilig liebäugelte er mit dem Berufsbild eines Schriftstellers.47 Mitte April 1929 meldete er sich nach Berlin ab.48 In der Reichshauptstadt suchte er wahrscheinlich Kontakte zu politisch Gleichgesinnten.


Friedrich Fütterer, Foto vom Entwurf seines Reifezeugnisses, Hessisches Realgymnasium Mainz, 16.02.1928

Quelle: Stadtarchiv Mainz, Bestand 201, 651: Zeugnis Fütterer

Vielleicht kannte er damals schon Friedrich Fütterer, einen kommunistisch eingestellten Medizinstudenten der WWU Münster. Der Sohn eines Fabrikdirektors49 wollte just im Sommersemester 1929 sein Studium in Berlin fortsetzen.50

Eigentlich sollte man meinen, dass Bitter ähnliche Pläne verfolgte. Nach gerade einmal drei Tagen in Berlin aber schrieb er sich er an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster ein, wo er Veranstaltungen in Germanistik, Philosophie, Geschichte, Politik und Publizistik belegte.51

Berlin war für ihn ein Schock. Offensichtlich verkraftete er die übergangslose Umstellung auf das Weltstadtgetriebe nicht. Völlig niedergeschlagen notierte er auf seiner Münsteraner „Bude“: „An Selbstmord dachte ich.“52 Zwar beruhigte er sich etwas, doch quälte ihn weiterhin eine allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe. Studienziel war nun wohl der Doktortitel in Publizistik (Zeitungswissenschaft).53

Doch kaum kam das Ende des ersten Semesters in Sicht, schrieb Bitter seinen Eltern einen Brandbrief des Inhalts, er könne „unmöglich weiterstudieren“.54

Wohlweislich bat er Vater und Mutter schon in seinem Einleitungssatz, sich nicht zu erschrecken und aufzuregen. Sicher nur ein frommer Wunsch. Aus Elternsicht wiederholte sich das Drama von 1926. Ihr durchaus talentierter Spross verweigerte zum zweiten Mal die Mitarbeit an einer aussichtsreichen beruflichen Zukunftsplanung. Dieses Mal waren seine Argumente für den Studienabbruch zahlreicher und zielgerichteter als drei Jahre zuvor auf die Empfänger zugeschnitten. „Ich gehe täglich 3 Stunden zur Universität, schreibe mit und kann doch gar nichts gebrauchen. Und dabei hab ich nicht die geringste Lust, vielmehr einen Widerwillen dagegen. Und dafür sollt ihr das schwere Geld ausgeben?“

Bitter wurde aber auch grundsätzlicher: „Die Jahre auf dem Gymnasium haben mir ungeheuer genutzt. Sie haben mir ja gerade zum Bewußtsein gebracht, wie ungerecht es in der Welt zugeht. Millionen und Abermillionen schuften für ein paar Pfg. [Pfennige] – und müssen auch eine Familie unterhalten. […] Bei jedem Bissen, den ich verzehrte, mußte ich an sie denken. Wenn ihr einen nur verstehen könntet. Wir sind und müssen ganz andere Menschen sein.“ Und: „Ich habe ja nie die Absicht gehabt etwas zu werden und Geld zu verdienen. Ist es denn eine Schande, ein einfacher Arbeiter zu sein?“ Er erinnerte seine Eltern daran, dass sie ihn doch nur das Abitur hätten machen lassen, weil sie immer noch auf seine Hinwendung zum Priesterberuf hofften. Aber diese Hoffnung müsse er wohl ein für allemal enttäuschen. Als Geistlicher wäre er bestimmt ein Missionar geworden, der auch nur wenig verdiene und seine Eltern aus der Ferne kaum unterstützen könne. Er wolle nun selber seinen Mann stehen, als „Missionar unter den Arbeitern“.55

Wie er seine Argumentation auch drehte und wendete, seine Eltern gaben nicht nach. Bitter beugte sich ihnen schließlich und setzte sein Studium fort. Doch gründete er nur Tage später im Juli 1929 mit anderen Kommilitonen den „Freien Sozialistischen Studentenbund“ [FSSB] an der Universität Münster. Diese neugegründete studentische Hochschulgruppe56 umfasste bei ihrer Gründung sieben Mitglieder. In den folgenden Semestern pendelte ihre Mitgliederzahl um ein Dutzend. Dem dreiköpfigen Gründungsvorstand gehörte Ludwig Bitter als Kassierer an. Als Schriftführer fungierte Rudolf Dannenbaum. Vorsitzender war Dr. Heinrich Bernds.57 Dieser schon etwas ältere – achtundzwanzigjährige - Doktor der Politischen Wissenschaften hatte in Münster ein Zweitstudium in Evangelischer Theologie aufgenommen.


Dr. Heinrich Bernds, erster Vorsitzender des Freien Sozialistischen Studentenbundes Münster, o. J.

Quelle: Martin Bernds, Lübeck

Unter der Nazi-Herrschaft stach Pastor Dr. Bernds dem Regime als entschiedener Gegner ins Auge. Bald nach Beginn des Zweiten Weltkriegs verurteilte ihn ein Sondergericht in Hannover wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ der Nazis zu 18 Monaten Zuchthaus. Nach seiner Haftentlassung im Mai 1942 galt für ihn ein nahezu lückenlos durchgesetztes faktisches Berufsverbot.58

Auffällig ist, dass zwei der sieben Gründungsmitglieder, die Münsteraner Fritz Niemeyer und Helmut Schütz, vorher dem 1927 neugegründeten „Republikanischen Studentenbund“ (RSB) angehört hatten. Der RSB verfocht als parteiungebundene Vereinigung die demokratischen Ideen und Prinzipien der Weimarer Verfassung.59 Helmut Schütz beendete diese Doppelmitgliedschaft schon im Wintersemester 1929/30, nachdem er den Vorsitz im „Freien Sozialistischen Studentenbund“ übernommen hatte. Fritz Niemeyer jun. hingegen, Sohn des gleichnamigen Münsteraner Gewerkschaftssekretärs und SPD-Stadtverordneten, gehörte beiden Studentenbünden beinahe ununterbrochen an - bis zu deren erzwungener Auflösung im Jahre 1933.60


„Freier Sozialistischer Studentenbund“. Entwurf eines Anschlagbretts [1929]

Quelle: Universitätsarchiv Münster, Bestand 004, Nr. 773, Bl. 4

In den nächsten Jahren gab es öfter Doppelmitgliedschaften. Grundsätzlich schlossen die Satzungen beider Verbände diese nicht aus, zumindest wenn es sich um demokratische Sozialisten handelte.

Anfangs trafen sich die freien Sozialisten in der Gaststätte „Zum Felsen“, bald im „Zum Pulverturm“, dann wieder im „Zum Felsen“, später in der Jüdefelder Straße bei Schmiess („Deutsches Keglerheim“).61

Nur ein einziges Mal fand eine Studentin, die Bochumerin Brunhilde Heinemann im Wintersemester 1930/31, den Weg in den sozialistischen Studentenbund. Immerhin komplettierte sie dort den dreiköpfigen Vorstand.62

Wie weit links der FSSB in den Jahren 1929-1933 stand und was er sich unter Sozialismus konkret vorstellte, lässt sich kaum präzisieren. Er war weder eine Studentenorganisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) noch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) oder etwa einer kleineren Partei wie der linkssozialistischen SAP(D) (Sozialistische Arbeiterpartei [Deutschlands]). In seinen Statuten findet sich als Hauptziel sehr allgemein formuliert die „Pflege sozialistischer Weltanschauung und ihre wissenschaftliche Vertiefung“.63

Am ehesten könnte man den Bund als Vereinigung diskussionsfreudiger Linkssozialisten apostrophieren, von denen allerdings der eine oder die andere gleichzeitig Mitglied der dogmatischen KPD war oder mit ihr sympathisierte.64

Nach rückblickender Darstellung von Rudolf Quast, einem Mitglied des Bundes in den Jahren 1932/193365, bestand die Gruppe aus einer bunten Mischung von Anhängern verschiedener sozialistisch-kommunistischer Tendenzen.66 1933 drückte sich ein Mitglied ähnlich aus: „Dieser Bund war eine Gemeinschaft sozialistisch eingestellter Studenten aller Schattierungen, von denen die meisten keiner Partei angehörten.“67

Die Reichweite des linken Studentenbundes dürfte im akademischen Milieu Münsters nicht allzu groß gewesen sein. Viele Studenten und Studentinnen standen der Politik fern, zumindest der Hochschulpolitik. Andere organisierten sich in – im Sonderfall Münster zumeist katholischen – Studentenverbindungen. „An keiner anderen deutschen Universität gab es ein derartiges Übergewicht der katholischen Verbindungen – der Korporationsgrad der münsterischen Hochschüler überstieg jedoch insgesamt nie 40 % und blieb damit unter dem Reichsdurchschnitt von 60%.“68 Unter den politischen Studierendenverbänden, ob mit oder ohne Parteianschluss, dominierten bis ungefähr 1930 stark rechtsgerichtete, antidemokratische Gruppen aus dem Bannkreis der sogenannten Konservativen Revolution. Auch standen wesentliche Teile der katholischen Studentenschaft nicht mehr hinter der Zentrumspartei, sondern folgten ebenfalls antiliberalen, antidemokratischen Leitbildern.69 Für alle Hochschulen im deutschen Reich galt mit nur wenigen Einschränkungen: „Die studentische Linke hatte schon vor 1933 an den Universitäten eine nur marginale Rolle gespielt. Stattdessen dominierten […] Nationalsozialisten und schlagende Verbindungen.“70

Die öffentlichkeitswirksame Tätigkeit des FSSB erschöpfte sich in der Durchführung von Vorträgen für das akademische Publikum.71 Am 20. Mai 1930 sollte z.B. Frau Prof.

Anna Siemsen aus Jena, damals Reichstagsabgeordnete der SPD,, im Audimax sprechen. Die zum Thema „Frau und Sozialismus“ eingeladene Rednerin72 war eine ausgewiesene Bildungsexpertin der Sozialdemokratie.73

Der Rektor verweigerte jedoch schon im Vorfeld ihren Auftritt in den Räumen der Universität. Er könne nur unpolitische Veranstaltungen genehmigen.74 Über die Haltung des Rektorates entspann sich nun ein Disput, der im März 1931 in einer „Kleinen Anfrage“ der SPD im Preußischen Landtag gipfelte. Der preußische Kultusminister schaltete sich ein und warf der Universitätsleitung Ungleichbehandlung im Umgang mit studentischen Vereinigungen vor, nachdem selbst ein Vortrag des preußischen Innenministers Severing (SPD) nicht gestattet worden war.75


Prof. Dr. Anna Siemsen (SPD), MdR 1928-1930. Foto von 1929. Sie war zeitweilig auch Mitglied der SAP.

Quelle: AdSD/FES, Signatur: 6/FOTA009080


Reichstagswahl, SAP/Sozialistische Arbeiterpartei (Deutschlands), 01.07.1932

Quelle: BArch, Plak 002-033-009

Hingegen hatte die Universitätsspitze keinerlei Einwendungen gegen einen Auftritt der NSDAP-Größe Hermann Göring bei einer der üblichen Langemarck-Feiern76 an der WWU. Die Universitätsoberen - so der Medizinhistoriker Bernward Vieten - begegneten den Faschisten mit wohlwollender Duldung, während sie die Sozialisten misstrauisch beobachteten und behinderten.77

Die Ende 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise wirkte als Katalysator einer Politisierung78 wie Radikalisierung der Studentenschaft auch in Münster. Schon vorher hatte sich im Februar 1929 der „Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund“ als ernstzunehmender Feind der sozialistischen Linken an der Westfälischen Wilhelms-Universität konstituiert.

Münster war eine der letzten Universitäten, an der die Nazis noch nicht Fuß gefasst hatten79 Der zeitweilig von Wilhelm Schübbe geführte rechtsradikale Studententrupp begann mit der Störung von Vorlesungen ihm nicht genehmer Professoren. Otto Piper, Professor für Evangelische Theologie, eines der Vorbilder Ludwig Bitters unter der Professorenschaft, wurde zur bevorzugten Zielscheibe ihrer Aktionen.80 Bitter hatte ihn bei einer Tagung auf Burg Hohensolms näher kennengelernt.81


Prof. Dr. Otto Piper, o.J.

Quelle: Universitätsarchiv Münster, Bestand 68, Nr. 4805. Foto: Prof. Dr. Otto Piper/Fotograf(in): Clearose Studio, Princeton N.J.


Wilhelm Schübbe, als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen, ca. 1946-1948

Quelle: US Army Photographers - http://forum.axishistory com/viewtopic.php?f=45&t=98381 &start=135, Gemeinfrei, https://commons.w ikim edia.org/w/index.php?curid=16889456

Als Anfang 1930 das Anschlagbrett des FSSB mit einem Hakenkreuz verunstaltet worden war, rüsteten Unterstützer der freien Sozialisten zum Gegenschlag. Dafür landeten drei von ihnen, von denen keiner jemals als FSSB-Mitglied geführt wurde, vor Gericht. Sie hatten die Anschlagbretter des NS-Studentenbundes entwendet und zu Hause, wo sie bei einem der Angeklagten von der Polizei beschlagnahmt wurden, „mit besonderen Zeichen“ versehen. Vor Gericht machten sie geltend, es habe sich um eine berechtigte „politische Gegenreaktion“ gehandelt.82

Die Staatsschutzorgane der Weimarer Republik maßen dem Freien Sozialistischen Studentenbund nach anfänglich anderer Ansicht keine wesentliche Bedeutung zu: „[…] zeigt die Kommunistische Zelle an der hiesigen Universität wenig Leben.“83 Man sah ihn allerdings als Bindeglied zwischen kommunistischer Bewegung und Bürgertum.84

Nach Bernward Vieten wurde der FSSB von der Universitätsführung zur kommunistischen Zelle hochstilisiert, obwohl laut Schreiben des OP Münster an den preußischen Innenminister vom 22.10.1929 nur ein einziges seiner Mitglieder gleichzeitig der KPD angehörte.85 Dabei handelte es sich um den Schriftführer Rudolf Dannenbaum.

Auch Ludwig Bitter wird bald darauf als zweites eingeschriebenes KPD-Mitglied in einem Bericht vom 16.11.1929 geführt. Dritter war Franz Hahn laut Bericht vom 02.01.1930.86 Seltsam genug, wurde der Kommunist Hahn jedoch offiziell erst viel später (im Wintersemester 1930/31) Mitglied des sozialistischen Studentenbundes – und gleich Erster Vorsitzender.87 Allerdings war er schon früher von den Überwachern der Gruppe als angebliches Mitglied nach Berlin gemeldet worden.88

Wie konnte es sein, dass die Berichte der Politischen Polizei 1929/30 hauptsächlich von Personen handelten, die im Berichtszeitraum gar nicht mehr – oder wie Hahn noch nicht - zum FSSB gehörten? Eine mögliche Lösung des Rätsels wäre es, anzunehmen, dass die genannten Kommunisten unter der Hand eben doch mitmachten, nach außen aber der Anschein erweckt werden sollte, es fänden sich keine KPD-Mitglieder in den Reihen des FSSB.

1933 soll es tatsächlich solch einen Fall gegeben haben.89 Und die Spitzel wussten vielleicht schon 1929/30 mehr als in den FSSB-Listen stand.

Letztlich aber trat die KPD Münster bei ihrer Verankerung in der Studentenschaft auf der Stelle: Im Januar 1933, unmittelbar vor der Machtübernahme der Rechtsextremen, umfasste die „Zelle Uni“ der KPD gerade einmal drei Mitglieder90, die nicht unbedingt gleichzeitig Mitglied im sozialistischen Studentenbund, ja theoretisch nicht einmal Studierende sein mussten.

Der Mitgliederbestand des Studentenbundes änderte sich in den folgenden Semestern recht rasch. Allerdings erstaunt doch, dass gleich alle drei Mitglieder des Gründungsvorstandes schon zum nächsten Semester nicht mehr in der Liste des FSSB namentlich aufgeführt sind. Nur im Falle von Dr. Bernds ist der Grund eindeutig: Er hatte die Universität Münster zum Wintersemester 1929/30 verlassen, weil er sein theologisches Zweitstudium in Wuppertal-Elberfeld fortsetzen wollte.

Als „spiritus rector“ galt den Behörden, die den FSSB misstrauisch beäugten, dessen Schriftführer Rudolf Dannenbaum. Er war mit 25 Jahren ebenfalls deutlich älter als Ludwig Bitter. Der Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns aus Rheda stand als eingeschriebenes KPD-Mitglied und Propagandist der Partei im Fokus der geheimpolizeilichen Überwachung des FSSB.

Während er aber offiziell schon nicht mehr Mitglied des FSSB war, wovon die politische Polizei anscheinend noch ausging, soll er im Auftrag der KPD ausgedehnte Reisen innerhalb Deutschlands, durch Frankreich und Italien unternommen haben. Man unterstellte, ihm internationale Verbindungen bis nach Paris und Rom geknüpft zu haben.91


Grabmal von Rudolf Dannenbaum in Rheda

Quelle: Stadtarchiv Rheda-Wiedenbrück

Rudolf Dannenbaum verstarb jedoch schon am 8. Juni 1930 im Krankenhaus seiner Heimatstadt Rheda.92

Was Ludwig Bitter betraf, so hatte er zwar seinen Studienort nicht gewechselt oder verlassen, doch ebenfalls früh, vermutlich vor Jahresende 1929, dem FSSB den Rücken gekehrt.93 Dem widerspricht allerdings ein mit drei Jahren Abstand verfasster Brief von Ludwig an seinen Bruder Hubert.94 Demnach fand sein Austritt aus dem „Studentenbund“ vor drei Jahren, also eigentlich erst im Juli/August 1930 statt. Allerdings könnte Bitter hier auch einen ominösen KPD-nahen „Revolutionären Studentenbund“ gemeint haben, für den er kurzfristig mit Friedrich Fütterer tätig geworden war.

Nimmt man einen womöglich nie abgesandten Brief an einen ungenannten Freund – in Frage käme vor allem Bendiek – als Anhaltspunkt, so scheint Bitter den FSSB durchaus als Vereinigung kommunistisch gesinnter Studenten verstanden zu haben. Auch war er schon im Sommer 1929 regelmäßiger Teilnehmer an Veranstaltungen der KPD-Ortsgruppe Münster.95

Was führte einen idealistischen Philologiestudenten, Bürgersohn aus gutem, wenn auch wohl nicht begütertem Hause in die Reihen einer Partei, die in vielem, wenn nicht allem das Gegenteil seiner Herkunft und Existenz verkörperte?

Bestimmt nicht die Bildung, die er am Dionysianum erfahren hatte. Wenn die Schule eine Rolle gespielt haben sollte, so eher als Instanz, an der er sich abarbeiten musste.96

Die soziale Ungerechtigkeit dürfte Bitter früh mit Blick gerade auf die harte Arbeit der Ibbenbürener Bergleute erfahren haben. Noch 1934 notierte er: „Vieles ist in mir gestorben, aber eines nicht, mir selbst zum Staunen. Immer noch pocht der Vorwurf gegen die Rippen: 'Darfst du sitzen und lesen, lesen, meinetwegen auch Sprachen erlernen, während sie da unten in den Schächten sich abschinden? Ihre Arbeit ist auf jeden Fall „etwas“ wert, aber deine?'“97 Eigene Erfahrungen mit körperlicher Arbeit sammelte er bei Hilfsarbeiten und als Werkstudent.98

Anders als viele Studentinnen und Studenten der Sechziger- und Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts trieben ihn jedoch nicht Ablehnung oder Abgrenzung vom bürgerlichen Elternhaus in die Arme einer linksextremen Gruppierung. Er suchte immer wieder den Anschluss an seine Familie: die Geschwister, den Vater, vor allem jedoch die Mutter. Bitter hätte ihnen gerne den Kummer und die Sorgen erspart, die ihnen sein auf Dauer nicht zu verbergender Einsatz für die KPD einbrachte. Aber gleichzeitig trennte er persönliche politische Überzeugungen und Familie voneinander.

Er hielt zeitlebens politisch-moralisch fest an dem, was er einmal emotional wie rational als richtig erkannt zu haben glaubte. Insofern ließ er sich, selbst wenn es ihn schmerzte und marterte, von Einreden aus dem Kreis der Familie nicht beirren. Bei Bitter scheinen christlicher Glaube und praktische Politik ihre Kraft aus derselben Wurzel zu ziehen - einem scharf ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, kombiniert mit hoher Emotionalität seiner Person. Innere Ruhe fand er über lange Jahre nicht.

Die Ortsgruppen der KPD in Ibbenbüren wie in Münster standen in dem zweifelhaften Ruf, eher den Rand der Gesellschaft zu organisieren99 als die Arbeiterschaft, die in Münster allemal nicht so stark vertreten war.100

Jedoch waren die Führungspersönlichkeiten in beiden Städten zumeist Handwerker. In Münster war der Kopf der KPD „lange Jahre der Schneider Albrecht, der als Person auch bei den Bürgerlichen [im Stadtrat] gewisses Ansehen genoß.“101 Die Münsteraner KPD verfügte nur über eine einzige Betriebszelle – mit neun Eisenbahnern. Am Ende der Weimarer Republik überwogen die Arbeitslosen unter der Mitgliedschaft.102

Die wenigen Akademiker waren die Ringeltauben unter den Kommunisten. Sie kamen praktisch bei der Redigierung von Texten und der Mitgliederschulung zum Einsatz. 103 Nach internen Unterlagen konnte Münsters KPD bei Kundgebungen zu besonderen Anlässen schon einmal 1000 oder mehr Teilnehmer anlocken. Bei den sich meist anschließenden Demonstrationen marschierten ca. zwei Drittel der Kundgebungsteilnehmer mit.104 Im Januar 1933 zählte die Partei 86 Mitglieder, darunter nur fünf Frauen.105

Die KPD war also durchaus öffentlich wahrnehmbar. Dass ihr in Münster jemals ein eigener Studentenverband angegliedert war, ist jedoch unwahrscheinlich.106 Hier galt, was für die meisten Universitäten im Reich zutraf: „Kommunisten agierten an den Hochschulen, so weit sie dort überhaupt in Erscheinung traten, nur als kleine unbedeutende Grüppchen. Sozialdemokraten waren etwas stärker vertreten […].107 Allerdings erfasste die Gestapo nach dem 30. Januar 1933 Ludwig Bitter und Friedrich Fütterer, der nie aktenkundig Mitglied des FSSB war, als Autoren eines Flugblattes eines „Revolutionären Studentenbundes“, das wahrscheinlich 1930 in Münster kursierte.108

Dieser „Revolutionäre Studentenbund“ ist in- und außerhalb Münsters kaum nachzuweisen. Wohl gab es den „Reichsverband Freisozialistischer Studenten (RFS)“, der im August 1929 von KPD-nahen Studenten gegründet worden war.109 Für diese Vereinigung warb auch die KPD Münster. Der FSSB an der WWU Münster ist jedoch dem Reichsverband nach Aktenlage nie beigetreten.

Aber schon zuvor (Ende 1929) wollte Bitter beide Organisationen anscheinend wieder verlassen. Er schrieb nieder, vom Kommunismus á la KPD trenne er sich als prinzipieller Idealist: „Klar und deutlich, warum ich nicht mehr Kommunist bin: 1. Ich liebe den Geist, der Kom.[munismus] haßt den Geist und liebt den Leib und den Fraß für den Leib.“110 Zudem sei diese Richtung durch ein falsches Gleichheitsverständnis belastet. Die politische Gegenwart Deutschlands sei vom Kampf der Extreme KPD und NSDAP gekennzeichnet. Rechts und Links würden sich im Kampf aufreiben. Die übrigen Parteien dazwischen - gemeint waren also auch alle demokratischen Parteien - versänken im Sumpf. Rettung sei nur von der Jugend zu erwarten und all denen, die den Parteien rechtzeitig den Rücken gekehrt hätten. So sei auch er, Bitter, kein Organisationsmensch.111

Kommunist bleibe er jedoch in einem anderen Sinne: „Ehe man den Kommunisten den Vorwurf der Allesgleichmacherei macht, sollte man erst die Ställe in Wohnungen verwandeln, den Geringsten Arbeit geben.“112 Und Kommunist bleibe er weiterhin im „Geben, und Geben, dreimal Geben !“113

Seine Seele suche Nahrung, die ihr der Kommunismus nicht zu geben vermöge. Ihn schmerze der Verlust seines Kinderglaubens an Gott und die (katholische) Kirche. Er verblute vor Heimweh. Deshalb sitze er jeden Tag im Dom und quäle sich, seinen verlorenen Glauben wiederzufinden. In Theologie höre er Vorlesungen von katholischer wie von evangelischer Seite. Nichts habe geholfen. Schon gar nicht das Studium der Papstgeschichte.114 Das sei eher „wunderbar“ für diejenigen, „[…] die ungläubig werden wollen“.115

Die politischen Überwacher vermeldeten knapp zwei Monate später, sowohl Bitter als auch Hahn seien mittlerweile aus der KPD ausgetreten, um in die SPD einzutreten. Diesen Sinneswandel habe ihr Mitstreiter im FSSB, das SPD-Mitglied Fritz Niemeyer jun.

bewirkt.116

Gegenüber dieser Darstellung ist insofern Skepsis angebracht, als sich in allen anderen Quellen kein Hinweis auf eine SPD-Mitgliedschaft Bitters findet. Erwähnt wird die SPD zwar schon in Bitters nachgelassenen schriftlichen Äußerungen, doch in einem negativen Kontext: Die SPD habe „ein Schlamassel“ hinterlassen.117


KPD, Kandidat Thälmann, Reichspräsidentenwahl 1932 - mit Aufnahmeschein für KPD und „Reichsbund freisozialistischer Studenten“

Quelle: Stadtarchiv Münster, Polizeiregistratur: Nr. 120, Bl. 129


Demonstration, KPD Münster, ca. 1932

Quelle: Stadtarchiv Münster, SLG-FS-47, 04671/Fotograf(in): Pohlschmidt, Carl

Auch sein Tagebuch spricht eine andere Sprache: Entweder hatte er die Partei doch nicht verlassen oder aber sich ihr, was wahrscheinlicher ist, rasch wieder angenähert. Im Februar 1930 denkt und fühlt er schon wieder in den Bahnen der KPD.

Als ihm später, nicht zum ersten Mal, Zweifel an der Partei kamen, für die er andere Studenten als Agitator anwerben sollte, beruhigte er sein Gewissen mit einer irritierenden Gleichsetzung von SPD und KPD: Der von ihm sehr geschätzte Münsteraner Professor Otto Piper – Nachfolger auf dem Lehrstuhl des renommierten evangelischen Theologen Karl Barth118 - agitiere ja gleichfalls, aber als SPD-Mitglied, Studenten für den Sozialismus, so wie er als KPD-Propagandist diese Zielgruppe für den Kommunismus zu gewinnen suche. Wichtig sei vor allem das große Ziel.119 Was ihn dabei, erstaunlich genug, nicht weiter behelligte, war die fortschreitende Stalinisierung der KPD unter Ernst Thälmann Ende der Zwanziger Jahre.


Ernst Thälmann, Januar 1932

Quelle: BArch, Bild 102-12940/Fotograf(in):Pahl, Georg

Die SPD als die größere linke Partei und der ihr verbundene Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) wurden von ihr in völliger Verkennung der Verhältnisse gar als „sozialfaschistisch“ diffamiert.

In Münster traf der Bannstrahl der Stalin-Anhänger den ADGB-Chef Fritz „Niemeyer, den berüchtigten Sozialfaschisten, der mit Alkohol und Polizei [korrigierte Rechtschreibung] gegen ehrliche Arbeiter kämpft.“120

War die KPD schon im Inneren kaum demokratisch strukturiert, so konnte ihr Vorbild, die Stalin'sche Sowjetunion und ihre Partei, noch weniger als demokratisches Muster taugen. Diesen wesentlichen Aspekt ignorierte Bitter in der Frage der Mitgliedschaft durchgängig. Dabei waren selbst die Lokalzeitungen voll von Berichten über Lager für Andersdenkende – wie etwa auf den Solowki-Inseln im Hohen Norden. Besonders ausführlich ging die „Münstersche Zeitung“ zudem auf die Christenverfolgungen im Reiche des Kommunismus ein.121

Endgültig trennte sich Bitter erst von der KPD, als er erkennen musste, dass deren materialistische bzw. bolschewistische Weltanschauung nicht nur den Kampf für die gleiche, gerechte Verteilung der Güter der Welt beinhaltete. Auch den Kampf gegen jedwede Form von Religion - also gegen den Idealismus, wie ihn Bitter verstand - sah die Partei als unabdingbar an. So musste er sich schließlich eingestehen: „Ich verrate mich selbst, wenn ich da mittue.“122

Vorher jedoch stürzte Bitter sich noch einmal mit allem jugendlichen Elan und Pathos in die tagespolitischen Kämpfe der Partei. Geistige Munition lieferte ihm dabei die Lektüre von Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs Briefen aus der Haft während des Ersten Weltkriegs.

„Hunger! Hunger!“ Kampagne der KPD Münster zu Weihnachten 1930


Quelle: Stadtarchiv Münster, Polizeiregistratur: Nr. 128, Bl 009


Gedenkkarte: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ca. 1921

Quelle: BArch, Bild 10Y-RL6-26636/Fotograf(in):o. Ang.

Über die schon im Kaiserreich verfolgten, nach der Novemberrevolution 1918 ermordeten Gründer und Märtyrer der KPD schrieb er: „Ich habe gerade Karl Liebknechts Briefe zu Ende gelesen. Er ist tot. Aber ich bin sein Freund geworden. Wer war so gut, so rein, so gütig, wer war so kühn, so selbstlos und stolz wie er! Aber ihn, den besten Menschen, ihn den Hohen, haben sie gemordet. Ihn und Rosa Luxemburg, deren Briefe aus dem Zuchthaus ich auch kenne. Auch sie ein herrlicher Mensch, eine Hohe Frau. Auch sie ermordet! […]“123 Die geradezu hymnische Heiligsprechung der KPD-Führer durch Bitter stand denn doch in scharfem Kontrast zu den Gefühlen der Mehrheit im Lande. Bezeichnend für deren Stimmung war eher, wie sich der aus Küstrin stammende Ibbenbürener Helmut Pieper in der Rückschau über Rosa Luxemburg äußerte:

„[…] Für mich ist die größte aller Hexen [bei Pieper als Begriff eher eine Mischung aus Ablehnung und Bewunderung] die Rosa Luxemburg gewesen. Ich habe auch das Buch gelesen. Da liest man: ich denke und träume wie jede andere Frau, von einem Heim, einem Baby, Freunde einladen, ein paar Bücher haben. Alles so rührend. Was stellt sie sich vor, wo kommt die her, eine hochintelligente Jüdin aus Russisch-Polen, kommt nach hier, um Unfrieden zu säen. Gründet die USPD [Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands], aus denen sich der Spartakusbund [Vorläufer der KPD] bildete, und bringt es fertig […] zu sagen, daß wir die jungen Leute bewaffnen müssen und die Polizei entwaffnen. Das ist Terror.“124

In diese Einschätzung des Zeitzeugen, der die Zeit der Weimarer Republik frühestens in ihren allerletzten Jahren bewusst miterlebt haben konnte, fließt sicher manches ein, was er damals von seiner deutschnationalen Umgebung zu hören bekam.125


2. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau, 17.07.1920 Gruppenaufnahme: Levi, Paul; Trotzki, Leo Davidowitsch; Kamenjew, Lew; Sinowjew, Grigorij; Radek, Karl. Quelle: AdSD/FES, 6/FOTA007403

Ludwig Bitter hingegen notierte: „Ich habe mich entschlossen zum Kampf. Damit stelle ich mein Leben in den Brennpunkt. Möge es mich schmelzen und verglühen, ehe aus mir eine Form geworden.“126

Ein erster Höhepunkt sollte die Sprengung des Münsteraner Rosenmontagszugs am 3. März 1930 werden. Anfang 1930 hielt die Weltwirtschaftskrise Deutschland fest in ihrem Griff. Die Arbeitslosenzahlen stiegen rasant an. Die Aktion passte in den größeren Rahmen einer über Jahre immer wieder aufgegriffenen Erwerbslosen-Kampagne der Partei, mit der sie auf das Schicksal von Millionen Arbeitsloser drastisch aufmerksam machen wollte.127 Auch im Kreis Tecklenburg, zu dem Ibbenbüren gehörte, kam es später zu Demonstrationen Erwerbsloser, hinter denen die KPD stand.128

Vor dem Rosenmontag 1930 hatten kommunistische Aktivisten vor dem Arbeitsamt Münster Handzettel verteilt, in denen sie die Arbeitslosen zu einer Demonstration gegen den „bourgesisen [lies. bourgeoisen = kapitalistischen]] Karnevalsbetrieb“ am Ludgeritor aufriefen.129


Rosenmontag, Münster 1930

Quelle: Stadtarchiv Münster, SLG-FS-WVA-17550/Fotograf(in): Hülsbusch

Die karnevalistische Stimmung in Münster war 1930 eingetrübt. Nicht nur eingefleischten Kommunisten war wenig nach Feiern zumute. Auch im Stadtrat bzw. der Stadtverwaltung herrschten einige Bedenken.130 Andererseits hatten die Münster'schen Karnevalisten geschlagene 16 Jahre lang keinen Rosenmontagszug durchführen können. Man sehnte sich nach Normalität und sah den Karneval auch als Wirtschaftsfaktor.131

Zum Münsteraner Rosenmontag 1930 strömten viele Karnevalstouristen aus anderen deutschen Städten und Ostholland. Der Zug – Prinz war Pinkus Müller - führte über den Ludgeri-Platz. In dessen Mitte hatten sich KPD-Mitglieder – einige angeblich auch von auswärts - und Arbeitslose versammelt, um ihre Kundgebung abzuhalten.

Die Polizei schritt dagegen ein und versuchte, die Demonstranten zu vertreiben, was ihr aber nicht ganz gelang. Als hartnäckige Speerspitze des KPD-Trupps erwies sich Ludwig Bitter. Er erklomm die Statue des Pferdes im Denkmalensemble auf dem Platz. Von dort aus hielt er eine Ansprache an Karnevalisten und Kommunisten. Der genauere Inhalt ist weder in der Lokalpresse noch in seinen eigenen Aufzeichnungen zu finden. In den Zeitungen kommt Bitters Name nicht vor.132

Die „Münstersche Zeitung“ erwähnt, der Denkmalstürmer sei Student gewesen und habe für die Kommunisten gesprochen.133

Der „Münsterische Anzeiger“ schreibt von einem „Unzufriedenen“, der mit Unterstützung Gleichgesinnter „seinem Unwillen über die Geldverschwendung zuungunsten der hungernden Arbeitslosen Ausdruck gab“.134

Nach massivem Gummiknüppeleinsatz gelang es der Polizei, Bitter trotz Widerstandes seiner mit Spazierstöcken bewaffneten Genossen vom hohen Ross herunterzuholen. Er wurde als einziger von allen Protestlern festgenommen.

Bis zum nächsten Tag blieb er in Polizeigewahrsam. Nun drohte ihm, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt vor Gericht gestellt zu werden. Auch dem Rektor der Universität Münster wurde Mitteilung gemacht.135


Ludgeriplatz, Denkmal „Ross und Landmann“ , o.J.

Quelle: Stadtarchiv Münster, SLG-FS-WVA-16256 017/Fotograf(in): o. Ang.

Ein Ausschluss Bitters vom Studium lag im Bereich des Möglichen. Am meisten machte er sich aber Vorwürfe wegen der Sorgen seiner „lieben, harmlosen Eltern“, die ihn aus der Haft abholen kamen. Und er sah schon jede Form angestrebter Selbständigkeit schwinden:

„Nun eß ich meiner Eltern Brot und warte auf den Prozeß.“136

Die Angelegenheit dürfte für ihn noch einmal glimpflich ausgegangen sein. Bitters Studienbuch aus jener Zeit verzeichnet jedenfalls keine nachteiligen Einträge. Im Verzeichnis der Disziplinarfälle an der Universität findet sich zwar für 1930 sein Name samt Aktensignatur. Doch ist die dazugehörige Akte selbst unauffindbar.137 Ein Gerichtsurteil scheint ebenfalls nicht ergangen zu sein


Ludwig Bitter, o.J.

Quelle: NLB

Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt

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