Читать книгу Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt - Norbert Ortgies - Страница 8

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3. Sinnkrise in Königsberg


Reichstagswahl, KPD-Wahlplakat, 1930

Quelle: BArch, PLAK 102-073-007

In den folgenden Monaten des Jahres 1930 dürfte Bitter in sich gegangen sein. Sein Tagebuch schweigt zwar zu allem, was zwischen April und Oktober geschah. Dann aber meldet sich sein Schreiber wieder und hält rückblickend fest, dass er Mitte Juli wieder in die Partei eingetreten sei.138 Er fühle sich in mancherlei Beziehung gereifter, kälter, härter als vorher. Und flugs skizziert er einen verwegenen Plan: „[…] ob ich nun in der Partei ein Führer werde von Millionen Menschen, ob ich ein religiöser Reformator werde des katholischen Glaubens. Eins steht fest. Ich will und werde von jetzt an mit allen Kräften auf dieses Ziel hinarbeiten, d.h. auf das Führerziel [unterstrichen von LB]. Führer müssen bekannt werden. Dazu ist mir alles recht, was nicht unrecht ist. Ich will Einfluß gewinnen. Weil ich weiß, daß ich Menschen beeinflussen kann, weil ich weiß, daß ich das leben kann, was ich predige […]. So bin ich kein Privatmensch mehr, der machen kann, was er will. Was mir das Schicksal […] auch bringen wird [-] an jeder Stelle, wo ich stehe, will ich ein Mahner und Führer sein für das Recht.“139

Schon vorher, kurz nach seinem Wiedereintritt in die KPD, hatte er sich für die Partei nach seinen eigenen Worten geradezu aufgeopfert - im Reichstagswahlkampf des Jahres 1930: „[Ich] habe tatsächlich mit den ärmsten Proleten gelebt, habe leidenschaftlich zu Barackenproleten140 gesprochen, bin in ihren Höhlen gewesen, habe von Frauen Dankesworte bekommen, von Proletenfrauen, habe vor hunderten von Menschen gesprochen, auf Straßen und Plätzen, […] habe gesprochen, wie ich immer sprechen wollte […]. Wenns nach mir ginge, gäbs bei uns in der Partei immer das Leben wie vor der Wahl. Die Wahl brachte uns – in Münster – einen großen Sieg.“141

Auch im Gesamtergebnis der Wahlen vom September 1930 hatte die KPD reichsweit deutlich zugelegt. Nur blendete der begeisterte Wahlkämpfer Bitter samt seiner Partei aus, dass der Hauptprofiteur der Wahlen die NSDAP war.

Beschwingt vom Lauf der allgemeinen Politik wie des persönlichen Lebens exmatrikulierte sich Bitter Ende Oktober 1930 in Münster, um zum Wintersemester 1930/31 sein Studium an der Universität Königsberg fortzusetzen. Sein Umzug an den Ostrand des Deutschen Reiches verfolgte mehr oder weniger deutlich ausgesprochen zwei Ziele. Erstens, die russische Sprache und Kultur in der Nähe ihres Verbreitungsgebietes zu studieren. Zweitens, nach dementsprechender Vorbereitung für längere Zeit in die Sowjetunion überzusiedeln.142 Kenntnisse im Russischen hatte er unter Anleitung eines „russischen Lehrers“ erworben.143


Königsberg, Dominsel mit Dom und Universität, ca. 1929

Quelle: BArch, Bild 102-03089/Fotograf(in):Pahl, Georg

Spätestens seit jenen Tagen faszinierte ihn der Osten. Er las Puschkin, Lermontow. Dostojewski und Maxim Gorki.144 Kein anderer Schriftsteller nahm ihn jedoch so für sich ein wie Leo Tolstoi: „Wenn ich den Namen Tolstoi aussprach, dachte, stand der Duft der wohltuend betäubenden, sensenreifen, taufrischen Wiesen vor mir auf, sah ich vor mir den Mann, der keinen Kompromiß in der sozialen Frage kennen wollte, der Urchrist zu sein, sich selber mit aller Härte antrieb.“145

Bitter stieg gleich in den zweiten Teil eines Russischkurses ein, belegte Übungen in Russisch für Fortgeschrittene und in russischer Lektüre. Wie er überhaupt eintauchte in alle möglichen weiteren akademischen Fragenkreise zu Russland. Theatergeschichte, Meereskunde und eine Veranstaltung zur Sexualität des Menschen runden den Eindruck eines breiter angelegten Studiums ab.

Hauptsächlich studierte Bitter bei Nikolaus von Arseniew, einem Slawisten, orthodoxen Theologen und Priester.146 1933 gelang es dem schon früh aus Sowjetrussland geflohenen Gegner der Sowjetherrschaft, seine Mutter und Schwestern aus der Sowjetunion „herauszukaufen“.147 In der nach dem Überfall von Nazi-Deutschland besetzten Sowjetunion arbeitete Arseniew vorübergehend für die deutschen Besatzer als Dolmetscher im Range eines „Sonderführers“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ er sich in den USA nieder.148 Im heute russischen Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, ist um die Frage seiner Ehrung als russischer Geistesgröße des 20. Jahrhunderts ein heftiger Streit entbrannt.149


Königsberg, Albertina (Universität), neues Universitätsgebäude, ca. 1929

Quelle: BArch, Bild 102-03065/Fotograf(in): Pahl, Georg

Sein akademisches Gegenbild verkörperte Martin Eduard Winkler, bei dem Bitter russische Kulturgeschichte studierte. Der deutsche Professor für Osteuropäische Geschichte und Leiter der historischen Abteilung am Institut für Russlandkunde hatte das frühe Sowjetreich auch auf Reisen durchs Land erkundet und beschrieben. Aus politischen Gründen durfte sich Winkler schon bald nach der sogenannten Machtergreifung Hitlers nicht mehr als Professor betätigen. Er wurde 1939 mit nur 46 Jahren zwangspensioniert. Seine umfangreiche Ikonensammlung, die Bitter im „Institut für Russlandkunde“150 „mit Entzücken“151 bewunderte, fand nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges ihre neue Heimat in Recklinghausen.152


Martin Winkler, Professor für Osteuropäische Geschichte. Porträt von Igor' Grabar', 1931

Quelle: Ikonenmuseum Recklinghausen

Von Anfang an fremdelte Bitter mit Ostpreußen und seiner Hauptstadt, fühlte sich einsam und verlassen: „Mich kann die Natur und Landschaft, die Stadt Königsberg, mit allem was darin ist, [..] nicht interessieren, und wenn andere von Sehenswürdigkeiten sprechen und Kunstwerken […] bleibe ich kalt.“153

Hauptgrund war seine erfolglose Gottsuche. „Wenn ich Gott hätte [unterstrichen von LB], könnte man mich nach Sizilien verbannen, er würde ja bei mir sein! Aber so weine ich vor Heimweh nach den Einzigen, die mich lieben, nach den Eltern und Geschwistern.“154

Nicht zuletzt belastete ihn, dass seine jahrelange Suche nach einer Partnerin immer aussichtsloser erschien.155 Passagen in seinem Tagebuch lassen vermuten, dass er sich nach dem Bruch mit seiner Mesumer Jugendfreundin noch einmal kurz und heftig verliebt hatte. Doch auch diese Beziehung, wenn sie denn nicht eine übersteigerte, rein geistige gewesen war, kann nicht sonderlich lange gedauert haben.156

In Königsberg fiel Bitter ein Büchlein des vormaligen russischen Revolutionärs und späteren Sowjetfunktionärs E. Jaroslavskij [Jaroslawski/Jaroslawsky] mit dem Titel „Wie Götter geboren werden, leben und sterben“ in die Hände. Nun konnte er es im russischsprachigen Original lesen.


Jaroslavskij, Emel'jan_Michajlovič. Karikatur, Urheber/in: o. Ang. Pseudonym: Ovod. ca. 1927. Jaroslavskij wird hier als Spürhund Stalins in den Machtkämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion dargestellt.

Quelle: Staatliches Museum für politische Geschichte Russlands. Gemeinfrei. In: https://commons.wikimedia.org/w/index.php? curid=5828905/11.05.2020

Und was er dort fand, erschütterte sein enges Verhältnis zur KPD für immer: „Nun beginnt mein Glaube an den Bolschewismus doch wankend zu werden. Nicht an den Kommunismus! [unterstrichen von LB] Wie ich mich nun augenscheinlich überzeugen konnte, fordern sie von jedem Bolschewik Haß, Kampf gegen die Religion. In dem Buch von Jaroslawsky „Wie Götter geboren werden[,] leben und sterben“, stehen neben des Nachdenkens werten Behauptungen solch unsinnige und kindische Beweisführung[en], daß das ganze auf eine gemeine Übertölpelung der Proleten herauskommt.“157

Bitter betonte die Bedeutung von Liebe und Frieden als religiös fundierten Werten des Christentums. Auch dessen religiöses Brauchtum, gerade das bevorstehende „heilige“ Weihnachtsfest verkörpere eine positive menschliche Tradition. Angesichts dessen sei die Art religiöser Aufklärung wie sie die Bolschewiki, in Sonderheit Jaroslavskij, betrieben als nicht angemessen rundum abzulehnen. Der Bolschewismus laufe auf die primitive Floskel von Religion als Betrug am Volk hinaus.158 Als Christ sah er sich jedoch immer noch nicht.159

Ihn fror jetzt aber in der Gemeinschaft vermeintlich Gleichgesinnter, in den Zusammenkünften der Königsberger Kommunisten : „[… ] ich ersticke vor Langeweile. [… ] Stunden wurden verquatscht über geschäftliche, organisatorische Fragen, mit bewußter Langsamkeit, weil man nicht weiß, wie man die Zeit totschlagen soll. […] sie halten sich für wissend, untereinander. Lohnt sich also nicht zu diskutieren [unterstrichen von LB]. […] Sie haben ausgelernt. Es geht ihnen nur noch darum, anderen ihr Wissen beizubringen.“160

Wenn Ludwig Bitter sich über Einsamkeit beklagte, ob in Münster, Königsberg oder anderswo, dann meinte er die Einsamkeit in der Masse der Menschen, die ihn nicht so verstanden, wie er verstanden werden wollte. Umgekehrt blieben sie ihm ebenfalls oft fremd.161 Die Gefahr, aus solch einer Perspektive heraus wahnsinnig zu werden oder gar durch Selbstmord zu enden, war ihm durchaus bewusst.162

Tatsächlich aber war er gut vernetzt in einer sozial-politisch aktiven Schicht von Akademikern, die beileibe nicht alle der KPD anhingen.163 Auch die beiden Professoren am Königsberger „Institut für Russlandkunde“ pflegten eine erstaunliche Nähe zu ihren Eleven: Sie luden die angehenden Slawisten in ihre Privatwohnungen ein, wo diese ihren Erzählungen über Russland lauschten und russische Volkskunst bestaunten.164 Der Kontakt zur Vermieterin seiner Königsberger „Bude“ war herzlich.165

Noch in Königsberg hatte Bitter nach vielen Anfechtungen, die selbst später noch lange nicht aufhören sollten, zum Glauben an Christus als Sohn Gottes zurückgefunden. Den Anstoß hierzu gab seine Auseinandersetzung mit den Lehren des mittelalterlichen christlichen Philosophen Cusanus (Nikolaus von Kues), dessen Lektüre er als gewinnbringend empfand und akzeptierte.166


Studierendenausweis der Universität Königsberg für Ludwig Bitter, 1930 (Montage von Teilen der Vorder- und Rückseite).

Quelle: NLB

Cusanus beweise überzeugend die Existenz Gottes, an die er – Bitter – ohnehin immer geglaubt habe. Weiterhin beweise er die Geschichtlichkeit und die Göttlichkeit Jesu.167 Und das hieß für ihn nun trotz aller ökumenischen Kontakte gerade während des Studiums: „Ich bin wieder Katholik.“168

Zwischen dem 28. und 30. November 1930 erklärte er (anscheinend schriftlich) gegenüber Josef Steiner, einem der führenden Köpfe der KPD Münsters169, seinen Austritt aus ihren Reihen170, blieb aber bis Ende März 1931 zur Fortsetzung seines Studiums in Königsberg.171 Dort setzte er sich mit dem Jesuitenpater Matthias Dietz, dem Studentenseelsorger an der Universität, in Verbindung, der ihn wieder in die Gemeinschaft der katholischen Christen aufnahm.172

Die erneute Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bedeutete aber nicht, auf Kritik an ihr als Organisation zu verzichten. Sein Notizbuch durchziehen viele kritische Sentenzen. Im großen und ganzen war sie ihm nicht lebendig genug, oft genug zu abgehoben von den Menschen, lebensfern: „Die Kirchen stehen verlassen. Um sie herum brandet das Leben, ohne sich um sie zu kümmern. Das ist das Schlimmste, nicht mehr beachtet zu werden.“173

Jedoch bejahte er offenkundig grundsätzlich die Notwendigkeit ihrer Existenz, so wie er sich für mehr Ökumene aussprach - etwa in der zwischen Protestanten und Katholiken strittigen Abendmahlsfrage. Nachhaltig geprägt war er von der im damaligen Katholizismus üblichen Leibfeindlichkeit. Immer wieder machten ihm die menschlichen Triebe zu schaffen, wenn er seinen Idealen von Schönheit und Reinheit nachhing.174

Den Austritt aus der KPD bewertete er zwar als endgültigen Abschied vom Bolschewismus175, nicht jedoch vom Kommunismus.176 „Revolution? Darf ich sie mitmachen? Wenn ich mich bis ins Letzte umkrempele, dann finde ich da einen Pazifismus, der keine Kompromisse gestattet. Enteignung? Kann ich mittragen. […] Mein klarer Weg wird der: Vom religiös-kommunistischen Standpunkt aus mich mit meinem ganzen Leben für das Proletariat und den Weltfrieden aufzuopfern ohne Gewalt! Allein durch die Tat des [unleserlich] und Predigt.“177

Wie nah sich Ludwig Bitter und Hugo Bendiek, der der Politik zeitlebens fernstand, doch waren, zeigt ein vergleichender Blick auf Bendieks Lebens- und Bildungsweg nach dem Abitur. Bendiek hatte das Heil in der Philosophie, Bitter im Kommunismus bzw. Sozialismus gesucht. Beiden reichten deren Antworten auf ihre Fragen an das Leben nicht aus. Deshalb gerieten sie mehr als einmal in den Strudel einer anhaltenden Lebenskrise. Erst durch die erneute Hinwendung zum christlichen Glauben gelangten sie nach und nach an das rettende Ufer. Auf dem Höhepunkt seiner Königsberger Krise, die mit dem Austritt aus der KPD nicht einfach endete, erwog Bitter ernsthaft, katholischer Priester zu werden.178

Bendieks Schilderung seiner Bekehrung klingt ähnlich dramatisch wie Bitters Königsberger Tagebuch: „Ich brach zusammen und stammelte das Glaubensbekenntnis. Das war am 24. Juni 1932.“179 Es sollte noch gut zwei Jahre dauern, bis Hugo Bendiek unter dem Ordensnamen Johannes in Warendorf in den Franziskanerorden eintrat – noch vor seiner Promotion zum Doktor der Philosophie im Juni 1935.180

Hubert Hinterding hingegen, der Einzelgänger par excellence, war aus anderem Holz geschnitzt. wie seine Skizzierung der geistig-politischen Lage vor 1933 zeigt: „Linksliberale, Linksintellektuelle (!) (dieser Begriff wäre damals, in den Jahren vor 1933, eine Tautologie gewesen), Antimilitaristen, Pazifisten, Sozialisten, Gesinnungsfreunde der [„]Liga für Menschenrechte“, Leser der Weltbühne181, Kosmopoliten, Paneuropäer, in einer Zeit, die soviel Gelegenheit bot, Pfeile abzuschiessen gegen das, was da von rechts dick, dumpf und geistverlassen auf uns zukam.“182


Dr. Johannes (Hugo) Bendiek (OFM) mit Prof. Dr. Peter Wust vor der Nepomuk-Kapelle des Franziskaner-Klosters Warendorf anlässlich der „Einfachen Profess“ Bendieks, 13.08.1935

Quelle: Archiv der Deutschen Franziskanerprovinz, Paderborn

Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt

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