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I. „Epoche“ Vormärz (1815 – 1848)
ОглавлениеProblematik des Epochenbegriffs
Literaturgeschichte verknüpft Einzelfakten, Ereignisse, Texte und Interpretationen zu einem mehr oder weniger geschlossenen Darstellungszusammenhang, der Einheit und Wandel von (ästhetischen) Formen, (literarisch-strukturellen) Modellen, (kulturellen) Mustern, geistes- und ideengeschichtlichen Konstellationen veranschaulichen soll. Zeitliche Einschnitte und Epochen dienen in diesem Rahmen als Ordnungsschemata, auch wenn deren nähere Bestimmung eine Quelle immer wieder aufflammender Kontroversen ist, die bis in die unmittelbare Gegenwart anhalten. Erst 2002 stellte der Deutsche Germanistenverband ein ganzes Themenheft zur Epochenproblematik zusammen, in der Absicht die Diskussion zu diesem Thema nicht nur zu bilanzieren, sondern auch wieder beleben zu können (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 43, 2002, H. 3: Epochen. In Zusammenarbeit mit Georg Behütuns hrsg. von Peter Strohschneider und Friedrich Vollhardt).
Epochen existieren nicht aus sich heraus; sie sind Konstrukte, kurz: Interpretationsleistungen, die als solche Auskunft geben auch über das ihnen zugrundeliegende Erkenntnisinteresse (ästhetisch, formal, politisch, ideengeschichtlich) und die nicht zuletzt aufgrund der eingestandenen Historizität allen Wissens unter einem Vorbehalt stehen, denen m. a. W. ein nur vorläufiger Erkenntniswert zugesprochen werden kann zum Zweck des besseren Verständnisses der komplexen Erscheinungen der Literatur und der Fülle des Materials. Epochen beschreiben Erfahrungen von Zeitlichkeit (Steinwachs 1985, 312 f.); sie dienen der Systematisierung (von Geschichte), indem sie die geschichtliche Zeit in eine Folge von in ihrer Form und Organisation einzigartigen Zeiträumen unterteilen, die sich hinsichtlich ihrer leitenden Tendenz jeweils voneinander unterscheiden lassen, und sie liefern damit ein Hilfsmittel zum Verständnis von historischen Abläufen. Kurz: Sie verknüpfen das anscheinend diffuse Aufeinandertreffen zeitgeschichtlicher Erscheinungen und Tendenzen zu einem in sich geschlossenen Ganzen von bestimmter Dauer, d. h. mit einem Anfang und einem Ende. Epochenbegriffe und Epochenkonstruktionen erlauben allgemeine Aussagen über Entwicklungen, über Kontinuitäten und Diskontinuitäten/ (Ab-)Brüche. Sie legen nahe, dass es innerhalb der historischen Zeitfolge abgrenzbare historische und/oder literarhistorische Gestaltungsformen von Geschichte gibt – und sie begründen (mit einigen eingestandenen Verkürzungen) die epochale Einheit im (Traditions-)Bruch: Da keine historische, soziale, kulturelle, literarische Erscheinung aus dem Nichts heraus ans Tageslicht tritt, setzt ein Anfang zwangsläufig ein Ende voraus. Im literarhistorischen Fall heißt das: eine Menge von Texten weist für einen bestimmten Zeitraum eine Reihe beschreibbarer Gemeinsamkeiten auf; zugleich sind, was ihre Darstellungsweisen oder die dargestellten Welten betrifft, die Unterschiede zwischen ihnen geringer als zu den Texten eines anderen Zeitraums, die sich ihrerseits in ihren Gemeinsamkeiten von den Texten des ersten Zeitraums (und weiterer Zeiträume) unterscheiden; die Gesamtmenge der epochenspezifischen Textstrukturen (Darstellungsweisen, Wertzusammenhänge, Normvorstellungen, Wissenskonfigurationen, Geschlechtermuster etc.) wiederum bildet ein Literatursystem, das sich in seinen Strukturmustern, Funktionsweisen und seinen Regulierungsmechanismen beschreiben lässt. Epochenmodelle unterstellen damit eine historische Abfolge von als solchen identifizierbaren und gegeneinander abgrenzbaren historischen oder literarhistorischen Gestaltungen von Geschichte, zugleich damit das Aufeinandertreffen auf- und absteigender Linien nach dem Muster von Aufstieg, Blüte und Verfall.
Im Grunde genommen wirkt in diesem Epochenverständnis noch immer ein Modell der Epochenbildung weiter, das Goethe zu Beginn des siebten Buches von „Dichtung und Wahrheit“ in dem Gedanken angedeutet hat, die „literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch“ (WA I,27, 72). Die Vorstellung des Bruchs ist hier ebenso grundlegend wie in Heines späterer Rezension von Wolfgang Menzels Literaturgeschichte „Die deutsche Literatur“ (Stuttgart 1828). Heine spielt hier mit seinen einleitenden Bemerkungen zum „Ende der [Goethezeitlichen] Kunstperiode“ den von Goethe entwickelten Gedanken unmittelbar gegen seinen Urheber aus. Die heraufziehende neue Epoche der Literatur, heißt es hier, beginne „mit Insurrekzion gegen Goethe“ (DHA X, 247).
„Vormärz“ als Epoche
Was hier ganz allgemein zur Problematik von Epochenbegriffen gesagt wurde, gilt auch für die „Vormärz“ genannte Epoche. Auch die Epochenbezeichnung „Vormärz“ legt nahe, dass es auf dem Zeitpfeil der sozialen, politischen, kulturellen, ästhetisch-poetologischen (oder was auch immer) Entwicklung eine als solche identifizierbare, d.h. durch ein Set von Erscheinungen und Tendenzen gegenüber einem Vorher und einem Nachher abgrenzbare historische und/oder literarhistorische Gestaltungsform von Geschichte gibt, die es erlaubt, von der Identität einer mit ihrem Namen bezeichneten Epoche zu sprechen. Im Unterschied zu Epochenbezeichnungen wie „Romantik“ oder „Klassik“ stellt der ‚Vormärz‘-Begriff die Geschichte der Literatur allerdings von vornherein und ausdrücklich in einen historischen Bezugsrahmen. Die Epochenbezeichnung „Vormärz“ bringt einen Zeitraum des Vorher auf den Begriff, der als Bezugspunkt der literaturgeschichtlichen Entwicklung außerhalb dieser selbst liegt. „Vormärz“ ist der Zeitraum vor dem März, also vor der bürgerlichen Revolution von 1848 und damit auch vor dem gescheiterten demokratischen Experiment des Frankfurter Paulskirchenparlaments mit seinem Leitziel des freien Bürgers in einem rechtstaatlich und national geeinten System. Die Epochenbezeichnung „Vormärz“ bezeichnet also das, was man einen Zeitraum prä festum nennt, einen Zeitraum des ‚Vorher‘ (im Unterschied zu einem Zeitraum des ‚Nachher‘).
Vormärz – Nachmärz
Die Identität der Epoche besteht mit anderen Worten in ihrer Vor-Geschichtlichkeit. „Vormärz“ ist der Zeitraum vor dem März, so wie der „Nachmärz“ – auch dieser Begriff ist als Epochenbezeichnung durchaus gebräuchlich, wenn auch um einiges mehr strittig als der des „Vormärz“ – den Zeitraum nach dem März, also nach der Revolution bezeichnet. Die Revolution von 1848 bildet in dieser epochengeschichtlichen Einteilung damit gleichsam eine Spiegelachse der historischen und der kulturellen Entwicklung. Sie liegt zwischen dem „Vormärz“ als dem Zeitraum, der alle auf die Revolution zulaufenden Tendenzen und Erscheinungen in sich vereinigt, und dem „Nachmärz“ als gegenläufigem, also dem von der Revolution und ihren Zielen wegführendem historischen Prozess.
Während der Epoche mit der Revolution von 1848 solcherart ein Ende, wenn auch nicht notwendigerweise ein Ziel gesetzt war, blieb insbesondere die Frage der Eröffnungszäsur des Vormärz lange Zeit strittig: nachdem lange Jahre die Julirevolution von 1830 und die durch die französischen Ansprüche auf das linke Rheinufer heraufbeschworene Rheinkrise von 1840 mit dem durch sie auf deutscher Seite ausgelösten Nationalisierungsschub als epochale Eröffnungen zur Diskussion standen, wird der ‚Vormärz‘-Begriff genauso wie der gegenläufige Begriff „Restaurationsperiode“ (dazu später noch mehr) heute ohne größere Einsprüche für den gesamten Zeitraum vom Jahr des Wiener Kongresses und der Gründung des Deutschen Bundes (1815) bis zur Revolution von 1848 bei (zumindest in der Literaturwissenschaft relativ offengehaltenen Periodisierungsgrenzen) verwendet (vgl. dazu Stein/Vaßen 1998, Bock 1999, Stein 2000 und Eke 2000).
Wort- und Begriffsgeschichte
Der Epochenbegriff „Vormärz“ ist – was angesichts seiner Bedeutung als Bezeichnung für einen Zeitraum vor dem Ereignis (der Märzrevolution), auf das er sich bezieht, unmittelbar einleuchtet, selbst ein Begriff post festum (nach dem Ereignis entstanden also und als retrospektive Deutung selbst nachzeitlich). Als solcher kann er den Vormärz-Autoren auch nicht als Programmbegriff dienen, wie dies bei dem ganz anders gelagerten Begriff der ‚Romantik‘ und den ihm zugeordneten Autoren der Fall ist.
‚Vormärz‘ als rückständige Zeit
Überraschend allerdings ist – zumindest auf den ersten Blick und angesichts seiner weiteren Karriere – die anfänglich ausschließlich negative Besetzung des „Vormärz“-Begriffs: als Ausdruck nämlich zur Bezeichnung der Rückständigkeit der politischen Verhältnisse vor der Revolution. In Kombination mit dem Komplementärbegriff „Nachmärz“ bezeichnet der „Vormärz“ in den auf die Revolution von 1848 folgenden Jahren zunächst und ursprünglich so einen entwicklungslosen Zeit/Raum der Dauer: ‚vor‘ der Revolution war wie ‚nach‘ der Revolution – politisch ebenso wie mental (womit freilich die Revolution selbst den Status eines Ausnahmezustands gewinnt: als Versuch zu einer Durchsetzung demokratischer Zustände in nationaler Einheit ist sie herausgesprengt aus dem ereignislosen Zeitrahmen des ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘). Das kommt zum Ausdruck in einer von dem Dramatiker Franz Grillparzer noch im Revolutionsjahr 1848 geschriebenen „Kalender-Wahrheit“, die mit Blick auf die Novemberereignisse des Jahres (Niederschlagung der Aufstände in Wien, Erschießung des Frankfurter Parlamentsabgeordneten Robert Blum, Besetzung Berlins, Ablehnung der großdeutschen Lösung durch Österreichs neuen Ministerpräsidenten Felix Fürst zu Schwarzenberg) resignierend auf das im März 1848 allenfalls kurzzeitig unterbrochene Gleichmaß des geschichtlichen Zeitenlaufs verweist:
Vormärzlich ist der Februar,
Es preis ihn wer da will,
Doch auf den März unmittelbar,
Folgt auch nur der April.
(HKA I, 12, S. 209)
In eben diesem hier angedeuteten Sinn erscheint in einem ebenfalls von Grillparzer im Juni des folgenden Jahres (1849) unmittelbar vor der Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlaments verfassten Epigramm, einer versifizierten Polemik gegen den politischen Opportunismus des damaligen österreichischen Justizministers Alexander von Bach, das Neue (Nachmärzliche) als Verlängerung des schlechten Alten (Vormärzlichen):
Dein besonnen und entschieden: Vorwärts
Heißt im Nach-März wie im Vor-März
Will man den rechten Sinn umschreiben:
Minister werden und Minister bleiben.
(HKA I, 12, S. 209)
Etwa um dieselbe Zeit schreibt Heinrich Heine das Gedicht „Michel nach dem Merz“, in dem er sich in der Form des in der Zeit ungemein populären ‚Michelliedes‘ mit dem Scheitern der politischen Hoffnungen der Märzrevolution auseinandersetzt (der zipfelbemützte deutsche Michel ist die Inkarnation des deutschen Untertanen!). ‚Nach dem Merz‘ (Nachmärz) meint in dieser gegen Ende 1850 im „Frankfurter Musenalmanach“ erschienenen Abrechnung mit der im deutsch-kleinbürgerlich nationalen Patriotismus steckengebliebenen bürgerlichen Revolution die politische Schlafmützigkeit und die Untertanenmentalität des deutschen Philisters, der sich im März nur scheinbar „ermannt“ hat, d.h. aus seinem politischen Phlegma erwacht ist, dann aber dem Gang der Revolution tatenlos zugesehen hat, über dem Bemühen der Paulskirchenabgeordneten, die Reichsgewalt zu stärken, sanft entschlummert und solcherart wieder in seine alte (vormärzliche) Haltung zurückgefallen ist. Am Ende des Gedichts (der Revolutionsgeschichte) zeigt sich Heine unter der Maske des im März scheinbar erwachten Michels nur wieder der schlafmützige deutsche „Bärenhäuter“, der sich nach dem (in Heines Augen nicht zuletzt auch aufgrund des rückwartsgewandten Zugs der deutschen ‚Ermannung‘) gescheiterten revolutionären Intermezzo wieder mit der alten deutschen Kleinstaaterei konfrontiert sieht.
Michel nach dem Merz.
So lang ich den deutschen Michel gekannt,
War er ein Bärenhäuter;
Ich dachte im Merz, er hat sich ermannt
Und handelt fürder gescheuter.
Wie stolz erhob er das blonde Haupt
Vor seinen Landesvätern!
Wie sprach er – was doch unerlaubt –
Von hohen Landesverräthern.
Das klang so süß zu meinem Ohr
Wie mährchenhafte Sagen,
Ich fühlte, wie ein junger Thor,
Das Herz mir wieder schlagen.
Doch als die schwarz-roth-goldne Fahn’,
Der alt germanische Plunder,
Aufs Neu’ erschien, da schwand mein Wahn
Und die süßen Mährchenwunder.
Ich kannte die Farben in diesem Panier
Und ihre Vorbedeutung:
Von deutscher Freyheit brachten sie mir
Die schlimmste Hiobszeitung.
Schon sah ich den Arndt, den Vater Jahn –
Die Helden aus andern Zeiten
Aus ihren Gräbern wieder nah’n
Und für den Kaiser streiten.
Die Burschenschaftler allesammt
Aus meinen Jünglingsjahren,
Die für den Kaiser sich entflammt,
Wenn sie betrunken waren.
Ich sah das sündenergraute Geschlecht
Der Diplomaten und Pfaffen,
Die alten Knappen vom römischen Recht,
Am Einheitstempel schaffen.
Derweil der Michel geduldig und gut
Begann zu schlafen und schnarchen,
Und wieder erwachte unter der Hut
Von vier und dreyzig Monarchen.
(DHA III/1, 239f.)
‚Vormärz‘ als Epochensignatur
Ebenfalls 1850 veröffentlicht Karl Gutzkow ein Bändchen mit Feuilletons unter dem Titel „Vor- und Nach-Märzliches“, das zwar keine ausdrückliche Begriffbestimmung bietet, zumindest den „Nachmärz“ aber in der Linie Grillparzer – Heine als ein Phänomen der Erfahrungsgeschichte beschreibt: hier nun dezidiert als Zustand der Erschöpfung, in den die Geschichte nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 eingetreten sei. Explizit wendet Gutzkow, der auf der anderen Seite den ‚Vormärz‘-Begriff in den 1850er Jahren mehrfach bezogen auf den Zeitraum von 1830 bis 1848 gebraucht („Vergangene Tage“, 1851; „Wally, die Zweiflerin“. Neuausgabe; „Die Nihilisten“, 1853), sich gegen eine aus eben dieser Erfahrung resultierende ‚nachmärzliche‘ Mentalität (oder: Geisteshaltung), die sich zumal in der „souveraine[n] Verachtung der Gegenwart“ und einem Rückzug ins Ästhetische niederschlage, der zugleich auch ein Rückbezug aufs Ästhetische sei, während der Vormärz – hier beginnen sich die Gewichte vorsichtig bereits zu verschieben – gedanklich bereits auf den Frühling des Revolutionsjahres bezogen ist. Leider, so klagt Gutzkow, hätten sich viele, „die gewohnt sind, mehr in der Welt des Scheines als der Wirklichkeit zu leben, […] zurückgezogen in ihre archimedischen Cirkel oder trophonischen Höhlen“ (Gutzkow 1850, 219).
„Archimedische Cirkel“ – „trophonische Höhlen“: das sind zwei besonders eklatante Beispiele einer (wenn man so will) weltabgewandten ‚ästhetischen‘ Haltung, die das Leben nicht hat und zumindest im ersten Fall auch das Leben kostet. Mit den „trophonischen Höhlen“ spielt Gutzkow an auf ein nach Trophonios, dem Erbauer des ersten Apollontempels in Delphi, benanntes Orakel, das sich in einer Höhle befand. Nur rückwärts kriechend – man kann das bei Herodot nachlesen – konnte der Fragesteller diese Orakelhöhle betreten, in der er, in einen Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen versetzt, aus der Unterwelt aufsteigenden Stimmen lauschen konnte. Eigentümlich und geheimnisvoll waren die Antworten des Erd-Orakels und die Fragesteller selbst sollen nach ihrer Rückkehr aus der Orakelhöhle ihr Leben lang mit Schwermut und Traurigkeit geschlagen gewesen sein (vgl. Göttling: Narratio de oraculo Trophoni, Jena 1843). Mit den „archimedischen Cirkeln“ wiederum verweist Gutzkow auf das Ende des berühmten griechischen Mathematikers Archimedes von Syrakus, der einer Anekdote zufolge bei der Eroberung von Syrakus durch die Römer im Jahre 212 v. Chr. getötet wurde, weil er völlig in sich und seine Wissenschaft versunken, die reale Gefahr für sein Leben nicht mehr wahrzunehmen in der Lage gewesen war. Über eine in den Sand gezeichnete Berechnung gebeugt, soll er auf die Aufforderung eines eindringenden Römers, sich zu erheben, geantwortet haben: „Störe meine Kreise nicht“, woraufhin er von dem Soldaten umstandslos und sofort erschlagen wurde.
Entschieden weist Gutzkow diese für das Leben und die Welt untaugliche (weil tödliche), was nichts anderes heißt als: apolitische Haltung zurück und fordert angesichts der politischen Entwicklung ein historisches (dialektisches) Bewusstsein, das den drohenden Sinnverlust im Angesicht des Scheiterns abzuwenden erlaubt:
Der blasirte Publicist erklärt die Demokratie für erschöpft, für erloschen und bewundert nur noch die schnelle, zauberhafte Entwickelung militairischer Kräfte, die uns so imposante kriegerische Schauspiele aufgeführt haben. […] Gerade jetzt, im Angesicht des Treubundes, im Angesicht des gedankenlosen Rückfalls in den alten beschränkten Unterthanenverstand und die alte soldatische und bürgerliche Sondereitelkeit der Stämme, beginnt die schöne Aufgabe eines freien und selbständigen Publicisten. Wer jetzt ausruft: Alles ist verloren, Alles ist eitel, und sich die Dinge gefallen läßt, wie sie sind, der war entweder nicht berufen, während des allgemeinen allerdings wüsten Lärmes mitzusprechen und der Nation eine Beachtung seiner Meinung zuzumuthen, oder er hat sich für immer eine zu große, zu schwere Aufgabe auf seine schwachen Schultern geladen. (Gutzkow 1850, 220f.)
Andeutungsweise verschieben sich bereits in Gutzkows Essay die Gewichtungen des ‚Vormärz‘-Verständnisses. Ex negativo, indirekt also, lässt sich der scharfen Kritik Gutzkows so eine andere Bestimmung des ‚Vormärz‘ bzw. der Vormärzliteratur, und zwar aus der Sicht eines ihrer Protagonisten, ablesen. Durch das Kritisierte hindurch gewinnt die Vorstellung einer Epochensignatur ‚Vormärz‘ Konturen, konkret hier einer Literatur, die Schluss machen wollte mit der Vorstellung der Kunstautonomie, die sich eben nicht auf den olympischen Standort des Rein-Ästhetischen beschränken (lassen) wollte, sondern die teilhaben, mitgestalten, eingreifen, kurz: ‚politisch‘ sein wollte. Die eingangs zitierte Bemerkung Heines zum Epochenumbruch lautet denn auch vollständig: „Das Prinzip der Goetheschen Zeit, die Kunstidee, entweicht, eine neue Zeit mit einem neuen Prinzipe steigt auf, und seltsam! wie das Menzelsche Buch merken läßt, sie beginnt mit Insurrekzion gegen Goethe.“ (DHA X, 247)
„Ende der Kunstperiode“
Nicht zufällig wurde Heines Wort vom „Ende der Kunstperiode“, geschrieben 1831 und dabei Klassik und Romantik umfassend, zum Leitgedanken einer Epoche, die ihre Identität in der Abkehr von einer kunstautonomen Dichtung und der Hinwendung zu einer „Poesie des Lebens“ (so ein weiteres Schlagwort), d. h. einer politischen und eben lebensbezogenen Kunst finden sollte, auch wenn unter der Oberfläche literarische Tendenzen und ästhetische Prozesse weiterliefen (die Romantik beispielsweise reicht in ihren Ausläufern weit über die dreißiger Jahre hinaus) und auch die neue, sich hier mit Macht ankündigende Literatur keineswegs so homogen war, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Was Heine selbst mit dem von ihm verkündeten Ende der sogenannten „Kunstperiode“ meinte, erschließt sich aus seinem Briefwechsel mit Karl August Varnhagen von Ense und dessen Frau Rahel. Heine beschreibt Goethe hier als „großes Zeitablehnungsgenie“, das sich in einer gesellschaftsabgewandten „Kunstbehaglichkeit“ eingerichtet habe und sich allein „letzter Zweck“ sein wolle. Die Zeit dieser weltenfernen „Kunstbehaglichkeit“ sei nun unwiderruflich an ihr Ende gekommen: „Es ist noch immer meine fixe Idee“, schreibt Heine so im Februar 1830 an Varnhagen, „daß mit der Endschaft der Kunstperiode auch das Goethenthum zu Ende geht; nur unsre ästhetisirende, philosophirende Kunstsinnzeit war dem Aufkommen Goethes günstig; eine Zeit der Begeistrung und der That kann ihn nicht brauchen.“ (Säkularausgabe 20, 389f.; Brief vom 28. Februar) Diese Zeit der „That“ ist für Heine angebrochen und sie lässt auch die Kunst/Literatur nicht unberührt (wobei mit „Goethenthum“ im übrigen weniger Goethe als vielmehr seine Epigonen gemeint sind). Von hier aus rechtfertigt er auch seine vernichtende Kritik am Klassizismus August Graf von Platens im dritten Teil seiner „Reisebilder“ („Die Bäder von Lukka“), die kurz zuvor wegen ihrer persönlichen Wendung Skandal gemacht hatte. Auch Goethe und Schiller hätten in den „Xenien“ Fehden ausgefochten, die aber seien innerliterarisch geblieben, nicht zu vergleichen mit den Auseinandersetzungen der heutigen Zeit (wir schreiben das Jahr 1830): „Der Schiller-Göthesche Xenienkampf war doch nur ein Kartoffelkrieg, es war die Kunstperiode, es galt den Schein des Lebens, die Kunst, nicht das Leben selbst – jetzt gilt es die höchsten Interessen des Lebens selbst, die Revoluzion tritt ein in die Literatur, und der Krieg wird ernster.“ (Säkularausgabe 20, 385; Brief vom 4. Februar)