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III. Kontexte: soziales (Gesamt-)System –literarisches (Teil-)System

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Strukturwandel als Epochensignatur

Dem abgeklärten Blick des Historikers erschließt sich die Signatur der Epoche im Prozess eines umfassenden Strukturwandels auf den verschiedensten Ebenen: sozial, politisch, ökonomisch-industriell, mental. Auch die „divergierenden und einander bekämpfenden geistigen Richtungen im Vormärz“ (András Gedö 1995, 1) teilten die Überzeugung, in einer Zwischenzeit zu leben, was in seiner Wertigkeit nicht zwingend positiv besetzt sein musste. „Vormärz“ wird (be-)greifbar so auch zuallererst einmal als Krise, die im Schlagwort der ‚Aufregung‘ publizistischen Nachklang findet (Wülfing 1999, 199ff.): als Krise im Zeitbewusstsein einer in ihren Begrenztheiten gesprengten Gesellschaft. In dieser Bewusstseinskrise spiegelt sich die Grunderfahrung einer gesteigerten Mobilität als Ausdruck der Epoche: Mobilität in horizontaler Perspektive (Reisen, Migration), Mobilität in vertikaler Perspektive (Veränderungen im Sozialgefüge), Mobilität aber auch in ästhetischer Perspektive (Ausdifferenzierung des Literatursystems). Technologische Innovationen wandeln die Raum-Zeit-Verhältnisse der vorindustriellen Gesellschaft, verändern die Wahrnehmungslogik, dynamisieren zugleich die sozioökonomischen Strukturen, Kommunikationswege und -formen. Revolutionen (1830, 1848) durchschneiden den sozialen Raum, wirken als Beschleunigungsfaktoren längerfristiger Umsetzungsprozesse, in deren Perspektive sich der Siegeszug der industriell-technologischen (und agrarökonomischen) Revolution vollendet, letztlich sich dann der politische Liberalismus zum Wirtschaftsliberalismus verwandelt. Die anthropologische Wesensbestimmung der Geschichte, die Vorstellung also, dass der Mensch die Geschichte ‚macht‘, und damit das Herzstück des Idealismus wird brüchig, mit ihr der Glaube an die ‚Finalisierbarkeit‘ (Harro Müller) moralisch-praktischer und ästhetischer Diskurse. Das ästhetische Wertsystem der Klassik verliert an orientierender (auch normierender) Bedeutung und macht – für eine Übergangszeit – einer Vielzahl ästhetischer Suchbewegungen Platz. Erst allmählich werden sie von einem erneuten Normierungsprozess aufgefangen, der in der Folge zur Ausbildung des Literatursystems des Realismus hinführt.

Revolutionierung der Zeiterfahrung

Als von diesen Faktoren her begründete Krisenerfahrung tritt das vormärzliche Zeitbewusstsein einerseits in die Nachfolge der Zeitbestimmung als Krise, mit der die Romantiker in den 1790er Jahren den Beginn eines neuen Zeitalters ausgerufen hatten (Eke 2003). Das vormärzliche Zeitbewusstsein antwortet andererseits ganz unmittelbar auf die Konfrontation mit einer sich beständig steigernden Beschleunigung der empirischen Erfahrungswirklichkeit, was letztlich nichts anderes als ein Indikator ist für Fremdheitserfahrungen im Gewohnten. Der Historiker Reinhart Koselleck hat die Revolutionierung der Zeiterfahrung als das zentrale Erfahrungssubstrat der Zeit zwischen Französischer Revolution (1789) und deutscher Märzrevolution (1848) ausgemacht. Im Wechsel der Regime, dem Wandel der Rechtssysteme und dem Bevölkerungswachstum werde im „Zeitalter der europäischen Revolution“ die „Geschwindigkeit der Zeit“ zu einer spätestens um 1830 die Generationen verbindenden „Erfahrung der Beschleunigung“ (Bergeron, Furet, Koselleck 121980, 303).

Zeit und Beschleunigung

Die Literatur ist voll von Belegen für diesen Zusammenhang von Zeiterfahrung und Beschleunigung im subjektiven Erleben, die sich mit der Vorstellung eines schnellen Wechsels von Ereignissen verbindet, mit eruptiven Wandlungsvorgängen und radikalen Wendungen der gesellschaftlichen Entwicklung – mit Revolutionen eben und gerade nicht langsam gleitenden Bewegungen auf der Zeitachse (vgl. Eke 1999, Wülfing 1999). So nimmt es nicht wunder, dass in Georg Büchners Drama „Dantons Tod“, lange bevor der Rausch der Geschwindigkeit im Kontext der gesteigerten Mobilität des urbanen Lebens zum vielleicht entscheidenden ‚Mythos der Moderne‘ aufsteigen sollte, mitten im Vormärz mit St. Just, dem Strategen des Terrors, bereits ein regelrechter Theoretiker geschichtlicher Beschleunigungsvorgänge das Wort ergreift (vgl. Müller 1988, 81).

Büchners „Dantons Tod“

„Dantons Tod“ erzählt vom Sterben der Revolutionäre und vom Machtkampf zwischen den beiden führenden Köpfen der Französischen Revolution Danton und Robespierre, der mit der Hinrichtung Dantons am 5. April 1794 endet (vgl. dazu im einzelnen Kap. IV, 4). Im Rahmen dieses Machtkampfes nun versucht am Ende des zweiten Aktes Robespierres Gefolgsmann St. Just vor dem Konvent die Vernichtung des Gegners geschichtsphilosophisch zu begründen. St. Just leitet in dieser großen Rede Utopie aus der Dynamisierung der Lebensverhältnisse her; den revolutionären Terror stellt er in diesem Zusammenhang in den Horizont eines umfassenden gesellschaftlichen Beschleunigungsgeschehens: revolutionäres Handeln kürzt in seinem Verständnis einen in langen Zeiträumen rechnenden Entwicklungsprozeß von welthistorischer Bedeutung in rigoroser Weise ab, beschleunigt ihn also.

Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen, hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Athem kommen?

Wir schließen schnell und einfach: da Alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind Alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher Keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner, noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen. Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August, der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen. Er hatte vier Jahre Zeit nötig um in der Körperwelt durchgeführt zu werden, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er Jahrhunderte dazu gebraucht und wäre mit Generationen interpunktiert worden. Ist es da so zu verwundern, daß der Strom der Revolution bei jedem Absatz bei jeder neuen Krümmung seine Leichen ausstößt? (Büchner I, 54f.)

St. Justs geschichtsphilosophische Beschleunigungstheorie spiegelt an dieser Stelle eine für die politische Geschichte zentrale Erfahrung, geht in ihrer Bedeutung aber weit über diesen primären Bezugspunkt hinaus: Die rasende Geschwindigkeit der revolutionär bestimmten Zeit, das ‚Rascherwerden‘ der Geschichte, formiert sich (auch) als eine zerstörerische und Gewalt über die Menschen beanspruchende Macht, die im gesamten Vormärz immer wieder auch unter regelrecht apokalyptischen Vorzeichen begegnet – so etwa in Friedrich Hebbels Sonett „Unsere Zeit“ von 1841, in dem die entscheidenden Verse lauten: „Es ist die Zeit des stummen Weltgerichts; / In Wasserfluten nicht und nicht in Flammen: / Die Form der Welt bricht in sich selbst zusammen, / Und dämmernd tritt die neue aus dem Nichts.“ (Hebbel 1978, 28)

St. Just selbst operiert in seiner Rede mit einem negativen Naturbegriff, um die Gewalt (in) der Revolution von hier aus in Analogie zur zerstörerischen Natur-Gewalt zu rechtfertigen. Die Zeit beschleunigende Revolution, so erklärt er dem Konvent, sei „nicht grausamer […] als die Natur und als die Zeit“; die Natur als solche folge „ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen, der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Konflict kommt.“ (Büchner I, 54)

Gleichsam durch die Hintertür betritt mit St. Justs Naturmetaphorik die Vorstellung eines dem Menschen entzogenen ‚natürlichen‘ Geschichtsverlaufs wieder die Bühne. Gerade dadurch dass St. Just die Forderung, der Gewalt eines naturwüchsigen Prozesses Arm und Schwert zu leihen, und damit auch das eigene politische Handeln nur sehr unvollkommen gegen die Drohung des Sinnverlusts abpuffern kann (nämlich durch die bloße Behauptung einer Übereinstimmung zwischen dem Naturprozess und dem eigenen revolutionären Handeln), steht mit der ‚natürlich‘ legitimierten Sinnausstattung des Opfers in revolutionären Prozessen im Grunde genommen ein deterministisches Geschichtskonzept im Raum, das mit der behaupteten Zwangsläufigkeit und Notwendigkeit des Geschehens die Vorstellung der Machbarkeit und Planbarkeit der Geschichte und damit ein unausgesprochenes Axiom der Revolutionstheorie selbst wieder in Frage stellt. Auf der Folie des Revolutionsgeschehens hat Büchner hier dem Beschleunigungsdenken der Zeit ein Irritationsmoment eingeschrieben, das auch an anderer Stelle des Stückes greifbar ist. Wo das Leben immer schneller wird, Zeit sich beschleunigt, beginnt unversehens eine Kluft aufzureißen zwischen dem Zeithorizont subjektiven Handelns und den objektiven Dimensionen zeitlicher Strukturen, kurz: der Geschichte. Zeit wird flüchtig, die „Zeitschere“ (Blumenberg 1986) öffnet sich und muss durch geschichtsphilosophische Bemühungen wieder geschlossen werden.

In einem kurzen Dialog hat Büchner diese Vorstellung eines Entgleitens der subjektiv beschleunigten Geschichte und die darin eingeschlossene Vorstellung des Verlorengehens des Menschen in der beschleunigten Zeit zum Ausdruck gebracht, die St. Just allein rhetorisch überbrückt – eben indem er die Revolution zum Naturprinzip und sich selbst zum Agenten eines mit dem Weltgeist identifizierten Geschichtsprozesses stilisiert, der durch sein Handeln den moralischen Fortschritt in der Geschichte befördert (beschleunigt). „CAMILLE Rasch Danton wir haben keine Zeit zu verlieren. / DANTON, er kleidet sich an: Aber die Zeit verliert uns.“ (Büchner I, 38)

Büchner greift mit der Radikalität seines Denkens der Epoche weit voraus, die Beschleunigung noch weitgehend mit Fortschritt verband. Immerhin: Wenn man von der stofflichen Grundlage seines Todes-Spiels abstrahiert, begegnet in „Dantons Tod“ bereits ein erster – kritischer – Reflex auf die nicht allein bewusstseinsgeschichtlichen Modernisierungsprozesse, denen sich die Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ausgesetzt sah. Begleitet, angestoßen und beschleunigt wird dieser Transformationsprozess durch eine Reihe von Emanzipationsbewegungen, an deren Anfang der bürgerliche Liberalismus mit seinem Kampf um Gleichberechtigung (gegen den fürstenstaatlichen Absolutismus und die Privilegien der Aristokratie) und Rechtsgleichheit in einer noch zu schaffenden Staatsbürgergesellschaft steht. In seine Fußstapfen tritt am Ende der hier zu diskutierenden Epoche die beginnende Emanzipationsbewegung der Arbeiter: gewendet gegen die sozial-ökonomische und gleichermaßen politische Benachteiligung des sogenannten Vierten Stands, getragen von den verschiedenen Formen des Sozialismus, gerichtet auf das Fernziel des republikanischen und nationalen Volksstaats gleichberechtigter Bürger.

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