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Am Tag, an dem die Biene Maja zum ersten Mal im Fernsehen lief

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Der elfjährige Felix Xaver, ein wohlgenährter Junge mit dunkelblonden kurzen Haaren, hatte noch Ferien. Seit Jahren schon wurde er meistens „Ixick“ genannt, seit einiger Zeit auch „Yxick“ geschrieben, nämlich seit die „Yps“- Comics so beliebt waren.

Dort hatte es neulich ein Heft mit einem Dracula-Gebiss als Gimmick gegeben, und dieses Gebiss hatte er sich wieder einmal spaßeshalber eingesetzt. Am Anfang dieses Heftes stand eine kurze Geschichte, in der Maus Kaspar, Frosch Patsch und Vogel Willi das Geheimnis des Grafen Ypsula erkunden wollten.

Gerade sah er vom Fenster aus den Nachbarskindern zu, wie sie auf dem Rasen mit Bällen auf die zwei Birken in der Mitte der Wiese zielten und zwischen den zwei Bäumen hindurch rannten. Draußen schien an diesem Tag kaum die Sonne, es sah vielmehr nach Regen aus, was man in letzter Zeit kaum noch gewohnt war.

Die Rufe dieser Kinder waren drinnen noch ziemlich deutlich zu vernehmen. Yxick selbst hatte das Ballspielen nie so richtig gelernt, auch blieb er mit seiner rundlichen Gestalt immer zwischen den zwei Bäumen stecken.

Außerdem hatte er ein paar Wochen vorher, kurz nach dem Mittagessen, ein unangenehmes Erlebnis gehabt:

Beim Essen hatte er ordentlich zugelangt, vor allem beim Fleisch. Danach zog er sich in sein Zimmer zurück und wollte sich aufs Schlafsofa legen, die Bettwäsche konnte im Kasten bleiben.

Vorher öffnete er noch das Fenster – und da kam von draußen ein Ball heran geflogen, abgeschossen von Schmetterfuß, der in der Nachbarschaft wohnte. Dieser war der beste Fußballspieler weit und breit – einmal hatte Yxick aber auch erlebt, wie dieser Schmetterfuß heftig niesen musste, bloß weil ihm eine Katze über den Weg lief!

An dem Tag allerdings traf Schmetterfuß mit seinem Ball Yxick am Daumen. Von draußen rief er:

„Tut mir Leid, Yxick! Möchtest du nicht herunterkommen und mit uns spielen? Hast du schon so lange nicht mehr gemacht!“

Doch Yxick erwiderte:

„Heute erst recht nicht – ich muss meinen Daumen unter kaltes Wasser halten!“

Als der Schmerz im Daumen auch am nächsten Tag noch fortdauerte, ging seine Mutter mit ihm zum Arzt, und dieser stellte tatsächlich einen leichten Bruch fest!

Inzwischen war der Daumen wieder verheilt, doch hatte Yxick auch heute keine Lust, mitzuspielen, und ließ sogar das Fenster geschlossen. Stattdessen betrachtete er lieber das Stoffarmband, das er um das rechte Handgelenk trug und nur sehr selten ablegte und in das ein paar dunkelblaue Perlen eingewebt waren.

Werfen allerdings übte er grundsätzlich gerne, traf mittlerweile mit Darts-Pfeilen oder kleinen Bällen vom Fenster aus ganz gut die Äste der Birken draußen, hatte aber momentan auch dazu keine Lust.

Ob er ein Buch lesen, eine Schallplatte auflegen oder mit Fischertechnik spielen sollte?

Ehe er sich aber entscheiden konnte, wurde er von seiner Mutter ins Wohnzimmer gerufen.


In Westberlin, inmitten von mehrstöckigen grauen Mietshäusern, stand eine Grundschule. Hier hatte vor ein paar Wochen der Unterricht wieder begonnen.

Das Wetter verhielt sich an diesem Tag regnerisch – war man kaum noch gewohnt, sonst herrschte in diesem September vielfach noch strahlendes Spätsommerwetter. Vor allem hatte es seit Februar viel zu selten geregnet.

An diesem Tag fand somit der Sportunterricht in der Halle statt. Die Klasse 6d saß auf dem Boden und hörte den Anweisungen des Lehrers zu.

Auch der elfjährige Thombi, ein Junge mit kurzen, roten Haaren, der eigentlich Thomas Abermann hieß, sich aber von seinen Freunden immer „Thombermann“, oder einfacher „Thombi“, nennen ließ.

Anschließend sollten die Kinder die aufgestellten Geräte im Kreis durchturnen. So sprang Thombi ohne große Mühe über einen Bock, ein Pferd und einen Kasten, hangelte sich über den Barren – und stand dann vor der Stange, an der er sich hochziehen musste.

Doch hier überkam ihn wieder einmal eine Hemmung, hinter ihm begannen die anderen aus seiner Riege schon zu murren. Irgendeine beklemmende, frühkindliche Erinnerung war das – an seinen Vater und das Dach ihres Hauses

Schließlich zog er sich ein Stück hoch, ließ sich aber auf halbem Weg wieder hinunter gleiten. Da schüttelten die Klassenkameraden hinter ihm den Kopf, einer rief ihm zu:

„Na, hast du wieder keine Luft in so großer Höhe bekommen?“

Doch darauf antwortete Thombi nicht und vollführte einen weiten Sprung vom Trampolin.

Nach dieser Stunde hatte die Klasse Mathematik, in der gerade die Bruchrechnung anfing. Hier stützte Thombi seinen Kopf auf den Arm und sah zur Tür hin.

Frau Biegmann, die knapp dreißig Jahre alte Lehrerin, fragte ihn:

„Thomas, hast du in der letzten Stunde gut aufgepasst?“

Da nickte Thombi leicht, änderte seine Haltung aber nicht.

Die Lehrerin fuhr fort:

„Dann erklär doch allen nochmals, was Zähler und Nenner in einem Bruch sind!“

Jetzt richtete sich Thombi auf und sah zur Lehrerin hin, sein Rücken blieb allerdings immer noch leicht gekrümmt. Er erwiderte:

„Der Zähler ist wie ein Zebra, das sich aufbäumt und wegrennt – muss wohl über dem Strich stehen! Und wat ,Arschloch’ genannt wird, muss sich darunter befinden!“

„Na gut, wenn du es dir so leichter merken kannst“, meinte Frau Biegmann und zeichnete einen Bruch an die Tafel, während Thombi mit dem Stuhl kippelte.

Die Klingel läutete das Ende des Schultages ein, und die Schüler stürmten unter lautem Geschrei nach draußen. Vor der Tür musste Thombi allerdings noch kurz stehen bleiben, um ein paar Blätter aufzusammeln, die aus seinem braunen, abgenutzten Ranzen gefallen waren. Seine roten Haare waren mittlerweile ziemlich zerzaust; und sein gelbes T-Shirt wie auch seine schon stark verblassten Jeans und seine Turnschuhe verrieten, dass er heute schon auf dem Schulhof in den Schmutz gefallen war.

Frau Biegmann und Frau Standner, eine Lehrerin von mittlerem Alter und mit einer großen Brille, kamen gerade vorbei. Als sie weitergingen, flüsterte Frau Standner:

„Was nur aus diesem Jungen werden soll? Eigentlich ist er intelligent ...“

Frau Biegmann erwiderte, während sie den Riemen ihrer rechten Sandalette zurechtrückte:

„Seine Leistungen lassen allerdings kaum darauf schließen!“

„Irgendwie habe ich auch den Eindruck, dass man ihn ans Gymnasium empfehlen sollte, wenn er sich im Unterricht nur mehr anstrengen und nicht so zappeln und so viel anderes machen würde ...“

„Sein Vater soll sogar seine Arbeit auf dem Bau verloren haben und jetzt im Suff leben, wird sich kaum für die Bildung seines Sohnes einsetzen!“

„Sein Glück, dass in Berlin die Grundschule bis zur sechsten Klasse geht. In anderen Bundesländern hätte er sich schon nach der vierten Klasse für seinen Schultyp entscheiden müssen!“

„Wollen wir nur hoffen, dass er diese Chance jetzt wirklich noch nutzt!“

„Also, wenn dieser Junge nicht auf die Hauptschule kommt, spendiere ich allen Kolleginnen und Kollegen etwas!“

„Willst du im Ernst über so etwas wetten?“, fragte Frau Biegmann und drehte sich verwundert zu ihrer Kollegin um. Doch diese entgegnete:

„Na ja, nicht wirklich. Vielleicht wird diesem Jungen wenigstens die Kur gut tun, die man ihm verschrieben hat.“


Auch in der 10. Klasse einer Kleinstadt-Realschule war die letzte Unterrichtsstunde angebrochen, manche der Schülerinnen und Schüler schienen bereits reif für das Unterrichtsende.

So saß die fünfzehnjährige Siusannia verträumt und in gekrümmter Haltung auf ihrem Platz. Eigentlich hieß sie Susanne, hatte sich aber schon früh einige Spitznamen für sich ausgedacht. In der Zeit, als sie sich für Indianergeschichten zu interessieren begann, war sie auf den Namen „Siouxsannia“ gekommen. Dieses Interesse passte auch zu ihren glatten, schwarzen Haaren, hatte aber mittlerweile nachgelassen; doch wollte sie den Namen, wie er gesprochen wurde, beibehalten. Nur sollte er einfacher geschrieben werden, eben „Siusannia“.

Der Lehrer fragte sie:

„Susanne, kannst du uns erklären, was ein gleichseitiges Dreieck ist?“

Da schrak sie auf und sagte:

„Wie? Was für ein Dreieck; ein rechtwinkliges?“ Während der Lehrer seine Frage wiederholte, flüsterten ein paar Mitschülerinnen und Mitschüler, die in ihrer Reihe oder hinter ihr saßen:

„Ob sie wieder von Indianern träumt?“

„Davon in letzter Zeit nicht mehr – schon eher von Pferden!“

„Oder von Jungs!“

„Ja, genau, von einem Freund!“

„Nein, eher vom Meer, auf dem sie wegfahren, oder von den Bergen, auf die sie hochsteigen möchte!“

„Wie soll sie das machen, wenn sie nie etwas isst?“

„Sie denkt doch, sie wäre zu dick!“

„Oder sie denkt an ihren Vater, der von der Mafia ermordet wurde!“

„Na ja, nächste oder übernächste Woche fährt sie zur Kur in die Berge, vielleicht nimmt sie da wenigstens etwas zu!“

Schließlich läutete die Klingel, und alle packten ihre Sachen.

In einer Mietwohnung mit zwei Zimmern, etwa sechzig Quadratmeter groß, saß Siusannia mit ihrer knapp über dreißig Jahre alten Mutter am Küchentisch. Von draußen hörte man noch gut den Lärm der Straße.

Als Siusannia gerade ihre Schulhefte beiseite legte, fragte ihre Mutter:

„Schon fertig mit Hausaufgaben?“

„Es war heute so wenig auf“, erwiderte Siusannia, worauf ihre Mutter meinte:

„Du solltest dich aber dieses Schuljahr mehr anstrengen, dein letztes Zeugnis war für mich nicht sehr erbaulich! Und gegessen hast du heute auch wieder einmal viel zu wenig!“

„Muss diese Kur denn wirklich sein?“, fragte Siusannia, während sie ihre schulterlangen, schwarzen Haare, die sie von ihrer Mutter haben musste, vor dem Spiegel auf dem Flur kämmte. Anschließend rückte sie ihr rotes T-Shirt zurecht, das sie über einer engen Jeanshose trug, die ihre dünne Statur sichtbar machte, ebenso wie ihre schmalen, hochhackigen Pantoletten.

„Wenn du einmal Fotomodell werden willst, musst du doch auch auf deine Körperhaltung achten! Und du bist nun einmal gefährdet, dass etwa dein Kreislauf und später deine Knochen darunter leiden werden, wie der Arzt gesagt hat!“, entgegnete ihre Mutter. „Bestimmt auch dadurch, dass du immer so wenig isst. Im Kurheim werden sie dich hoffentlich aufpäppeln!“

„Das ganz bestimmt nicht“, widersprach ihre Tochter. „Außerdem gab es auch schon viele dünne Models, zum Beispiel Twiggy! Und so dünn bin ich doch nicht!“

„Das findest du. Jedenfalls ist es jetzt abgemacht, dass du dorthin fährst, und es wird dir dort gefallen, da bin ich mir sicher!“, antwortete ihre Mutter. „Du wirst auch sehen, wie schön es ist, in flachen Schuhen zu wandern und im Haus in Hausschuhen zu laufen!“

Da verzog sich Siusannia mit einem bitteren Lächeln ins Bad. Dieses Badezimmer war ein kleiner Raum. Badewanne, Toilette und Waschbecken standen nah beieinander, und die niedrigen Schränke an der gegenüber liegenden Wand ließen nur Platz für eine Person. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, in dem Siusannia nochmals ihre Frisur betrachtete. Dann nahm sie ein Zentimeterband aus einer Schrankschublade und maß ihre Hüften.

Als sie wieder herauskam, fragte ihre Mutter:

„Möchtest du nachher Die Biene Maja sehen?“

„Wie kommst du darauf? Ist doch Kinderkram!“, meinte Siusannia. „Lieber besuche ich jetzt Opa!“

„Das ist eine gute Idee. Grüß ihn bitte schön von mir! Am Sonntag, oder wenn ich einmal wieder frei habe, komme ich mit, heute habe ich noch zu viel zu tun.“

Dies bedeutete, dass ihre Mutter den ganzen Abend, bis spät in die Nacht, kellnern musste.

Als Siusannia auf die Straße trat, atmete sie auf. Opa im Altenheim zu besuchen war immer wieder auch eine Ausrede, aus der engen Wohnung heraus zu kommen. Hier auf der Straße war es zwar laut, aber die Sicht war weit, auf den Himmel wie auch auf das Ortsende, alles roch und fühlte sich nach großer Freiheit an!

Mit Opa zusammen zu sein, war zwar ebenfalls angenehm, doch ließ sich Siusannia gerne Zeit, um zu bummeln. Als sie noch klein war, hatte ihr Großvater oft mit ihr gespielt, war mit ihr sogar reiten gegangen. Aber dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, und immer schwerer fiel ihm das Gehen. Seitdem hatte kein Verwandter mehr viel Zeit für sie gehabt.

Allzu viel gab es in dieser kleinen Stadt zwar nicht zu sehen, aber immerhin ein paar Fachwerkhäuser mit schönen Schaufenstern. Früher hatte sie immer wieder nach neuen Pferdekalendern Ausschau gehalten, wenn sie nicht in Richtung der Weiden in der Umgebung marschiert war. Leider hatte sie das Reiten aufgeben müssen, weil ihre Mutter nicht mehr genug Geld dafür hatte.

Jetzt aber interessierten sie mehr die Modeschaufenster und die Kataloge; auch ein paar große Poster, mit Models in Bikinis, Kostümen und sonstigen Kleidungsstücken, waren an manchen Flächen angebracht. Dieses Schuljahr noch, dann war sie mit der Schule fertig, konnte sich selbst für solche Fotos bewerben – malte sie sich zumindest aus.

Bald hörte die dichte Bebauung auf, dafür erstreckte sich neben der Straße eine unbebaute Fläche mit viel Gras und wild wachsendem Unkraut. Und etwa einen Meter neben dem Bürgersteig erhob sich ein Mäuerchen, im Durchschnitt dreißig Zentimeter hoch, aber uneben, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem Krieg.

Wenn ihre Mutter nicht dabei war, liebte es Siusannia schon immer, den Bürgersteig zu verlassen, sich die Schuhe auszuziehen und auf dem Mäuerchen entlang zu balancieren. Sie merkte, dass sie darin immer besser wurde.

In letzter Zeit stellte sie sich zudem dieses Mäuerchen gerne als Laufsteg vor, auf dem sie in der neuesten Mode spazierte, und alle ihre Bekannten und allerhand Unbekannte jubelten ihr dabei zu.

An diesem Tag waren die Steine nass, was schon länger nicht mehr vorgekommen war – nach langem hatte es hier wieder geregnet.

Schließlich erreichte sie das Altenheim, ein dreistöckiges Haus mit flachem Dach. An den Fenstern klebten schwarze Adler. Im Inneren verliefen weite Flure, doch kannte sie ihren Weg mittlerweile gut.

Von ihren Großeltern war nur noch der Vater ihres Vaters am Leben. Ihre Großmütter waren verhältnismäßig früh verstorben, der Vater ihrer Mutter war im Krieg gefallen.

Sie lief durch die Gänge, bis zu der Tür, an deren Außenseite das Bild eines Mannes mit Ziegenbart, aber auch mit dem Häuptlingsschmuck der Sioux, klebte, der auf ein Pferd steigen wollte. Dieses Bild hatte Siusannia ihrem Großvater in der ersten Klasse gemalt.

Im Zimmer saß in einem Rollstuhl ein Mann mit einem solchen Ziegenbart, der inzwischen schon weiß geworden war. Beide umarmten sich, sie grüßte ihn von ihrer Mutter, erzählte von der Schule, er vom Essen im Heim:

„Heute gab es ganz passables Rindfleisch mit Kartoffeln – hätte aber für meinen Geschmack etwas schärfer und besser gesalzen sein können!“

Etwas lauter fragte er:

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Siusannia starrte gedankenverloren in eine Fernsehzeitschrift, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag, mit der Großaufnahme einer blonden Frau in Jeans.

Aber jetzt sah sie auf und erwiderte:

„Ja, du hast gesagt, dass das Fleisch etwas saurer hätte sein können!“

„Na ja, fast. Wenn du einmal in so einer Zeitschrift abgebildet werden möchtest, musst du dich anstrengen. Auch mehr essen!“

„Redest du jetzt auch schon so?“

„Was soll man dazu schon sagen? Genauso ähnlich wie dieses Zimmer wird auch deines in dem Kurheim aussehen“, meinte Opa, und sie fragte:

„Bist du sicher? Nur dass ich es mit drei anderen Mädchen teilen muss!“ „Das wird dir schon gefallen. Früher haben wir auch so eng beisammen gewohnt. Den Tag über werdet ihr viel draußen sein!“

„Schon möglich ...“

„Ich weiß noch ganz genau, wie du früher gern mit mir auf das Dach hier gestiegen bist – nur kann ich das jetzt leider nicht mehr. Aber hoch oben in den Bergen ist es noch viel schöner!“

„Werde ich dort vielleicht meinen Vater finden?“

Da runzelte Opa die Stirn und entgegnete:

„Ich bin sicher, dass er deine Mutter nicht verlassen hat, sondern irgendwo abgestürzt ist – an einer unwegsamen Stelle, wo ihn niemand gefunden hat!“

„Meine letzte Erinnerung an ihn ist, wie wir an einem Moor standen – seitdem sind wir nie wieder in die Berge gefahren!“

„Dann wird es mal wieder Zeit, ist so schön dort – und reiten kannst du dort auch gut!“

„Aber einmal auf einer Gämse statt auf einem Pferd – nur wird nichts davon Teil des Gruppenprogramms sein!“


Yxick betrat das Wohnzimmer seiner Familie. Dort auf dem Sofa saß bereits seine siebzehnjährige Schwester Floriane, die er immer „Rane“ nannte, und auf zwei Sesseln saßen ihre Mutter und ihr Vater. An den Wänden standen große Regale, voll mit Büchern, und an freien Stellen hingen gerahmte Land- und Seekarten aus früheren Jahrhunderten, jeweils als Faksimile. Auf dem Glastisch vor ihnen lagen ein paar Prospekte mit Fotos von den Bergen.

Yxick setzte sich mit gekrümmtem Rücken auf das Sofa, so dass sein kariertes Hemd hinten leicht aus der Hose rutschte.

Seine Schwester hatte rötliche schulterlange Haare und Sommersprossen und war noch eher vollschlank. Sie schminkte sich schon leicht und kleidete sich in Jeans und ein orangefarbenes T-Shirt, das ihren Busen schon länger gut erkennen ließ, blätterte in einer der Broschüren und sagte zu ihrem Bruder:

„Eine wirklich schöne Gegend, in die du fahren wirst. Nur wird dort nicht viel los sein!“

„Floriane“, sagte ihre Mutter. „Darum geht es diesmal doch wirklich nicht, auf einer Kur soll er nachts viel schlafen!“

Dennoch war dem Elfjährigen nicht wohl bei dem Gedanken, erstmals ohne seine Familie weg zu fahren, was an seiner Miene und seiner gekrümmten Haltung leicht zu erkennen war.

Sein Vater, der sogar hier im Haus ein graues Jackett trug, das ziemlich gut zu seinem langsam grau werdenden Vollbart passte, erklärte ihm:

„Wir verstehen dich ja; auch mir erging es einmal ähnlich, als im Krieg die Bomben auf die Städte geworfen und so viele Kinder in meinem Alter an die See geschickt wurden.“

Da sahen seine Kinder neugierig zu ihm hin, und der Vater fuhr fort:

„Die ersten Tage waren erst einmal schwer; aber schon nach etwa einer Woche war ich so schön am Spielen mit den anderen Kindern, dass ich gar nicht mehr so viel dazu kam, an Zuhause zu denken ...“


Thombi wohnte im fünften Stock eines Hochhauses, in einer Wohnung mit zwei Zimmern – einem Wohn- und Esszimmer mit Küche sowie einem Schlafzimmer für alle: Seinen Vater, seine Mutter, ihn und Peggy, seine fünfjährige Schwester, die er gerne „Pippi“ nannte.

Es roch wieder einmal nach Schnaps in der Wohnung, da die Mutter an diesem Nachmittag im Supermarkt arbeitete und den Vater nicht vom Trinken abhalten konnte. Die Blümchentapete an den Wänden war an vielen Stellen abgerissen, dafür klebten über solchen Stellen Bilder von der Fußballweltmeisterschaft 1974. Ein Glück, dass sich der Hauswirt nie blicken ließ! Den Lärm von der Straße hörte man hier nicht so sehr, dafür immer wieder die S-Bahn, die zwischen den Häusern hindurch fuhr.

So auch jetzt; und der Vater wachte davon nicht einmal auf, sondern blieb zusammengesunken auf dem Sofa sitzen.

Wie gut, dachte sich Thombi, da werden die Pippi und ich Die Biene Maja ohne weiteres sehen können!

Momentan spielte die Kleine im Schlafzimmer mit ihren Puppen und seinen Autos – beides interessierte sie gleichermaßen. Auf diese Weise konnte sie sich selbst beschäftigen, wenn gerade niemand Zeit für sie hatte.

Sollte er jetzt Schularbeiten machen? Würde heute niemand kontrollieren – andererseits ließ ihn gerade in diesen Tagen der Gedanke nicht los, dass er eigentlich aufs Gymnasium wollte! So holte er die Aufgaben aus der Schultasche.

Später ging er ins Schlafzimmer, und seine Schwester begrüßte ihn:

„Thomi, sieh, wie die Puppu Auto fährt!“

„Das macht sie sehr schön, wird später alle Autorennen gewinnen! Jetzt aber gibt es etwas Schönes im Fernsehen!“

Bei Professor Flimmrich?“

„Nein, aber eine Zeichentrickserie von einer süßen Biene!“

„Au ja, mach an!“

Tatsächlich konnten die beiden sich auf das Sofa kuscheln und den Fernseher einschalten, ohne dass der Vater etwas merkte.

Nur schade, dass sie die Bilder nicht in Farbe sehen konnten; einen neuen Fernseher konnten sie sich nun einmal nicht leisten!


Auch Yxick wollte sich gerne Die Biene Maja anschauen. Den ganzen Tag über hatte er immer wieder die Prospekte vom Kurheim und dessen Umgebung studiert.

Vater saß im Arbeitszimmer, und Mutter telefonierte mit einer Freundin. Nur seine Schwester saß noch im Wohnzimmer und fragte ihn:

„Freust du dich denn jetzt mehr auf deine Reise?“

„Reise ist gut – aber jetzt möchte ich fernsehen!“

„Etwa Die Biene Maja? Pass aber auf – du hast dich doch immer vor Tieren gefürchtet, die einen Stachel haben; und Bienen können auch stechen!“

„Fürchtet sich davor nicht jeder manchmal? Außerdem bin ich alt genug, um zu wissen, dass die Bienen nicht aus dem Fernseher herausfliegen!“

„Bei dir schien mir die Angst vor dem Stachel immer besonders stark zu sein!“, sagte sie und fragte noch:

„Weißt du denn noch, was ein gleichseitiges Dreieck ist?“

Yxick erwiderte:

„Ja, ein Dreieck, bei dem die drei Winkel sechzig Grad betragen und alle Seiten gleich lang sind! Also, schalt jetzt den Fernseher ein!“

Dies tat seine Schwester dann auch; und sie sahen die erste Folge mit der Biene aus einem unbekannten Land, die einfach ihren Stock verließ.

In der Nacht wachte Yxick plötzlich auf. Von draußen schien der Mond durch eine Lücke im Vorhang ins Zimmer. Die Leuchtzeiger des Weckers zeigten drei Uhr morgens. Yxick meinte, gerade vor einer Prüfungsaufgabe gesessen zu haben – doch das war wohl nur ein Traum gewesen!

Vielleicht konnte er besser wieder einschlafen, wenn er den Vorhang ganz zuzog. So eine große Dunkelheit verursachte ihm zwar ein beklemmendes Gefühl, doch blieb momentan wohl nichts anderes übrig! So stand er auf und trat ans Fenster.

Doch als er hinaus sah, kam es ihm vor, als ob sich etwas vor der fast noch vollen Mondscheibe bewegte, quasi daran vorbei flog! Es sah aus wie etwas mit einem Stachel, aber auch mit einem Schlangenkopf ...

So schnell wie das Ding aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden. Doch Yxick war sich sicher, nicht zu träumen ...

Jetzt aber zog er die Vorhänge ganz zu und legte sich wieder hin, war bald wieder eingeschlummert, wie von einer besonders starken Müdigkeit überfallen.

Als das Schuljahr auch für ihn wieder begonnen hatte, sprach es sich in den ersten Tagen bereits herum, dass Yxick für sechs Wochen weg sein würde.

Gerade war die fünfteilige Serie „Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherr von der Trenck“ im Fernsehen gelaufen; und so fragte Karli aus seiner Klasse:

„Wirst du dich denn da auch so fühlen wie Trenck, gefangen in der Festung?“

Da meinte Didi, ebenfalls ein Klassenkamerad:

„Yxick, komm heute Abend mit zum Bahnhof, da ritzen wir ein Andenken für dich ein – soll dir Mut zur Rückkehr geben, so wie Trenck ja auch freikam!“

Während einer Zeitspanne also, in der keine Züge an dem Kleinstadtbahnhof hielten, begaben sich ein paar aus der Klasse auf den Bahnsteig. Einige von ihnen stellten sich zur Deckung im Kreis auf, während zwei andere eine Zeichnung in einen Pfeiler ritzen wollten, mit einem Totenkopf, ein paar Kettengliedern und der Unterschrift „TRENCK“.

Leider hatte keiner von ihnen ein richtig scharfes Messer dabei, so dass sie die Zeichen nur undeutlich ritzen konnten.

Da entdeckten sie am gegenüberliegenden Bahnsteig einen großen schlanken Jungen mit langen schwarzen Haaren, der in der Schule ein paar Klassen über ihnen war, in der zehnten oder elften. Mecki, ein dünner blonder Junge aus ihrer Klasse, kannte diesen Jungen etwas näher und erklärte den anderen:

„Der lungert hier öfter herum, hält sehnsüchtig nach Zügen Ausschau, die weit in die Ferne fahren. Mit Nachnamen jedenfalls heißt er ,Schneidmann‘, und er scheint manchmal echt gutes Werkzeug dabei zu haben!“

Jetzt rief er hinüber:

„He, Schneidmann, komm mal rüber zu uns!“

Der Angesprochene sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihnen hin, deutete mit einem fragenden Gesichtsausdruck auf sich selbst, worauf Mecki rief:

„Ja, wir meinen dich!“

Da kam er herüber; und jetzt sagte Pitti, ein dicker schwarzhaariger Junge aus Yxicks Klasse:

„Du hast ja wirklich ein schönes Taschenmesser; dürften wir dies mal kurz ausleihen? Wir wollen hier nur etwas einritzen, so wie du auch!“

Schneidmann grinste und reichte ihnen sein Messer. Damit konnten sie tatsächlich einen deutlich erkennbaren Totenkopf in den Pfeiler ritzen, mit der Unterschrift TRENCK.

Yxick zuckte mit den Schultern, wusste aber, dass dies ein gutmütiger Spaß seiner Mitschüler war. Nein, er würde sich dort gewiss nicht wie im Gefängnis fühlen, es würde vielleicht ein Abenteuer werden. Nur dieses Unbekannte – im Voraus wollte er die Gedanken daran noch am liebsten verdrängen ...


Das Tor vorm Moor und hinterm Schatz

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