Читать книгу Raban und Röiven Eine magische Freundschaft - Norbert Wibben - Страница 13
ОглавлениеDie Priorei
Vor dem Einschlafen überlegen Raban und Röiven, welchen Ort sie als nächsten aufsuchen sollen.
»In dem Roman gibt es doch eine Priorei, in der Sören wohnte. Wäre das ein möglicher Ort, an dem sich junge Fithich wohlfühlen würden?«
»In welchem Roman?«, knarzt der schwarze Vogel.
»Du weißt schon. In der Geschichte über Eila, die Elfen und…«
»War doch nur Spaß«, krächzt der Rabe glucksend zurück. »Natürlich kenne ich die Handlung. Großmutter hat mir die wahre Geschichte erzählt. Die Priorei wurde von seinem damaligen Besitzer Mynyddcaer genannt. Ich bin auch mal dort gewesen, so aus Neugier. Ich habe dort viele ältere Menschen gesehen.«
»Sag schon, könnten sich dort Jungvögel wohlfühlen?«
»Es gibt viele Bäume dort, einen richtig kleinen Wald. Ja, ich glaube schon.«
Also wählen sie diesen Ort als nächstes Ziel.
Nach einer angenehmen Nacht im duftenden Heu und einem guten Frühstück, verabschiedet sich Raban von dem freundlichen Gärtnerehepaar. Er schultert seinen Rucksack und nimmt den Kolkraben auf seinen linken Arm. Im Park dreht er sich noch einmal um und winkt zurück.
Mit schnellen Schritten verlässt er den Park und das Internatsgelände. Auf dem Weg in Richtung Stadt hat er gestern Abend eine Bushaltestelle gesehen. Dort gibt es ein Wartehäuschen. Es ist jetzt in den Schulferien niemand dort. Im Inneren ist er gegen zufällige Beobachtungen geschützt. Von hier können sie also mittels Zauber verschwinden. Die Luft glitzert und sie sind weg.
Raban befindet sich jetzt hinter einer kleinen Kapelle. Er wundert sich. In dem Roman war das Bauwerk doch eingestürzt. Es sieht aber ganz in Ordnung aus. Aus dem Inneren dringt Orgelmusik und leiser Gesang. Sollte Röivens Zauber wieder missglückt sein?
»Nein. Wir sind natürlich an dem richtigen Ort«, protestiert der Vogel. »Die Menschen haben das Gebäude wohl wieder hergerichtet. Ich weiß schon, was ich tue.«
»Das stimmt sicher. Aber deine Magie wird ja manchmal etwas fehlgeleitet. Du weißt schon, durch den blöden Verband.« Bei den letzten Gedanken versucht er die beleidigte Stimme des Kolkraben nachzumachen.
»Ha, ha. Selten so gelacht!«
»Jetzt aber ernsthaft. Ich habe fast den Eindruck, dass wir auf einer Vergnügungsfahrt sind.«
»Du hast Recht. Wir müssen meine Verwandten retten. Also mach schon.«
»Ich mach ja schon.« Der Junge umrundet langsam das Gebäude. Von der Kapelle schleicht er über den Innenhof, der mit Sandsteinplatten ausgelegt ist. Der Boden weist keine Risse und Lücken auf, wie in dem Roman.
»Ob das hier wohl ein Heim für alte Leute ist?«, überlegt Raban. »Das würde dazu passen, dass die Kapelle nicht nur wieder gerichtet ist. Auch die frühe Morgenmesse passt dazu.«
»Das mag schon stimmen«, knarzt Röiven als Antwort. »Aber gehe bitte weiter, damit wir zu dem Wäldchen dort drüben kommen.«
»Ich beeile mich ja. Ach nein. Nicht auch hier!« Der Junge beginnt zu rennen. Auch der Rabe krächzt verzweifelt:
»Wir sind zu spät. Der Wahnsinnige hat wieder zugeschlagen!«
Außer Atem steht Raban am Rand des Wäldchens. Hier liegen verstreut viele tote Vögel. Es sind diesmal aber nicht nur Kolkraben, auch mehrere Krähen sind darunter.
Der Junge setzt den Vogel auf den Boden. Langsam schreitet dieser die vielen Kadaver ab. Es sind wohl Schimpfworte und Flüche, die er äußert. Verstehen kann Raban sie aber nicht.
Plötzlich steht Röiven still. Sein Kopf hängt traurig herunter. Eine Träne rollt über den Schnabel und tropft von dort auf einen jungen Raben.
»Arme Roya! Ich weiß noch genau, wie stolz deine Eltern waren, als du geschlüpft bist.«
»Du kennst ihn?«, fragt Raban vorsichtig.
»Ja. Aber »er« ist ein Mädchen. Ich erinnere mich noch genau an sie. Es ist erst wenige Wochen her. Sie war so schön. Sie hätte vielleicht meine Freundin werden können. Stark und mutig war sie. Ich habe gesehen, wie sie sich auf mehrere Elstern stürzte, um einem Jungen zu helfen.« Erneut tropft eine Träne auf den stillen Vogel.
»Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie traurig du sein musst. Aber ich fühle mit dir.« Raban streicht seinem Freund über das Gefieder. »Trotzdem müssen wir hier besser verschwinden. Die Musik in der Kapelle hat aufgehört. Die Leute werden gleich herauskommen. Wenn sie uns hier sehen, habe ich vermutlich Fragen zu beantworten, auf die ich keine Antwort geben kann.«
»…«
»Hast du mich gehört? Wir müssen fort. Soll ich Roya mitnehmen und an einem sonnigen Platz beerdigen?«
»Du willst was? Wozu soll das gut sein?« krächzt es traurig, aber erstaunt zurück.
»Wir beerdigen unsere Toten. Dadurch sind ihre Körper vor …« Pause. Etwas verlegen setzt Raban den Satz fort:
»… also, sie sind dann vor Tieren geschützt, die sie sonst auffressen würden.«
»Ist das schlimm? So helfen sie anderen Lebewesen zu überleben. Das ist doch ein steter Kreislauf.«
»Du hast eigentlich Recht. Trotzdem mögen wir Menschen es nicht, wenn Angehörige oder Freunde in aller Offenheit zerstückelt und aufgefressen werden. In der Erde werden sie letztlich auch langsam aufgelöst und sind Teil des Kreislaufs. Auch wenn die Körper anderen nützlich sind, ihre Seele geht zu Gott.«
»Die Anam kehrt zum großen Geist heim, der uns alle geschaffen hat«, bestätigt Röiven.
»Gut. Wir nehmen Roya mit. Los, die Leute kommen schon.« Der Junge hebt den toten Kolkraben auf und nimmt seinen Freund wieder auf den linken Arm.
»Bringe uns an deinen Lieblingsort!«, fordert er. »Dort kannst du dich in Ruhe verabschieden.«
Die Luft flirrt. Bevor sie bemerkt werden, sind sie verschwunden.
Im selben Moment steht der Junge auf einer großen Wiese. Das volle Sonnenlicht lässt die Wildblumen bunt leuchten. Die Insekten summen. Raban blickt sich um. Hier ist es wirklich schön. Aber, wo ist Röiven. Der Junge trägt die tote Roya noch immer vorsichtig auf seinen Händen. Der lebende Kolkrabe fehlt aber.
»Nicht schon wieder!«, stöhnt er auf und blickt sich suchend um. Die Wiese liegt an einem sanften Berghang. Doch sein Freund ist nicht zu sehen. Suchend wandert er umher und gelangt zu mehreren flachen Erdhügeln. Sie sehen aus wie alte Gräber. Ihnen direkt gegenüber ist ein Grabstein aufgestellt.
Die Sonnenstrahlen lassen den Grabstein aus graugelbem, hellen Sandstein fast leuchten. Raban tritt näher und erkennt Symbole und Schriftzüge. Sie sind bereits ziemlich verwittert. Er strengt sich an, sie zu entziffern und meint zu träumen.
»Kann das wahr sein? Da sind tatsächlich, kaum noch sichtbar, eine Ziegenherde und Sterne erkennbar. Dies ist Erdmuthes Grab, wenn sie in dem realen Geschehen so genannt wurde.« Er ist davon überzeugt und durchlebt mit geschlossenen Augen Teile der gelesen Geschichte. Jetzt, mit der Erinnerung vor Augen, sind die Schriftzüge leicht zu lesen: