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Norbert Wickbold

Denkzettel Nr. 52


Wie es bei Hempels unterm Sofa

wirklich aussieht!

Ich wollte das tatsächlich wissen.

Manchmal gehen mir Redewendungen durch den Kopf – ja und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie dort hinein gekommen sind. Genauso wenig, wie ich – zumindest damals als Kind – verstehen konnte, wie es in meinem Zimmer immer wieder zu solch einer Unordnung kommen konnte. Auch wenn die Leute sagen, dass alles, was geschieht, eine Ursache haben muss, so scheinen doch Unordnung und Chaos, wie der Staub, der sich ohne eigenes Zutun auf alles setzt, gewissermaßen wie von selbst zu kommen. Meine Eltern, die sich an dem, von ihnen als chaotisch bezeichneten Zustand in meinem Zimmer übrigens mehr störten als ich, inspizierten deshalb des Öfteren mein Refugium und riefen beim Anblick dessen, was sie dort meistens vorfanden, spontan und mit größter Entrüstung aus: »Das sieht ja aus, wie bei Hempels unterm Sofa!«.

Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass es bei Hempels unterm Sofa fürchterlich aussehen müsste, kannte ich niemanden mit diesem Namen. Seit wann waren meine Eltern mit den Hempels bekannt? Ich hab´mich nie getraut, sie danach zu fragen, woher sie wissen konnten, dass es bei Hempels so aussieht. Auf jeden Fall musste der Zustand unter Hempels Sofa viel, viel schlimmer gewesen sein, als alles, was je in meinem Kinderzimmer vorzufinden war. Das konnte auch gar nicht anders sein, denn ich musste mein Zimmer ja ständig aufräumen.

Damals war ein Spielkamerad zu meinem besten Freund geworden. Seine Mutter war viel älter als meine. Und einen Vater hatte der nicht. Mein Freund sagte mir, er müsse nie aufräumen, höchstens wenn er das selbst wolle. Und das käme nicht häufig vor. Doch als ich einmal bei ihm zuhause war, sollte ich meine Schuhe ausziehen, da man in der Wohnung nur auf Socken laufen durfte. Sogleich setzte ich mich an die Bettkante. Beim Ausziehen der Schuhe stellte ich mich jedoch etwas ungeschickt an, denn es rieselte jede Menge Sand heraus und bildete auf dem Boden einen richtigen Haufen. Ich wollte das Malheur sofort beheben und den Sand einfach unter den Teppich kehren. In meiner kindlichen Naivität dachte ich: »Davon sieht man nachher gar nichts mehr.«. Ich war schon dabei die Ecke des Teppichs anzuheben, doch als die Mutter ins Zimmer kam, erschrak ich über ihren missmutigen Blick und blitzschnell schob ich den Sand unters Bett. Prompt fragte sie mich: »»Macht ihr das zuhause auch so?«. Ich antwortete kleinlaut: »Nein«. Daraufhin drückte sie mir mit einem energischen Griff Schaufel und Handfeger in die Hand. So musste ich den Sand feinsäuberlich wieder unter dem Bett hervorkehren und in den Mülleimer werfen. Inzwischen weiß ich, dass das mit dem Unter-den-Teppich-Kehren nicht nur meine Idee war.

Die erfreut sich sogar einer ständig wachsenden Beliebtheit. Als die Mutter sah, dass ich die Sache wieder in Ordnung gebracht hatte, war sie nicht mehr ganz so böse. Und als ich nach Hause wollte, blinzelte sie mir zu und sagte: »Nachher erzählst du noch zuhause, dass es bei uns aussieht, wie bei Hempels unterm Sofa!«. Ich dachte, das war doch gar kein Sofa, sondern das Bett meines Freundes. Und was darunter lag, hatte ich in der Eile gar nicht zu Gesicht bekommen. Ich hatte nur den Sand vor Augen. Und der war ja von mir. Wie bei Hempels sah das darunter sicherlich nicht aus. Auf jeden Fall, so schloss ich daraus, muss das Chaos bei den Hempels inzwischen legendär sein. Denn die Mutter meines Freundes kannte die Hempels offenbar auch.

Im Laufe der Zeit erfuhr ich, dass praktisch jeder wusste, wie es bei Hempels unterm Sofa aussah, obwohl niemand genau sagen konnte, wo die Hempels wohnen. Niemand hatte wirklich nachgeschaut. Bis auf eine Person. Die hat das tatsächlich versucht. Sie war Putzfrau und hatte überall drunter geschaut. Man glaubt es kaum, aber die hat ein Buch darüber geschrieben. Natürlich hieß das nicht: Bei Hempels unterm Sofa. Es hieß: Unter deutschen Betten.1 Als eifrige polnische Putzfrau ging sie von Berufs wegen der Frage nach, woher der ganze Schmutz kommt, und hatte dabei einiges zutage gefördert. Das es sich hierbei um eine verdeckte Ermittlung handelte, hätte eigentlich jedem klar sein müssen. Durch sie ist zwar jede Menge Krempel ans Tageslicht gekommen, doch nicht die hempelsche Unordnung und erst recht nicht die Hempels selbst. Nein die sind und bleiben verschwunden. Niemand hat die Hempels je gesehen. Waren die Hempels vielleicht als Mietnomaden aufgefallen? Das muss eher als unwahrscheinlich gelten, denn niemand hat je davon gehört, wie es unter ihren Betten, hinterm Kleiderschrank, im Bad oder im Kühlschrank ausgesehen hat. Nur das Sofa. Das war so fürchterlich! Das hat alles rausgerissen.

Manchmal denke ich, das Sofa gehörte vielleicht gar nicht den Hempels, sondern war als Installation von einem spitzfindigen Künstler gestaltet worden, der dann doch lieber anonym bleiben wollte. Das Werk des unbekannten Künstlers klingt ungefähr wie das Grab des unbekannten Soldaten. Die Zeitgenossen, die das besagte Sofa vorfanden, dachten, jedes Ding muss nun mal einen Namen haben. Auch die Unordnung. So wurde aus dem Chaos unbekannter Urheberschaft ein hempelsches Werk. Einer muss das ja schließlich verbockt haben. So`ne Schweinerei!

Meines Wissens nach ist das hempelsche Sofa jedoch nie ausgestellt worden. Weder als Corpus Delicti, noch als Kunstobjekt. Wahrscheinlich ist es längst von einer eifrigen Putzfrau weggeräumt worden. Zumindest das, was sich unter dem Sofa befand. Sie hatte wohl keine Klage des Künstlers zu befürchten gehabt – im Gegensatz zu der Putzfrau, die, mangels modernem Kunstverständnis, die Fettecke von Joseph Beuys entsorgte. Vielleicht hatte der Sofakünstler es vorgezogen, auf diesen zweifelhaften Ruhm zu verzichten oder er wollte einfach selbst nicht in den Schmutz gezogen werden.

Und was ist mit der Fernsehsendung, die unter dem Namen »Kunst und Krempel«. bekannt ist? Nein, was da vorgestellt wird, dürfte wohl kaum unter Hempels Sofa gelegen haben. Dann eher das, was vor vielen Jahren ein Verkäufer auf einem Flohmarkt in Bremen feilbot. Der hatte auf einer riesigen Tischplatte jede Menge verrostete und vergammelte Gegenstände ausgeschüttet. Weil er seinen Stand geschickt an der engsten Stelle aufgebaut hatte, kam niemand an seinen Sachen vorbei. Und tatsächlich drängten sich von allen Seiten die Interessenten um dieses seltsame Sammelsurium. Offenbar hegten sie die vage Hoffnung, darin noch etwas Brauchbares oder gar Wertvolles zu entdecken. Und auch ich fing bald an, unter den rostigen Teilen nach Schätzen zu suchen. Der Anbieter dieses Schrotthaufens war ein selten schräger Vogel, der wie Catweazle aussah und von Zeit zu Zeit mit einer knarrenden Gießkannenstimme genüsslich in die Menge rief:

»Ich hab´noch viel mehr Müll zuhause!«.

Und sofort verlor ich die Lust daran, mich an diesen Sachen schmutzig zu machen. Plötzlich war mir, als würde ich mich an einen Virus infizieren. Ich dachte, ich hab´es doch nicht nötig, in Müll und Schmutz anderer Leute herumzuwühlen. Ja, mich überkam eine richtige Wut und ich dachte: Behalt´deinen Krempel, Herr Hempel! Naserümpfend ging ich weiter. Erst später wurde mir klar, dass mir dadurch wohl eine große Chance entgangen war. Denn warum hatte ich diesen Typen spontan Herr Hempel genannt? Vielleicht hätte ich bei ihm das Originalsofa hempelscher Urheberschaft gefunden! Womöglich war das die Quelle all der Dinge, die er selbst als Müll bezeichnete.

Ich muss zugeben, dass mein diesbezügliches Interesse rein sprachlicher Natur war. In Wirklichkeit konnte mir das Sofa der Hempels mit den nie versiegenden Quellen von Dreck und Müll gestohlen bleiben! Obwohl die Flohmärkte jede Woche am gleichen Platz stattfanden, begegnete ich dem Müllhändler nie wieder. Könnte es sein, dass seine Frau einfach nicht gegen den vielen Krempel dieses Herrn Hempel ankam? Oder hatte der Müllmann eine Frau Saubermann geheiratet, sodass es fortan bei ihnen überall picobello aussah – auch unter dem Sofa? Oder war es ihm tatsächlich gelungen, all seinen Müll unters Volk zu bringen? Dann könnte die Gießkannenstimme jetzt hämisch ausrufen:

»Ihr habt ja viel mehr Müll zuhause, als ich!«.

Ich frage mich: Warum interessieren sich so viele Zeitgenossen für den Dreck anderer Leute? Sie beschweren sich über die Schweinerei, in der sie sich so gerne suhlen. Hauptsache, sie selbst gelten nicht als deren Verursacher. Und wenn ich daran denke, mit welcher Freude, ja, mit welcher Genugtuung sich der Verkäufer auf dem Flohmarkt daran ergötzte, dass andere Leute in seinem Müll herumwühlten, dann frage ich mich allen Ernstes:

»Sind wir nicht alle ein bisschen Hempel?«.

Bis heute hat noch niemand öffentlich – und sei es auch nur den besten Freunden gegenüber – behauptet, das Original hempelsche Sofa bei sich zuhause zu haben. Die modernen Hempels tragen im Volksmund den Namen Messie. Messies sind Leute, die – im wahrsten Sinne des Wortes – jeden Müll aufbewahren. Messies gibt es inzwischen überall. Ja, das ist es überhaupt. Jetzt weiß ich, wo Hempels Sofa geblieben ist: In Schottland. Die Hempels lebten ursprünglich in Schwaben. Und weil die nie ihre Kehrwoche machten, und Messie irgendwie englisch klingt, haben die Schwaben sie nach Schottland abgeschoben. Ihren ganzen Dreck, besonders ihr Sofa mussten sie mitnehmen. Die Schotten fanden das ungeheuerlich und haben das hempelsche Sofa kurzerhand in ihren tiefsten See versenkt – mit allem Drum und dran. Und damit niemand auf die Idee kommt, das wieder zutage zu fördern, spricht man dort geheimnisvoll vom »Ungeheuer von Loch Mess.«.


1 Justyna Polanska: Unter deutschen Betten. Eine polnische Putzfrau packt aus

Norbert Wickbold Denkzettel 6

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