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Norbert Wickbold

Denkzettel Nr. 71


Ach was lebt sichs fein, in Wolkenkuckucksheim!

Als ich den Titel dieses Denkzettels verfasste, stutzte ich kurz, ob ich »im« oder »in« schreiben sollte. Würde ich »im« schreiben, ginge es lediglich um ein einzelnes Haus. Bei dem von mir gemeinten Wolkenkuckucksheim handelt es sich jedenfalls nicht um ein abgelegenes Luftschloss eines Einzelnen, sondern um einen vielbevölkerten Ort. Denn dort müssen sich derzeit sehr, sehr viele Menschen aufhalten. Das wird sicher ein besonderer Ort sein, denn er übt auf immer mehr Menschen eine große Anziehungskraft aus. Besonders unter Personen, die sich in Wissenschaft sowie Politik und Medien einen Namen gemacht haben, erfreut sich dieser Ort einer hohen Beliebtheit.

Seit meinen frühen Kindertagen interessiere ich mich für besondere Orte. Mein Vater erzählte mir zum Beispiel Geschichten vom Schlaraffenland. Oder er spielte gerne auf seinem Tonbandgerät Seemannslieder ab. In einem dieser Lieder beeindruckte mich besonders die Zeile: »Alles, was du sonst nicht kannst, das kannst du auf St. Pauli!« In meiner kindlichen Fantasie malte ich mir aus, was ich wohl alles auf St. Pauli können würde. Dabei dachte ich mehr an Fähigkeiten, die ich dort haben oder erwerben würde. Ich hatte mir weder etwas Böses, noch etwas Unanständiges dabei gedacht. Inzwischen weiß ich, der Liedermacher fasste völlig andere Fähigkeiten und Möglichkeiten ins Auge, als ich. Damals hatte ich mir gewünscht, ich wäre ganz schlau und wüsste über alles genau Bescheid. Alle großen Leute sollten zu mir kommen und mich um Rat fragen. Gleich nach meinem 18. Geburtstag war ich wirklich auf St. Pauli. Und zwar am helllichten Tag! Damals war da bloß ein betrunkener Mann, der mir unbedingt zehn Mark schenken wollte. Die hatte ich natürlich angenommen. So war der Weg wenigstens nicht ganz umsonst gewesen. Denn die Fähigkeit, alle großen Fragen beantworten zu können, habe ich von dort nicht mitnehmen können. Leider konnte ich sie trotz großer Anstrengung auch nirgendwo anders erlangen. Obwohl meine Tante davon überzeugt war, das in mir schlummernde Talent schon früh erkannt zu haben, und sowohl meiner Mutter als auch mir immer wieder versicherte, ich würde bestimmt mal Professor, habe ich es leider nur bis zum Brotfresser gebracht. Und das, obwohl ich mich wirklich zu vielen Themen schlaugemacht hatte. Aber schlau sein, alleine genügt nicht. Man muss auch von sich reden machen. Sonst denken die Leute höchstens, man würde nur Luftschlösser bauen. Oder eben in Wolkenkuckucksheim leben. Es gab andere, die es sich auch gewünscht haben, ganz schlau zu werden. Und die haben es tatsächlich geschafft Professor, bzw. Professorin zu werden. Die sind jetzt nicht nur schlau, sondern die können auch schlau reden.

Professoren gelten nämlich automatisch als Experten. Sie werden ständig in Talkshows eingeladen und können alles sagen, was sie denken. Sie äußern ihre Meinung frei raus und schon wird das Gesagte zu einem unumstößlichen Gesetz. Und nicht nur das. Sie sagen in einer Tour: Ich glaube, dass es sich wohl so verhält. Obwohl sie sagen, was sie glauben, glauben die anderen, was sie sagen und meinen, das sei exaktes Wissen. Und schon gilt alles Gesagte als bewiesene Tatsache. Das Wort eines Professors hat Gewicht. Professoren sind wahre Schriftgelehrte. Sie können die heiligen Schriften ihrer Wissenschaft für uns deuten. Wenn in der Weltgeschichte gerade etwas völlig neu anfängt, können diese Experten sofort erklären, wie die Sache weitergeht, bzw. wo das Ganze hinführen wird. Dabei stützen sich all ihre Erkenntnisse auf Studien, die sie oder andere Professoren in naher oder ferner Vergangenheit machten. Lange bevor das Problem überhaupt existierte. Und auch bevor sie selbst etwas davon ahnten. Weil wir anderen nicht weiter wissen, sollen die Professoren etwas Schlaues sagen und alles erklären. Wir verstehen die Angelegenheit zwar nicht, aber wir haben eine schlaue Erklärung dazu gehört. Ein Professor muss das ja wissen!

Niemand fragt: Woher weiß der/die das überhaupt? Wie soll das möglich sein? Das fragt man einfach nicht. Doch, ich frage das! Und weil ich immer noch nicht schlau genug geworden bin, frage ich sogar noch mehr. Ich möchte zum Beispiel der Frage nachgehen, was einen Experten zum Experten macht. Und ich möchte wissen, ob oder durch welchen Umstand ein Nichtexperte doch noch zum Experten werden kann. Und die Frage ist auch, ob das dann spontan geschieht oder eher allmählich vonstatten geht ? Zu guter Letzt bleibt die Frage, warum wir anderen glauben, auf ewig Nichtexperten bleiben zu müssen und wohl immer auf Experten hören müssen? Wieso eigentlich? Weshalb soll ich, nur weil ich kein Professor bin, nie zum Experten werden können? Ich arbeite in meinem Beruf schon seit 30 Jahren. Dennoch würde niemand auf die Idee kommen, mich aufgrund meiner Profession als Experte zu bezeichnen. Dabei habe auch ich schon wer weiß was gedacht – aber eben nur im stillen Kämmerlein. Ja und deshalb habe ich schon vor Jahren angefangen meine Gedanken aufzuschreiben und daraus schließlich die Denkzettel gemacht. Ich behaupte: Im Denken bin ich Spezialist. Um nicht zu sagen Experte. Nur eben kein Professor und kein großer Redner vor dem Herrn. Das Denken lässt mich nicht mehr los. Wahrscheinlich ist es der Neid des Besitzlosen, weshalb ich mich jetzt kurzerhand selbst zum Experten für Professorologie ernannt habe. Wenn kein anderer den Experten in mir erkennt, muss ich mich eben selbst dazu ernennen. Denn ich will nicht mehr am Rande stehen und nur zuschauen.

Ich will mitreden! Das kann ich durchaus! Und hier kommt, was ich über Professoren herausgefunden habe. Je nach Bedarf kann man zwischen zwei Arten von Professoren wählen. Um etwas durchzusetzen beauftragt man einen Befürworter, um etwas zu blockieren einen Widersprecher. Außerdem haben wissenschaftliche Studien erwiesen, dass die größte Effizienz besteht, wenn der beauftragte Professor gleichzeitig ein Prophet ist. Er prophezeit ein riesengroßes Unglück und erklärt uns, was wir tun müssen, um das zu verhindern. Sicherheitshalber haben die Professoren sich unbemerkt, ins Exil begeben. In ein Exil das keinen besseren Namen tragen könnte, als Wolkenkuckucksheim. Wer wie sie glaubt, über allem zu stehen, ist bald ganz und gar dorthin abgehoben. Schließlich heißt es in dem Lied von Reinhard May: »Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.« Fliegen die denn heimlich in ihr Wolkenkuckucksheim? Alle Meldungen über Wolkenkuckucksheim müssen als Fake News getarnte Wahrheiten bezeichnet werden. Wolkenkuckucksheim ist nicht über, sondern in den Wolken. Deshalb sollen wir ihnen ja alle Daten über die Vorgänge auf der Erde in die Cloud schicken. Von dort aus steuern die Experten das Leben hier unten. Das einst idyllische Wolkenkuckucksheim haben sie inzwischen zu einer Art Mondbasis ausgebaut. Für normale Erdenbürger nicht mehr zugänglich, werden dort unentwegt geniale Lösungen erfunden. Sobald die Experten diese gefunden haben, beschießen sie uns hier unten mit Problemen, die wir ohne sie nie gehabt hätten. Ohne ihre Lösungen, werden wir diese Probleme nie mehr los. Zwischendurch schweben die Professoren aus ihren Wolken zu uns auf Erden als rettende Engel. Oder als Verkündigungsengel. Immer ein: »Vom Himmel hoch da komm ich her« auf den Lippen. Und dann bringen sie uns ihre neue Mähr. In ihren Märchen verkünden sie Wunder, die sich in Wirklichkeit eher als Schauermärchen erweisen. Mit ihrem Adlerblick von Wolkenkuckucksheim aus sehen sie alles Mögliche und Unmögliche Unheil auf uns zukommen. Sie warnen uns unentwegt vor neuen Gefahren und schicken uns gefährliche Erreger, um unsere Gemüter zu erregen.

Ich frage mich, ob die Professoren, die uns in den Medien präsentiert werden, sich nicht selbst eher als Propheten verstehen. Mit ihren Kassandrarufen drohen sie uns mit einem Untergang, der unausweichlich eintritt, wenn wir ihre Warnungen in den Wind schlagen. Aus dem unscheinbaren Wolkenkuckucksheim haben wir uns leider unbemerkt lauter Kuckuckseier ins Nest legen lassen. Jetzt sind die ausgeschlüpft und haben uns aus dem Nest geworfen. Nachdem wir uns erfolgreich haben vertreiben lassen, werden wir als Nestbeschmutzer beschimpft. Warum haben die uns hier unten alle Stühle hochstellen lassen? Sie selbst haben ihren Wohnsitz auf dem Boden der rauen Tatsachen aufgegeben und Wolkenkuckucksheim zum Erstwohnsitz gemacht. Für sie gilt: Ach was lebt sichs fein in Wolkenkuckucksheim! Da für sie hier unten nichts mehr zu holen ist, haben sie uns die Stühle hochstellen und die Lokale schließen lassen.

Vor über einem Jahr da hieß es: Hoch die Tassen!

Doch was jetzt geschieht, kann ich kaum fassen.

Heute heißt es nur noch: Hoch die Stühle, und halt dich fern von jedem Gewühle!

So werden die Stühle alle hochgestellt und wir leben in unserer eigenen Welt.

Haben wir unsere Lieben auch noch so gern, aus Furcht vor Strafe bleiben wir ihnen fern.

Wir dürfen nicht mehr küssen, singen oder lachen, nur was die Experten wollen, dürfen wir machen.

Unser Lächeln müssen wir hinter Masken verstecken, gepiesackt zu werden, danach sollen wir uns recken.

Und lässt man uns hier nicht mehr menschlich sein, ziehen auch wir nach Wolkenkuckucksheim.

Dann schmeißen wir die ganzen Experten da raus und sind endlich wieder selbst Herr im Haus.

Wir stellen die Stühle wieder auf die Erde, auf das diese endlich menschenwürdig werde.


Norbert Wickbold Denkzettel 8

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