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Kapitel 2

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1662

Euphemia Glengary nahm gerade den großen Korb mit Pilzen und Kräutern auf, als sie eine Frau aus der Nachbarschaft sah, die einen seltsamen Haken schlug. „Adairia, du gehst mir aber nicht mit Absicht aus dem Weg, oder?“, rief sie.

Die Angesprochene legte den Finger an den Mund und kam in gebückter Haltung herüber. »Pst, ich will nicht, dass man uns hört.«

»Was ist denn mit dir los? Verfolgt man dich?«

»Mich nicht, noch jedenfalls nicht.«

»Willst du weiter in Rätseln sprechen, oder sagst du mir jetzt, worum es geht?«

»Ach, Pheem, ich wünschte, du würdest mich nicht fragen. Es ist alles so schrecklich. Du kennst doch die dicke Iseabal, die dreimal am Tag in die Kirche rennt.«

Euphemia nickte. »Wenn nicht noch öfter. Und was ist mit der?«

»Die redet schlecht über dich. Du sollst schuld an der Viehseuche vor drei Jahren sein und …na ja, noch so manch anderes.«

»Soll sie doch ihr Gift verspritzen. Die bildet sich ein, ich hätte ihr offenes Bein falsch behandelt. Dabei weiß ich genau, dass sie meinen Rat nicht befolgt hat und rumgelaufen ist, statt dem Bein Ruhe zu gönnen. Das ist eine von denen, wo Hilfe überflüssig ist, weil sie alles besser wissen.«

»Wenn es nur das wäre. Sie ist auch gemein und sehr gefährlich.«

»Was kann die mir schon anhaben. Beim Friedensrichter hat sie jedenfalls mit ihrer Beschwerde über mich keinen Erfolg gehabt.«

»Ich weiß nicht, ob du schon gehört hast, dass ein paar Dörfer weiter der Hexenjäger Kohde angekommen ist?«

Euphemia schüttelte den Kopf.

»Das ist ein ganz Schlimmer«, sprach Adairia weiter. Man sagt, dass er keine Gnade kennt. Wer unter seine Folter gerät, überlebt es meist nicht. Er macht sogar vor Kindern nicht Halt.«

»Die Leute reden viel und dichten immer noch etwas dazu. Wenn seine Opfer alle sterben, kann man jedenfalls keine Auskunft mehr von ihnen darüber kriegen, was wirklich vorgefallen ist.«

»Du nimmst die Sache zu leicht, Pheem, Iseabal hat gedroht, ihm deinen Namen zu nennen. Und alle, die mit dir zu tun hatten, will sie auch mit anschwärzen.«

»Dann soll sie mit sich anfangen, schließlich ist sie auch zu mir gekommen. Und statt mich zu warnen, wolltest du dich davonschleichen, na, vielen Dank.«

»Entschuldige, es tut mir leid. Das war unüberlegt. Aber im Gegensatz zu dir habe ich Angst, vor allem um meine Kinder. Sie sind doch noch so klein. Und ich will auch nicht, dass dir etwas geschieht. Du hast immer ein gutes Wort und bist für einen da. Geh’ bitte vorläufig nicht mehr nachts in den Wald. Vielleicht solltest du ganz fortgehen.«

»Wie stellst du dir das vor? Manche Kräuter kann man nur nachts pflücken, manche sogar nur bei Vollmond. Und fortgehen, wohin? Mein Dearg hat mit seinen eigenen Händen das Haus erbaut. Es ist mein Zuhause. Und mit meinem Kleinen würde ich nicht weit kommen.«

»Und wenn man es dir über dem Kopf anzündet?«

»Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken. Zunächst einmal kommt ja die gütliche Befragung. Danach ist der Fall meistens erledigt.«

»Aber bei der peinlichen Befragung sollen die Opfer alles gestehen, nur um weiterer Qual zu entgehen.«

»Auch wenn dieser Kohde noch so grausam ist, er wird bestimmt unterscheiden können, ob er eine Hexe vor sich hat oder nur eine Frau, über die man schlecht redet. Ich habe noch keinem etwas zuleide getan.«

»Ja, das wissen du und ich, aber …«

»Aber?«

»Ich habe da ganz schreckliche Sachen gehört. Du kannst dir nicht vorstellen, was man alles mit den Frauen macht. Tyree, der Schmied, beteiligt sich freiwillig daran und prahlt auch noch damit. Zum Beispiel Der Spanische Bock. Das ist ein spitz zulaufender Holzkeil, auf den man die Frauen nackt mit gespreizten Beinen setzt. Da ihre Füße dabei keinen Bodenkontakt haben, lastet das gesamte Körpergewicht auf der Scham. Brr, mir schaudert. Was Menschen ihresgleichen antun … Man hackt ihnen ganze Körperteile ab oder weidet sie öffentlich wie Wild auf dem Marktplatz aus, indem man ihnen den Bauch aufschneidet und den Darm auf eine Holzrolle wickelt.« Adairia kamen die Tränen. »Es gibt noch viele andere Methoden, aber ich kann nicht mehr …«

»Du kommst jetzt mit, und ich koche dir einen Tee zur Beruhigung. Wenn jemand kommt, und sei es der Teufel persönlich, dem kratzen wir gemeinsam die Augen aus.«

Percy Sutherland war in den letzten Wochen noch oft bei Janet zu Gast gewesen. Sogar Mitch war inzwischen weniger spitz mit seinen Bemerkungen, obwohl er nach wie vor keinen Hehl draus machte, dass er den „Kerl“ nicht leiden konnte. Wenn Mitchel im Bett war, hatten Janet und Percy noch stundenlang vor dem Kamin gesessen und Zärtlichkeiten ausgetauscht. Intim sollten sie aber vorerst nicht werden, zumal Leslee MacLean inzwischen angereist war.

»Da hast du dir ja ein Schätzchen angelacht«, sagte die hübsche Leslee mit den strahlend blauen Augen und den immer etwas widerspenstigen rötlichen Haaren.

»Von Anlachen kann keine Rede sein. Ich bin ihm buchstäblich vor die Füße gefallen.«

»Egal, wie ihr euch kennengelernt habt, ich freue mich, dass du dein Einsiedlerdasein aufgegeben hast.«

»Sehr zum Verdruss von Mitch. Der kann Percy nicht ausstehen.«

»Das ist doch normal. Da könnte einer kommen, der ihm die Sterne vom Himmel holt, den Vater wird er ihm nicht ersetzen können. Das dauert, die Rivalität wird sich noch eine Weile hinziehen, um nicht zu sagen, Jahre.«

»Das sind ja schöne Aussichten. Manchmal kommt es mir so vor, als lodere die nackte Mordlust in Mitchs Augen.«

»Weil er Angst hat, dich auch noch zu verlieren. Da kannst du ihm tausendmal versichern, ihn zu lieben. Das Vertrauen muss erst wachsen. Wenn er sieht, dass dir der Mann nicht mehr bedeutet als er, werden sich die Wogen glätten. Wie ist er denn so im Bett, dein Percy?«

»Also hör mal. So weit sind wir noch nicht.«

»Nein? Hält die Mummy die Hand drauf? Ich meine, so wie er von seiner Mutter spricht … Und die alte Dame scheint keine Hemmungen zu haben, ihn bei dir zu blamieren, indem sie ständig anruft, wenn er hier ist.«

»Das ist dir auch schon aufgefallen, nicht?«

»Es ist ja kaum zu übersehen beziehungsweise zu überhören. Schon ungewöhnlich, dass ein Mann in seinem Alter noch bei der Mutter wohnt und vielleicht sogar unter Kuratel steht. Glaubst du, einem Muttersöhnchen gewachsen zu sein?«

»Jetzt übertreibst du aber. Nur, weil die beiden ein gutes Verhältnis haben …«

»Und dass er dich nicht anrührt, findest du auch normal, ja?«

»Er hat eben eine etwas altmodische Ansicht über partnerschaftliche Belange und mag keine Frauen, die allzu leicht zu haben sind.«

»Ach, deshalb macht er auch mir schöne Augen, der Casanova, ja?«

»Du musst dich täuschen. Das würde er mir nicht zumuten, erst recht nicht im eigenen Haus. Und eigentlich passt du nicht in sein Beuteschema. Er bevorzugt mehr den Madonnentyp.«

»Danke, verstehe. Na, da ist er ja bei dir an der richtigen Adresse«, lachte Leslee, »da hat sich schon mancher die Zähne ausgebissen.«

»Was du immer hast. Schließlich geht gerade erst das Trauerjahr zu Ende.«

»Ja, entschuldige, du machst das schon alles richtig. Solange du innerlich nicht frei bist … Aber Alec hat bestimmt nicht gewollt, dass du alleine bleibst. Nur, ob dieser Percy seine Nachfolge antreten kann …Vielleicht sucht er in jeder Frau nur seine Mutter. Sie muss makellos rein sein, wunderschön und darf nur in bestimmten Momenten erotisch die Sau rauslassen, Verzeihung, mit mir gehen mal wieder die Pferde durch.«

»So eine schlechte Meinung hast du von ihm?«

»Was heißt schlecht? Ich schätze mal, zwei Drittel der Männer sind wie er, mehr oder weniger offensichtlich. Was denkst du, wie viele sich eine neue Mama suchen und ihre erotischen Fantasien bei Huren ausleben, weil sie zu Hause nicht bekommen, was sie wollen?«

»Menschen sollten überhaupt nicht heiraten. Dann bräuchten sie sich auch nicht wieder scheiden lassen oder allein zurückbleiben.«

»Lass sie doch, Geschiedene oder Witwen hat es immer gegeben. Mir tun nur mitunter die Kinder leid. So, aber bevor wir jetzt noch weiter die Weltordnung anzweifeln, würde ich gerne deine todchice Ruine besichtigen. Mitch hat mich schon ganz heiß gemacht.«

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Irgendwas ist da nicht ganz geheuer. Mitch und ich haben das Haus erlebt, als sei es gerade erst erbaut worden.«

»Himmlisch, ich liebe Spukorte.« Damit war Leslee schon losgelaufen und stand wenig später zwischen den Mauerresten. »Ich weiß wirklich nicht, was du hast – alte Steine und sonst nichts«, rief sie ein wenig zu laut, weil sie vergaß, dass sie nicht wirklich in einem Haus stand. »Ein paar Stangen und eine Zeltplane, und ihr habt einen Sommerpavillon.«

»Siehst du, du hast es auch gesehen«, sagte Janet.

»Ach was, die Bäume werfen ein paar Schatten. Da bildet man sich alles Mögliche ein«, versuchte Leslee abzuwiegeln.

»Glaubst du, dass du mir damit hilfst, indem du es ableugnest. Riech mal an deinen Sachen.«

Leslee hielt sich ihren Ärmel vor die Nase. »Ja, tatsächlich, er riecht nach Rauch. Dann war die Feuerstelle also keine Illusion.«

»Sag ich doch. Und was macht man in einem solchen Fall?«

»Was man macht, weiß ich nicht. Aber du könntest alles mit Sand zuschütten lassen. Dann hätte Mitch im Winter einen kleinen Rodelberg.«

»Das ist eine Idee! Ich werde darüber nachdenken. Tu mir bitte den Gefallen und rede mit Percy nicht darüber, wenn er heute Abend kommt. Er soll uns nicht für komplett übergeschnappt halten.«

»Du und deine Rücksichten. Drei Verrückte gegen einen sind deutlich im Vorteil, findest du nicht? Und sonst? Siehst du noch andere Dinge?«

»Nein, nur hin und wieder einen Schatten, der durchs Haus geht. Manchmal sitzt er auch in meinem Schlafzimmer und beobachtet mich. Ich dachte, es ist Alec, aber sobald ich ihn anspreche oder auf ihn zugehe, löst er sich auf.«

»Huh, wie gruselig, in Filmen sehen die Toten immer ganz normal aus.«

»Ja, das eine ist eben Film, und das andere Realität.«

»Und wie sieht es mit Geräuschen aus?«, wollte Leslee wissen.

»Keine, bis auf das Gackern von Hühnern, vor allem um die Hütte herum.«

»Irre, versuch doch mal, eins zu fangen. Ein Huhn aus der Zwischenwelt hat bestimmt noch niemand serviert.«

»Wenn du nur deinen Spaß hast …«

»Nein, ich finde das alles sehr aufregend und auch etwas unheimlich. Vielleicht sollst du vor etwas gewarnt werden.«

»Jetzt fängst du auch noch an. Mr. Fraser, das ist der Gärtner, der das Gestrüpp beseitigt hat, ließ auch schon so eine Bemerkung fallen. Manche Dinge sollten besser verborgen bleiben, oder so ähnlich.«

»Was könnte er damit gemeint haben?«

»Keine Ahnung, wer weiß, wer hier mal gewohnt hat.«

»Das müsste sich doch herausfinden lassen. Es gibt bestimmt noch alte Aufzeichnungen.«

»Das fehlte mir noch, dass ich hier die Pferde scheu mache. Lange genug hat es gedauert, bis man mich halbwegs akzeptiert hat.«

»Ja, dann musst du eben weiter mit deinen Gespenstern leben. So lange sie nicht rabiat werden …«

»Sie nicht, aber ich gleich, wenn du nicht aufhörst.«

»Gnade«, winselte Leslee übertrieben wehleidig, »ich bin auch ganz brav.«

Einige Tage später fiel Janet auf, dass Mitch seine Verbände nicht mehr trug. »Hat also die neue Salbe doch angeschlagen«, sagte sie und betrachtete Mitchs Arme. »Pfui, was hast du denn da draufgeschmiert? Das stinkt ja fürchterlich.«

»Das ist eine Paste von Efims Mum. Die hilft besser als jede Salbe zuvor.«

»Efim, ist das der Junge, der hier manchmal mit dir im Garten spielt?«

»Ja.«

»Du könntest ihn mir mal vorstellen. Und seine Mum, ist das eine Heilpraktikerin oder etwas Ähnliches?«

Mitch zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal, was sie ist, solange sie mir hilft.«

»Hör mal, Mitch, ich will die Sache nicht kleinreden, aber eigentlich ist es mir nicht recht, dass du dich von Fremden behandeln lässt. Das kann auch schief gehen. Wo kommen wir denn dahin, wenn jeder an dir herumdoktert? Das kann deine Krankheit auch verschlimmern.«

»Hat es aber nicht. Ich werde die Paste auf jeden Fall weiter nehmen, ob es dir passt, oder nicht.«

»Hello, hello, einen anderen Ton, bitte. Und wo wir gerade beim Thema sind. Ich möchte, dass du dich von der Ruine fernhältst. Der Garten ist groß genug.«

»Du bist gemein. Erst lässt du alles wegräumen, und dann machst du einen Rückzieher.«

»Schatz, ich meine es doch nur gut. Ich kann verstehen, dass so ein Ort für einen Jungen unwiderstehlich ist, aber das Ganze ist nicht ganz ungefährlich. Zuletzt war das Haus leer, obwohl ein Feuer brannte und im Topf Suppe kochte. Aber was ist, wenn beim nächsten Mal jemand kommt? Vielleicht lässt er dich nicht mehr heraus.«

»Du spinnst. Gespenster sind nicht böse. Es sind nur arme, gequälte Seelen, die keine Ruhe finden. Das sagt Tante Leslee auch.«

»So, mit ihr hast du auch schon darüber gesprochen? Im Prinzip hat sie wahrscheinlich Recht. Aber es gibt auch Ausnahmen. Es heißt nicht umsonst „ein böser Geist“. Wir wissen zu wenig von der Zwischenwelt oder dem Jenseits. In den Zwanzigerjahren war es in Mode, Seancen abzuhalten, so genannte spiritistische Sitzungen. Nicht selten wurden da Wesenheiten angezogen, die alles andere als gut waren. Kennst du den Spruch „Die Geister, die ich rief, werd’ ich nun nicht mehr los?“ Das stammt aus einem Gedicht des großen deutschen Dichters Goethe. Es heißt „Der Zauberlehrling“. Du siehst, es hat schon vor Harry Potter Zauberlehrlinge gegeben. Johann Wolfgang von Goethe hat nämlich schon im 18./19. Jahrhundert gelebt.«

»Toll, das würde ich gerne mal lesen.«

»Gut, ich besorge es. Das wird dann die nächste Gute-Nacht-Geschichte. Aber es ändert nichts daran, was ich gesagt habe. Vielleicht lasse ich die Ruine sogar zuschütten.«

»Wenn du das tust …« Mitchel war außer sich und wollte losrennen.

Janet konnte ihn im letzten Moment zurückhalten. »Die Sache ist ja noch nicht entschieden. Also, sei ein braver Junge und gehe vorerst nicht zu der Ruine. Versprichst du mir das?«

Mitchel nickte widerwillig. Dabei hielt er hinter seinem Rücken Zeige- und Mittelfinger über Kreuz.

Percy war an jenem Abend nicht zum Essen gekommen und hatte sich auch telefonisch nicht gemeldet. Als Janet in Kinross einkaufte und besonders schöne Dahlien fand, entschied sie spontan, Percy welche vorbeizubringen. Inzwischen wusste sie, wo er mit seiner Mutter wohnte. Vielleicht würde sie die Blumen auch der alten Frau übergeben, um sie bei der Gelegenheit kennenzulernen. Aber es kam alles anders. Als Janet vor der Gartenpforte parkte und ausstieg, kam Percy mit bösem Gesichtsausdruck auf sie zu.

»Was willst du hier? Tu das nie wieder!«

»Ich wollte deiner Mutter ein paar Blumen bringen. Und du hast dich schon eine Weile nicht gemeldet …« Janet brach ab. Sie war den Tränen nah.

»Das wird nichts mit uns. Ich kann dir das nicht bieten, was du erwartest«, sagte Percy mit kalten Augen, die in krassem Gegensatz zu seinen lustigen Locken standen. »Also geh’ bitte und komm nie wieder!« Damit drehte er sich um und ließ sie stehen.

Janet war wie vor den Kopf geschlagen. Sie warf den Strauß achtlos auf den Rücksitz, stieg ein und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Erst jetzt kamen die Tränen. Sie weinte aus Wut und Enttäuschung. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden? Das hatte noch kein Mann zuvor getan. Von welchen Erwartungen hatte er gesprochen? Janet überlegte fieberhaft. Sie hatte sich einem kleinen Flirt hingegeben, aus dem unter Umständen mehr hätte werden können, das war alles. Er musste verrückt geworden sein, oder die Mutter steckte dahinter. Oder hatte er sich in Leslee verliebt? Janets Gedanken überschlugen sich. In der Aufregung hätte sie beinahe einen Unfall gebaut und kam völlig aufgelöst zu Hause an.

Leslee sah sofort, dass etwas passiert sein musste. Sie nahm Janet in den Arm und sagte: »Komm, erzähl mir alles.«

Während Mitch ungestört mit seinem neuen Freund Efim spielte, saßen die beiden Freundinnen beisammen, und Janet schüttete ihr Herz aus.

»Der muss als Kind zu heiß gebadet worden sein«, sagte Leslee empört. »So kann man doch nicht mit einer Frau umgehen. Das darfst du nicht auf dir sitzen lassen.«

»Was soll ich denn machen?«

»Stell ihn zur Rede. Am besten auf neutralem Terrain. Vor dem Haus scheint er zu große Angst vor der Mutter zu haben.«

»Wozu noch? Besser, ich schlage ihn mir aus dem Kopf.«

»Damit er es mit der Nächsten genauso macht? Wo bleibt deine weibliche Solidarität?«

»Ich wusste gar nicht, dass in dir eine heimliche Feministin schlummert«, sagte Janet mit müdem Lächeln.

»Ich bin gewiss keine Feministin, aber diesen Kerlen muss man tüchtig die Meinung sagen, sonst machen die immer so weiter. Soll ich ihn mir vorknöpfen?«

»Nein, das ist meine Sache, aber danke für das Angebot.«

Die Gelegenheit kam für Janet schneller als erwartet. Als sie drei Tage später aus Hunters Butchers kam, sah sie Percy die High Street entlang spazieren. Er hatte eine neue Frisur – seine Locken lagen jetzt in Wellen an seinem Kopf, und er trug einen Dreitagebart, aber es war unzweifelhaft Percy.

»Gut, dass ich dich treffe. Ich möchte eine Erklärung von dir haben.«

Janet erhielt keine Antwort, nur ein spöttisches Grinsen.

»Vielleicht lassen sich andere Frauen dein Benehmen gefallen, ich aber nicht.«

»Sorry, meinen Sie wirklich mich?«, sagte der Mann und nahm seine Sonnenbrille ab. Dabei fiel Janet auf, dass er stechend blaue Augen hatte, während Percys braun waren.

»Oh, es tut mir leid, aber Sie sehen jemandem zum Verwechseln ähnlich …«

»Dann müssen Sie Janet sein. Ich heiße Yve und bin der Bruder von Percy.«

»Yves wie Yves Montand, der französische Schauspieler?«

»Ja, aber ohne „S“.«

»Ach, ich dachte, das ist die weibliche Form …«

»Ja, aber es gibt auch Ausnahmen.« Yve lächelte breit und entblößte dabei sein makelloses Gebiss.

»Selbst die Zähne sind gleich«, meinte Janet immer noch irritiert. »Das gibt’s doch nicht, dass sich Brüder so ähnlich sehen …«

»Wenn Sie mit mir einen Kaffee trinken, verrate ich Ihnen das Geheimnis.«

»Schon überredet. Ich platze vor Neugier.«

Yve steuerte dann nicht das Cafe 98 in unmittelbarer Nachbarschaft des Fleischers an, sondern das Reminisce Cafe. Das passt ja, dachte Janet, denn to reminisce bedeutete sich in Erinnerungen ergehen.

»So, so, mein Brüderchen hat Sie also schlecht behandelt. Das sieht ihm ähnlich«, sagte Yve, als sie an einem Tisch Platz genommen hatten.

»Schlecht ist gar kein Ausdruck. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Mann mich jemals so verletzt hat. Liegt das bei Ihnen in der Familie?«

»Ich glaube, ich bin immer sehr höflich zu Frauen, wenn sie mich auch nicht sonderlich interessieren.«

»Oh, Sie mögen Männer lieber?«

»Das wollte ich damit nicht sagen. Meine Leidenschaft sind die Vögel. Für Percy trifft hingegen eher das Verb zu, wenn Sie die frivole Ausdrucksweise verzeihen.«

»Den Eindruck hat er überhaupt nicht auf mich gemacht. Er hat sich wie ein Gentleman benommen, bis …«

»Ja, das ist seine Masche. Er kann sich gut seinem Gegenüber anpassen. Und dass Sie eine Lady sind, steht außer Zweifel.«

»Danke für die Blumen. Sie scheinen nicht viel von Ihrem Bruder zu halten …«

»Das stimmt, er ist mir mitunter regelrecht zuwider, denn ich kenne auch seine dunklen Seiten.«

»Leben Sie zu dritt in dem Haus, Mr. Sutherland?«

»Um Himmels willen. Ich bin froh, aus den Krallen meiner Mutter entkommen zu sein, ich brauche meinen Freiraum. Ich habe mir stattdessen tierische Krallen angeschafft, denn ich lebe mit einem Steinadler auf einem kleinen Gehöft. Wissen Sie. Wie schön diese Tiere sind?«

Janet schüttelte den Kopf. »Ich kenne mich mit Vö …diesen Tieren nicht aus.«

»Oh, obwohl er gezähmt ist, umgibt ihn immer noch so etwas wie ein Geheimnis, etwas Gefährliches. Wir haben einige Gemeinsamkeiten. Auch ihm liegt die Unmittelbarkeit fern. Er fasst nur schwer Vertrauen und enthält sich jeder Sicherheit, nach der das Gemüt oft strebt. Und wir haben beide eine Sehnsucht, die geradezu himmelstürmend ist. Ein Verlangen nach Halt und Bindung und gleichzeitig die Abscheu vor dem Erdenschweren, Erdhaften. Ich glaube nicht, dass ich dazu fähig bin, einen einzelnen Menschen zu lieben, eher die Menschheit im Allgemeinen. Gleichzeitig lehne ich die Menschen ab, wegen des unsagbaren Leids, dass sie über ihresgleichen und die Welt bringen. Selbst Kinder sind schon Qualen und Unrecht ausgesetzt.« Yve hielt erschrocken inne. »Können Sie noch folgen?«

»Doch, ja, Ihre Ausführungen sind sehr interessant.«

»Wissen Sie, ich bin sonst der schweigsame, intellektuelle Typ. Ich glaube, so viel habe ich schon länger nicht geredet. Was ich an Percy mag, ist seine geradezu wollüstige Triebhaftigkeit und seine Sehnsucht nach einer ozeanischen Weite. Velle gestattet sich all das nicht, aus Angst, es könnte ihn beherrschen. Ein Wunder, dass er nicht in ein Kloster gegangen oder Pfarrer geworden ist.«

»Was denn, es gibt noch einen dritten Bruder, der Wal heißt?«, fragte Janet entgeistert. »Sagen Sie bloß, er sieht auch wie Sie beide aus.«

»In der Tat. Mit leichten Abweichungen. Das ist nämlich das versprochene Geheimnis. Wir sind Drillinge. Das kommt in unserer Gegend nicht oft vor, aber wir bilden uns nichts darauf ein. Velle ist Religionslehrer an der Forgandenny Primary School. Auch er lebt allein. Und ich möchte nicht so genau wissen, was er treibt. Womöglich geißelt er sich mit Dornenruten, oder Schlimmeres.«

»Warum hat mir Percy das verschwiegen? Ich meine nicht die von Ihnen vermuteten Gelüste Ihres zweiten Bruders, sondern dass es noch zwei Brüder gibt, und Sie sogar Drillinge sind.«

»Keine Ahnung. Vielleicht war ihm das zu intim. Da wir räumlich getrennt leben, war es eher unwahrscheinlich, dass sie uns beiden anderen begegnen.«

»Seltsam, Percy habe ich unter ebensolchen Umständen kennengelernt wie Sie.«

»Das Leben geht oft eigenartige Wege. Aber viel hat es Ihnen ja nun nicht gebracht, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«

»Ja, scheint so. Trotzdem bin ich froh, Sie getroffen zu haben.«

»Ganz meinerseits. Auch wenn es so schnell nicht wieder vorkommen wird.«

Leslee machte große Augen, als Janet von ihrer Begegnung berichtete. »Jetzt wird mir so Manches klar«, sagte sie hintergründig.

»Wie meinst das?«

»Na, schon bei Zwillingen sagt man oft, dass einer allein nicht so blöd sein kann. Was das für Drillinge bedeutet, muss ich wohl nicht näher erläutern.«

»Du bist unmöglich. Außerdem bringst du da etwas durcheinander, glaube ich. Der Spruch bezieht sich auf das Sternzeichen, und nicht auf Geschwister.«

»Egal, bei den Sutherland-Brüdern scheint er sich zu bewahrheiten.«

»Dieser Yve könnte schon einen leichten Sprung in der Schüssel haben, wer hält sich schon einen Adler als Haustier? Aber über diesen Wal möchte ich mir kein Urteil erlauben, bevor ich ihn nicht getroffen habe. Ich meine, als Religionslehrer, der mit Kindern zu tun hat …«

»Gerade die, das ist so ähnlich wie mit den Therapeuten, die selbst eine Therapie nötig haben. Den Kindern predigt er womöglich heile Welt und Keuschheit, aber in ihm gärt es nur so vor aufgestauter Leidenschaft. Da könnte dieser Yve schon Recht haben, vielleicht peitscht sich sein Bruder nachts im Kämmerlein wirklich selber aus. Der kennt ihn schließlich besser.«

Janet lachte herzhaft. »Du und deine Fantasie. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, wo sich Mönche und Nonnen in ihren Zellen gegeißelt haben. Vielleicht ist dieser Wal ein ganz moderner junger Mann, und sein Theologiestudium hat ihm dabei geholfen, jungen Menschen etwas weiterzugeben, sie auf den Weg zu bringen. Deshalb muss er doch nicht sexuell verklemmt sein.«

»Hm«, machte Leslee. »Die Alte würde mich viel mehr interessieren. Zwei ihrer Söhne haben das Weite gesucht, und nur einer ist geblieben. Der muss jetzt all das aushalten, was sich sonst durch drei geteilt hätte. Ich kenne diese Art von Frauen. Sie sind die Güte in Person und bemuttern ihre Kinder bis zum Exzess. Auf der anderen Seite sind sie despotisch und unbeugsam. Wehe, jemand ist anderer Meinung als sie. Dann kriegen sie auf Bestellung Herzanfälle oder Migräne, damit der Sohn ein schlechtes Gewissen bekommt. Ein wahrer Teufelskreis von Abhängigkeit, Liebe und Hass.«

»Wenn du meinst, du Hobbypsychologin.«

»Sag mal, und du hast wirklich zuerst geglaubt, Percy stünde vor dir? So ähnlich sind sie sich?«

»Ja, bis auf die Augenfarbe und die unterschiedliche Frisur, aber sonst …«

»Davon würde ich mich gerne selber überzeugen. Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend die Räder schnappen und dem Hof einen kleinen Besuch abstatten?«

»Ich lasse Mitch ungern allein.«

»Er ist doch kein Baby mehr. Wir warten, bis er eingeschlafen ist.«

»Und was soll das bringen? Ich weiß doch gar nicht, wo dieser Yve wohnt.«

»Dann lass uns zu der Alten fahren. Vielleicht hat sie gerade Besuch von ihm, wo er doch schon in Kinross war ...«

Gesagt, getan, als Mitch tief und fest schlief, fuhren Janet und Leslee zum Anwesen der Sutherlands. Kurz davor bekam Janet sprichwörtlich kalte Füße, wurde immer langsamer und hielt schließlich an.

»Was ist, kannst du nicht mehr?«, fragte Leslee.

»Ich habe so ein komisches Gefühl. Was machen wir, wenn Percy uns entdeckt? Er hat gesagt, ich soll nie wieder kommen. Nicht dass er noch rabiat wird.«

»Und mit so einem Mann wolltest du deine Zukunft verbringen.«

»Da kannte ich ihn noch nicht von seiner anderen Seite.«

»Sei froh, dass du es rechtzeitig gemerkt hast. Die Sache ist ganz einfach. Mir hat er ja schließlich nicht das Haus verboten. Und falls er uns wirklich entdeckt, werde ich die Gelegenheit nutzen, um ihm mal tüchtig die Meinung zu sagen.«

»Ich weiß nicht …«

»Aber ich, los komm!«

Vor dem Grundstück der Sutherlands verbargen die beiden Frauen ihre Räder im Gebüsch und schlichen vorsichtig zum Haus. In der Küche brannte Licht, und man sah eine etwas korpulente Frau geschäftig hin und her laufen. Am Küchentisch saß Yve, wie Janet auf den ersten Blick erkannte.

»Siehst du, da ist dieser Yve«, flüsterte Janet, »dass Percy nicht zu sehen ist, halte ich für kein gutes Zeichen. Wir sollten lieber gehen.«

»Jetzt mach dich nicht nass. Wir gehen wie besprochen vor.« Leslee brannte vor Abenteuerlust und ließ sich nicht abhalten. Sie gab ihre Deckung auf und lugte über das Fensterbrett. »Den könnte man wirklich mit Percy verwechseln«, sagte sie leise. »Ich verstehe deine Irritation. Hoffentlich hat er seinen Adler nicht irgendwo geparkt.«

»Hör auf, ich bin schon froh, dass es keinen Hofhund gibt. Was machen Sie jetzt?«

»Die Alte bückt sich gerade zu ihm herunter und fummelt ihm im Gesicht herum. Das passt ihm gar nicht. Er wehrt sie ständig ab.«

»Wenn Percy nicht dabei ist, schleicht er vielleicht hier draußen herum.«

»Dann werden wir unseren ganzen Charme aufbieten und ihm das Händchen schütteln. Nein, Quatsch. Du hast doch gesagt, dass die Brüder sich nicht besonders mögen. Also wird Percy auf seinem Zimmer sein, während seine Mutter Yve bemuttert.«

»Du hast ihn jetzt gesehen, somit gibt es keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Also, ich gehe jetzt!«

Leslee zeigte einen genervten Gesichtsausdruck. »Der einzige Grund, warum ich nicht bleibe, ist, dass man durch das Fenster ohnehin nicht hören kann, was drinnen gesprochen wird.«

Sie gingen langsam zu ihren Rädern zurück, und Janet hakte sich bei Leslee ein. »Sag mir, was du denkst!«, meinte sie.

»Aus der Ferne betrachtet hätte ich gesagt, es handelt sich um denselben Mann, der sich nur etwas anders frisiert hat, aber du hast ihm ja gegenübergestanden.«

»Ich sage doch, er hatte stechend blaue Augen, während Percys tiefbraun sind. Die Stimme war zwar so ähnlich, hatte aber ein anderes Timbre. Nein, es müssen wirklich Brüder sein.«

»Hm«, machte Leslee erneut und schwieg sich für den Rest des Weges aus.

Etwa vierundvierzig Kilometer von Kinross entfernt lag Leith, ein Vorort von Edinburgh, in dessen Hafen man die ehemalige Königliche Yacht Britannia bewundern konnte. Leith hatte, außer dem Castle, lauten Pubs, schicken Bars am Wasser und einem scheinbar ständig wehenden, scharfen Wind, nicht viel zu bieten. Ein unscheinbares Städtchen, in dem man die Leute, die einen harten Akzent sprachen, als bodenständig bezeichnen konnte und die mit dem Castle im Allgemeinen nicht viel anfangen konnten. Außer der Waterfront und eher nichtssagenden Straßen, gab es etwas, das man nicht einmal in Edinburgh finden konnte – einen Straßenstrich.

An diesem späten Abend waren kaum Männer zu Fuß unterwegs, da es leicht nieselte. Zusammen mit dem Wind war das sehr unangenehm. Deshalb sah man auch ungewöhnlich wenige „Damen“, die sehr verstreut herumstanden und sich sogleich auf jeden haltenden Pkw stürzten.

Maira Chisholm, ein blutjunges Ding, das anschaffen ging, um ihre Drogen zu finanzieren, war meistens abgewiesen worden, weil sie einen Lippenherpes aufwies, der kaum zu übersehen war. Den Schatten, dem man kein Geschlecht zuordnen konnte, schien das nicht zu stören. Geduldig lauerte er im Schutz einer dunklen Einfahrt auf eine günstige Gelegenheit. Die kam, als Maira mutterseelenallein dastand.

»Wie alt bist du?«, fragte eine Stimme, von der man unmöglich sagen konnte, ob sie weiblich oder männlich war.

Maira antwortete nicht.

»Noch liegt es in deiner Hand, deinem Leben einen Sinn zu geben. Also solltest du gleich damit anfangen.«

»Sagt wer? Und was soll die Maskerade? Nimm erst mal deine Kapuze ab, damit ich dein Gesicht sehen kann, wenn du mich anquatschst. Ich bin durchaus in der Lage, mir meine Freier auszusuchen«, bluffte Maira, »und wenn ich einen schlauen Spruch hören will, gehe ich in die Kirche.«

»Du hattest deine Chance«, schnarrte die Stimme und durchtrennte Mairas Kehle mit einem einzigen Schnitt des scharfen Rasiermessers, das wie aus dem Nichts auftauchte. Was von dem Mädchen übrig blieb, hatte nicht mehr viel Menschliches, als der Schatten ebenso lautlos verschwand wie er gekommen war.

Am nächsten Tag berichteten der Perthshire Advertiser und die Edinburgh Evening News von dem grausamen Mord an einer minderjährigen Prostituierten in Leith. Ganz in der Manier eines Jack the Ripper war die Leiche schrecklich verstümmelt und nahezu ausgeweidet. Der Täter musste mit unvorstellbarer Kaltblütigkeit aus großem Hass vorgegangen sein. So etwas war in dem Edinburgher Vorort noch nicht vorgekommen. Und wieder wurden Stimmen laut, dem unmoralischen Treiben in dem Städtchen endlich ein Ende zu machen. Der Straßenstrich in der Nähe des Hafens wäre geradezu prädestiniert, allerlei mörderisches Gesindel anzuziehen, hieß es. Eine Forderung, die auch ohne Mord bisher kein Gehör gefunden hatte, und daran sollte sich auch so bald nichts ändern.

Im Schatten der Hexe

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