Читать книгу Verschwundene Reiche - Norman Davies - Страница 19

I

Оглавление

Bornholm, die »Perle der Ostsee«, ist eine kleine, abgelegene dänische Insel mitten im Meer. Sie liegt rund 200 Kilometer östlich vom dänischen Festland und auf halbem Weg zwischen Schweden und Polen. Ihre Fläche umfasst 588 Quadratkilometer – damit ist sie ungefähr so groß wie die Isle of Man oder Malta; die Bevölkerungszahl, die langsam zurückgeht, beläuft sich auf 41.300 (2012). Die Insel bildet eine eigene Verwaltungseinheit und lebt von Fischerei, Landwirtschaft und Bergbau und im Sommer vom Tourismus. Zu ihren bedeutendsten Exportgütern gehören Granit, Backsteine und Heringe.1

Nach Bornholm gelangt man gewöhnlich mit der Fähre, die dreieinhalb Stunden vom deutschen Hafen Sassnitz braucht, sechs Stunden von Kopenhagen und sechseinhalb vom polnischen Świnousjście; von Ystad in Schweden dauert die Überfahrt mit dem Tragflügelboot zwei Stunden. In der Hauptstadt Rønne gibt es einen Flugplatz, der von SAS Scandinavian und von der lokalen Fluggesellschaft Cimber Air angeflogen wird und bis April 2010 auch von »Wings of Bomholm«.2

Landschaftlich ist die Insel sehr abwechslungsreich. Das Inselinnere ist geprägt durch üppige Wiesen und dunkle Wälder. Einige Strände sind sandig, andere werden von steilen, vulkanischen Klippen gesäumt. Viele, wie der besonders beliebte Dueodde-Strand, sind von feinem, weißem Sand bedeckt. Es gibt mehrere kleine Städte, wie Rønne, Nexo, Allinge, Gudhjem und Svaneke. Die höchste Erhebung erreicht eine Höhe von 162 Metern. Das bedeutendste Merkmal Bornholms sind jedoch die langen Sommertage, die zwanzig Stunden Sonnenschein, Wärme und frische Ostseeluft bieten. Das milde, sonnige Klima ist dem Gartenbau und dem Obstanbau sehr zuträglich, und in geschützten Lagen gibt es blühende Sträucher und Feigenbäume.

Die Bewohner sprechen eine eigene Sprache, Bornholmsk, die sich gleichermaßen vom Dänischen wie vom Schwedischen unterscheidet; mit ihren grammatikalischen Besonderheiten wie dem dreifachen Geschlecht ähnelt sie mehr dem Norwegischen oder dem Isländischen, phonetisch gleicht sie dem schonischen Dialekt, der in Südschweden gesprochen wird.3

Eine Organisation namens »Bevar Bornholmsk« widmet sich der Erhaltung der Sprache, und es gibt mehrere erfolgreiche Musikgruppen, die die traditionelle Musik der Insel pflegen.4 Dänen, die aus Kopenhagen zu Besuch kommen, sieht man häufig mit einem Bornholmsk-Wörterbuch unter dem Arm. In der Medizin ist der Name Bomholm mit der Bornholmkrankheit verbunden, einer Virusinfektion, die hier 1933 erstmals dokumentiert wurde.5

Nichtsdestotrotz wird in der Tourismuswerbung dieses »Paradies für die Seele« gepriesen, wo man allen Arten von Aktivitäten im Freien nachgehen kann. In den Werbebroschüren ist die Rede von der Østersøens Perle (»Perle der Ostsee«), von Solopgangens Land (»Land des Sonnenaufgangs«), von maleriske fiskelejer (»stillen Fischerdörfchen«), von Pelle Eroberen (»Pelle der Eroberer« – Titel eines populären Romans6) und natürlich von Velkommen til Bornholm. Radfahren, Golfspielen, Angeln, Strandspaziergänge unternehmen, Windsurfen und ein Besuch in einem der Naturparks werden wärmstens empfohlen. Es gibt eine Greifvogel-Show und einen Schmetterlingspark und an den langen Juni-Tagen Veranstaltungen für Kletterer sowie für die Anhänger der neuen Sportart Ultramarathon.7 Jedes Jahr findet in der Hafenstadt Tejn das Trolling Masters Bornholm statt, ein Schleppangel-Wettbewerb mit Schnellbooten.8 Da Nacktbaden überall in Dänemark erlaubt ist, bietet Bornholm auch FKK-Anhängern eine Fülle von Angeboten.9 Das Gebiet westlich des Leuchtturms am Dueodde-Strand ist seit Langem ein beliebtes Touristenziel. Bornholm preist sich auch als »Grüne Insel« an. Rund 30 Prozent des Strombedarfs der Insel werden bereits durch Windkraftanlagen erzeugt, und bis 2011 sollten alle benzinbetriebenen Autos durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden.10

Urlauber werden ermuntert, sich mit Bornholms Geschichte zu beschäftigen oder zumindest mit Teilen davon. Zu den Themen, über die nicht viel gesprochen wird, gehören die Weigerung der sowjetischen Roten Armee, die Insel nach der Befreiung 1945 wieder zu verlassen, sowie die Abhörstationen, die im Kalten Krieg von der NATO auf Bornholm eingerichtet wurden. Die größte Aufmerksamkeit richtet sich heutzutage auf die rätselhaften »Rundkirchen«, die die Tempelritter Ende des Mittelalters hier errichteten,11 und auf die Patrioten, die Mitte des 17. Jahrhunderts die Freiheit der Insel gegen die Schweden zu behaupten versuchten. Viele Besucher besichtigen die eindrucksvollen, auf den Klippen gelegenen Ruinen der Burg Hammershus, der größten Festung in Nordeuropa, die der dänische König Waldemar der Siegreiche Anfang des 13. Jahrhunderts erbauen ließ und von der aus man einen atemberaubenden Blick über das Meer nach Schweden hat. Hier wird alljährlich ein Ritterturnier abgehalten, doch schon allein der Ausblick ist Grund genug, den Ort zu besuchen. An klaren Sommermorgen erzeugt das schimmernde Licht, das auf den Wellen unter den Mauern liegt, magische Momente. Zeit und Raum verschwimmen, die Fantasie bekommt Flügel. Von oben herab, vom »Heute« der Klippenspitze aus betrachtet, wird der Fuß der Klippe zum »Gestern«, die anlandenden Wellen des Meeres verkörpern die Jahrhunderte der Geschichte, und das gegenüberliegende Ufer, das kaum zu sehen ist, wird zur Zeit der Völkerwanderung.


Dennoch ist es lohnend, sich mit der frühesten Geschichte Bornholms zu befassen. Einheimische Archäologen haben herausgefunden, dass die Abfolge der prähistorischen Gräber irgendwann plötzlich ihr Ende fand, was die Vermutung nahe legt, dass die Bewohner entweder durch eine Naturkatastrophe oder eine Seuche ausgelöscht wurden oder massenhaft ausgewandert sind. In diesem Zusammenhang ist die alte nordische Form des Namens der Insel von Bedeutung: Burgundarholm. Der Westsachsenkönig Alfred der Große nannte sie in seiner Übersetzung der Werke des Historikers Orosius Burgenda-Land.

Bei der Suche nach den Ursprüngen eines Volkes muss diesem nicht notwendigerweise ein bestimmtes Herkunftsland zugewiesen werden. Primitive Stämme waren mobil; sie waren alle in gewissem Maße Wanderer oder Nomaden. Selbst jene, die Landwirtschaft betrieben, hielten sich oft nur eine Saison an einem Ort auf, dann zogen sie weiter. Diese Saison konnte ein paar Sommer dauern, ein paar Generationen oder auch ein paar Jahrhunderte. Sie fand ihr Ende, wenn das bebaubare Land erschöpft war, wenn sich das Klima änderte oder wenn ein anderer, kriegerischer Stamm auftauchte und sie vertrieb. Dass Bornholm mit den prähistorischen Wanderungen der Burgunder in Zusammenhang gebracht wird, ist daher durchaus glaubhaft; es ist nicht bewiesen, aber mehr als eine bloße Möglichkeit. Es bedeutet aber auch nicht, dass Bornholm der einzige bedeutende Aufenthaltsort der Burgunder gewesen wäre oder dass nicht auch andere Völker auf dieser Insel Station gemacht hätten. Doch die Burgunder müssen lange und in großer Zahl hier gelebt haben, so dass die frühen Geografen diese Verbindung herstellen konnten.12

Es wäre jedoch müßig anzunehmen, dass sich durchschnittliche Besucher der Insel über dieses Thema Gedanken machen. Nur historisch Interessierte verfolgen die geschichtliche Entwicklung einer Insel, die zwischen den verschiedenen Mächten im Ostseeraum umkämpft war. Die Dänen haben im Hinblick auf die Vergangenheit eigene Prioritäten: Sie träumen von den Eroberungen der Wikinger und erinnern sich an die noch nicht allzu lange zurückliegende Zeit, als die Küste jenseits von Bornholm, die heute schwedisch ist, noch zu Dänemark gehörte. Einige der Ereignisse in der viel gerühmten nordischen Jomsvikingesaga, in der die Kriege zwischen den Wikingern und den Slawen geschildert werden, fanden auf der Insel statt. Die überlieferte Geschichte Bornholms, so heißt es in den Lehrbüchern, begann zu der Zeit, als die Insel zu den Besitztümern der mittelalterlichen Bischöfe von Lund gehörte. Im Jahr 1523 wurde die Insel von Dänemark erobert, später an die Stadt Lübeck verpfändet und von den Dänen wieder ausgelöst. Bis 1648 stand sie unter schwedischer Besatzung, 1716 stattete ihr der russische Zar Peter der Große einen Besuch ab, von 1940 bis 1945 war sie von deutschen Truppen besetzt und am Ende des Krieges wurde sie von der Roten Armee befreit.13 Die unbeschwerten Touristen hingegen, die bestenfalls einige Bruchstücke dieser Geschichte kennen, paddeln auf dem Meer oder entledigen sich ihrer Kleider, unternehmen Fahrradtouren auf der Insel, lassen Drachen steigen und kreuzen mit ihren Segelbooten vor der Küste.

Im Dezember 2010 brach ein besonders heftiger Schneesturm über die Insel herein, der große Teile Nordeuropas heimsuchte. Bornholm wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Das Dänische Meteorologische Institut maß auf der gesamten Insel im Minimum Schneemengen von 146 Zentimetern, in einigen Teilen türmten sich sogar bis zu sechs Meter hohe Schneewehen. Nachdem die Bewohner eine Woche lang vergeblich der Schneemassen Herr zu werden versucht hatten, riefen sie um Hilfe. Es mussten Militärfahrzeuge eingesetzt werden, um die Versorgung sicherzustellen und die Berge von Schnee ins Meer zu kippen.14 Doch abgesehen von der Nachricht, dass dies der kälteste Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1874 war, hatten die Bewohner keine Zeit, sich Gedanken über die Geschichte ihrer Insel zu machen.

Verschwundene Reiche

Подняться наверх