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Terra Aluvis

I

Nox Laurentius Murawski

alias Van Syl Production

2. Auflage

Copyright: © 2015 Nox Laurentius Murawski

alias Van Syl Production

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-0198-9


Legende:

1 – Eksaph

2 – die Prinzresidenz

3 – Tyurin

4 – Rafalgar

5 – Breys Pferdehof

6 – Kanfar

Schatten ferner Zeiten

Sie weinen …

Nur der Mond lauscht den Tränen jener

Die zwischen Leben und Tod wanken

~Prolog~

"Mein Freund,

Die Welt hat sich gewandelt …

Die Menschen, die sie bevölkern, sind in Angst und Schrecken versetzt, während ihre Zahl auf unerklärliche Art und Weise von Nacht zu Nacht schrumpft. Sie verschwinden einfach und kehren nicht zurück.

Die Jeremiaden der Verbliebenen gelten den Tieren, denen sie die Schuld geben. Als Opfer außer Kontrolle geratener Verzweiflung werden sie erbarmungslos gejagt und ihres Lebens beraubt. Die Wölfe als 'Inkarnation des Bösen' seien die Ursache von allem, was geschehen ist.

Mit dieser Illusion haben die Menschen Schilde um ihre Städte errichtet, um sich vor jeglichen Tieren abzuschotten …

– Nur mit dem kleinen Fehler, dass ihr Feind kein Tier ist."

(Alran der Weise)

~1~

Die Nebelschleier hingen schwer vor dem Antlitz des Himmels und erlaubten ihm nicht, sein Sternenlicht zur Erde zu tragen. Kein Wind regte sich in dieser Nacht, ja, die Luft schien fast zu stehen, wenngleich einem die Kälte im Tal des Eksaph einen Schauer nach dem anderen über den Rücken zu jagen vermochte.

Die kleine Siedlung, welche zu jener Nacht nicht mehr als hundert Seelen zählte, war ungewöhnlich weit abseits von der Hauptstadt der Menschen Hymaetica Aluvis gelegen; denn Hymaetica befand sich an der Küste zum Ozean der Träume, um welche sich die anderen Dörfer und Städte angesiedelt hatten. Eksaph hingegen lag tief in der Wildnis des Gebirges des Grauens verborgen und war nur sehr schwer zu erreichen. Und doch hatte diese Kleinstadt, wie alle größeren Menschensiedlungen, diesen einen kleinen Schutz: die Schilde der Wissenden – so unbedeutend, so wertlos gegen das, wogegen sie sich zu schützen erhofften …

Während dieser mondlosen Nacht inmitten dieser verlorenen Berggegend, ja, ausgerechnet zu diesem abgelegenen Ort – geprägt durch einsame Adler, deren verzweifelter Ruf von den kahlen Gipfeln widerhallte – waren sie gekommen.

Sie, denen die verfluchten Schatten gehorchten. Sie, die sich zu Herren über das Schicksal gemacht hatten. Sie, welche die Verdammnis mit sich brachten.

Celine blickte gedankenverloren an die dunkle Decke ihrer Kammer. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lewyn gegen das Licht der Sonne vom Pferd zu ihr herab lächeln. Dabei erklärte er ihr, dass er einen Brief an den Prinzen zu überbringen hatte und in einer Woche zurückkehren würde. In einer Woche also …

Danach war der junge Mann zügig auf seinem Pferd davon­geritten und zu einer verschwommenen Silhouette am Horizont geworden – auf dem Weg zu Sacris Faryen, dem Prinzen der Menschen und zugleich Lewyns und Celines bestem Freund.

Das Mädchen musste unweigerlich schmunzeln, als sie sich daran entsann, wie sie alle noch vor wenigen Jahren zu dritt herumgetollt hatten … Ach, es waren schöne Erinnerungen …! Voll Leichtigkeit und Unbefangenheit …

Seitdem Celine im Alter von neun Jahren von Lewyns Eltern aufgenommen worden war, hatte sie viel Zeit mit den beiden verbracht, obwohl jeder letztlich seinen ganz eigenen Weg gegangen war. Sie selbst setzte die Tätigkeit ihrer verstor­­benen Mutter als Heilkundige des Dorfes fort, half den Menschen, wo sie nur konnte, und fand darin ihre Erfüllung. Sacris dagegen wurde in der Hauptstadt Hymaetica gelehrt, eines Tages als König das Reich der Menschen zu regieren. Und Lewyn lebte als Knappe an der Seite eines großen Kriegsveteranen – und zugleich Sacris' Schwertlehrers – und reiste im Reich umher, um die Aufträge seines Herrn auszuführen. Kurz: eine Medica, ein Kronprinz und ein Knappe …

Die jungen Männer waren für Celine immer wie Brüder gewesen und hatten sich stets um sie gekümmert. In der vergangenen Zeit hatten sie sich allerdings seltener gesehen – zu eingenommen war ein jeder von seinem Leben gewesen. Doch hatte Celine sich nie allein gefühlt; denn die Bewohner Eksaphs liebten und respek­tierten sie für das, was sie tat, und waren dankbar für ihre Hilfe und Mühe. Vielen von ihnen hatte sie bereits das Leben gerettet und würde gewisslich noch vielen weiteren Menschen das Leben retten.

Die junge Frau lächelte zufrieden. Sie hatte wirklich keinen Grund, sich zu beschweren. Es ging ihr gut, wirklich gut … Sie kuschelte sich in die weichen Kissen ihres Bettes, schloss glücklich die Augen und verfiel bereits nach kürzester Zeit in einen tiefen Schlummer …

Im Traum erschien Celine dann jedoch eine eigenartige, fremde Gestalt: eine junge Frau. Sie war zierlich gebaut und besaß ein prächtiges, weißes Kleid, das dennoch zerschlissen wirkte. Ihre blassen Wangen waren von bitteren Tränen benetzt, während ihr langes, seidig hellblondes Haar vom Wind in alle Richtungen geweht wurde. Leises Schluchzen ließ ihre Schultern beben und sie legte sich die fahlen Hände voll Kummer ins Gesicht.

Celine sah sie sprachlos an. "Mutter …", kam es über ihre Lippen, doch klang ihre Stimme viel zu hell, viel zu hoch – eine Stimme, die sie, wenn überhaupt, dann wohl vor vielen Jahren gehabt haben musste. Die Gestalt wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, ehe der Wind drehte und dafür sorgte, dass das lange Haar das halbe Gesicht verdeckte. Die schlanke Frau wurde plötzlich ganz ruhig, hob ihren Kopf zu Celine hin und hauchte: "Es tut mir so leid …"

Das Mädchen begriff nicht. Sie setzte zu einer Frage an, nur wollten sich ihre Lippen nicht öffnen! So wandte sich ihr Gegenüber langsam ab und schritt davon. "… tut mir leid …", drang es noch leiser als zuvor an ihre Ohren.

Celine wollte der Frau folgen, zu ihr aufschließen, sie fragen, wovon sie sprach, sie fragen, was das zu bedeuten hatte! – aber ihr Leib gehorchte ihr nicht und fesselte sie an Ort und Stelle. "… so leid …", hallten die Worte wie ein Schatten in ihrem Geiste wider, während die Gestalt zum Licht ging, das kleine Mädchen verloren am Boden in der Dunkelheit zurücklassend …

– Celine schrak schwer atmend auf. Sie bekam kaum Luft und hatte das Gefühl, vergebens darum zu ringen. Also erhob sie sich von ihrem Bett, lief durch das dunkle Zimmer zum Fenster hin und riss es mit einem kräftigen Ruck auf. Ein mächtiger Windzug fuhr durch die Kammer und wirbelte den großen Stapel Karten vom Tisch herab, welcher sich unter dem Fenster befunden hatte. Celine bemerkte es aber nicht und schloss befreit die Augen, um die frische Luft in tiefen Zügen einzuatmen …

Doch bereits nach wenigen Momenten hatte sich die Brise völlig gelegt. Stattdessen kroch der Nebel der Nacht leise verhängnisvoll in das Zimmer hinein und legte sich als träge Woge in die Lungen des Mädchens. Celine drehte sich nun vom Fenster weg und sah die Karten auf dem Boden liegen. "Meine … Seherkarten …", kam es zögernd von ihr, während sie begann, diese langsam wieder aufzusammeln.

Celine besaß die seltene Gabe, in des Schicksals Fäden hineinspähen zu können. Sie wurde regelmäßig von Visionen und Träumen heimgesucht; ein Schicksalsblick skurriler als der andere. Die Seherkarten verhalfen ihr dazu, den Sinn jener fremdartigen Botschaften zu enträtseln – so hoffte sie zumindest.

Mit einem Mal hielt die junge Frau inne. Ihr starrer Blick war auf eine einzelne Karte gerichtet: die einzige, welche auf­gedeckt zu Boden gefallen war. Celine griff zögernd nach ihr, besah sich das abgebildete Motiv … und legte ihre Stirn in Falten. Was … hatte das zu bedeut- …?

Celine zuckte jäh zusammen, als sie ein kaum hörbares Rascheln vernahm – und ließ die aufgedeckte Seherkarte wieder auf das Holz zu ihren Füßen fallen. Sämtliche Kerzen erloschen mit einem kurzen Zischen, dass es plötzlich vollkommen düster im Zimmer war.

Totenstille.

Nervös lauschend richtete sich die junge Frau auf und strich sich ihr langes, rotbraunes Haar aus dem Gesicht. Sie fühlte sich unangenehm aufgewühlt und vor allem angespannt. Eine ungute Ahnung beschlich sie …

Da, wieder dieses Rascheln! Und da, da war es wieder! Wo kam es nur her? Mit huschendem Blick versuchte Celine, etwas in der unheilvollen Finsternis ihrer Wohnung zu erspähen, und ihre Hand klammerte sich verkrampft an die Tischecke, auf welcher sich der Kartenstapel befand. Dort, wieder ein Rascheln! Aber diesmal gleich mehrere! Und- …!

Ihre geweiteten Augen blieben an einem pechschwarzen Schattenumriss in der Mitte des Zimmers hängen, welcher immer größer und größer wurde. Nun erkannte das Mädchen eine menschliche Gestalt – und obwohl diese vollständig in einen schwarzen Talar gehüllt war, so spürte Celine dennoch ihre immer deutlicher werdende Ausstrahlung: eine Präsenz tiefster Dunkelheit, welche jede einzelne Zelle ihres Körpers alarmierend aufschreien ließ, sofort die Flucht zu ergreifen! Was war das nur für eine Furcht, die sie übermannte? Und warum konnte sie sich nicht rühren?!

Die junge Frau fühlte sich in einen Bann gezogen und war nicht in der Lage, ihren Blick von der immer näher kommenden Gestalt abzuwenden. Flach atmend wich sie zurück, bis sie das Fensterbrett im Rücken spürte. Wie aus weiter Ferne hörte Celine von der Straße hinter sich weiteres Rascheln. Eine Flucht war unmöglich. Und der vermummte Fremde im Raum vor ihr schloss ruhig und unaufhaltsam zu ihr auf und ließ sich damit alle Zeit der Welt – denn es gab kein Entrinnen.

Das war der Moment, wo Celine endgültig in Panik verfiel.

"W-was … was wollt ihr …?", kam es verzweifelt, fast wimmernd von ihr, "W-wer seid ihr …?" Der geheimnisvolle Gewandete verwehrte ihr jedoch jedwede Erklärung und blieb schweigend weniger als einen Schritt von ihr entfernt stehen. Keuchend fasste sich das Mädchen an die Brust, da sie plötzlich das er­stickende Gefühl hatte, als hätte sich eine Schlange um ihren Körper gewunden. "W-w- …" Ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. Mit aller Kraft stützte sich Celine auf dem Tisch und dem Fensterbrett zugleich ab, so fürchtete sie, dass ihre Beine ihr jeden Moment den Dienst versagen würden.

Ein Schmunzeln.

Celine zuckte zusammen. Was war das gerade unter der Kapuze gewesen? Ein unkontrolliertes Zittern fuhr durch ihren ganzen Leib und mit einem Mal fühlten sich ihre Gliedmaßen so an, als wären sie von tausend feinsten Nadeln durchdrungen. "W-w- …!" Das Mädchen schnappte verstört nach Luft und griff sich an den Hals. Ihre Kehle brannte wie loderndes Feuer. Sie spürte ihre Zunge nicht mehr! W-warum nur …?!

Das Schmunzeln wich einem Grinsen.

Der verhüllte Fremde ließ eine blasse Hand unter dem rabenschwarzen Gewand zum Vorschein kommen und hielt einen langen Zeigefinger an die Stirn der jungen Frau, berührte sie jedoch nicht. Ein heißer Wirbel begann, sich von ihrem Kopf aus in den Rest ihres Körpers auszubreiten, und die stechenden Nadeln wichen einer versengenden Hitzeglut. Celine erschauderte wie im Fieberwahn und wankte, ehe sie sämtliches Gefühl in ihren Gliedern verlor. 'Du wirst uns jetzt folgen', vernahm sie schleichendem Gift gleich wispernde Worte in ihrem Geist, welcher sich daraufhin in tödlichen Qualen wand und ihr einen Schmerzensschrei entlockte. Der Schrei verließ nie ihre Lippen.

***

"Welch herrliches Wetter, findest du nicht auch, Sacris?", rief Lewyn lachend und lief in die leuchtend grüne Wiese hinein, wobei seine Hände durch die hohen Grasspitzen kämmten. Sein hüftlanges, hellblondes Haar schillerte im ungetrübten Sonnenlicht, während seine saphirfarbenen Augen mit dem Himmel um das reinere Blau rangen. Ein beiges Schnürgewand umflatterte seinen schlanken Körper und fügte sich fließend in die Bewegungen des leichten Windes ein.

Sacris musste unwillkürlich lächeln, als er seinen Freund so munter sah. Ja, das machte ihn aus … Wenn Lewyn lachte, glich er selbst einer strahlenden Sonne, die ihre Umgebung mit ihrem warmen Licht erhellte. Der junge Mann strich sich eine Strähne seines dunklen, handlangen Haares aus dem Gesicht und schritt auf sein Gegenüber zu. Er selbst trug ein weißes, nur zur Hälfte zugeknöpftes Leinenhemd – wodurch ein einfacher Anhänger auf der Brust zum Vorschein kam – und eine bequeme, dunkelbraune Schnürhose. In der Nähe seines Freundes blieb der Prinz schließlich stehen, stemmte die Hände in die Seiten und blickte grinsend zum klaren Himmel hinauf. "Tja, wie könnte es denn auch anders sein, wo wir doch heute unseren Ausflug zu den Nayayami Wasserfällen machen werden?"

Bei der Erwähnung des Ausfluges wurde sein Gefährte von einer derart, ja, kindlichen Begeisterung ergriffen, worauf in diesem Moment vermutlich niemandem in den Sinn gekommen wäre, dass Lewyn bereits neunzehn Sommer zählte. "Und da sollten wir die Pferde auch nicht länger warten lassen …!", lachte der Blonde heiter und schlug dem dunkelhaarigen Mann verspielt gegen die kräftige Schulter, "Na los, brechen wir auf!" Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte fröhlich die Wiese zur Prinzresidenz zurück. "Und beeil dich, Sacris, sonst bist du wieder Letzter!" Jener schüttelte den Kopf und folgte seinem Gefährten lachend.

Die Prinzresidenz befand sich einen guten Tagesritt nördlich von Hymaetica jenseits der Gebirgsarme, die den Tical umgaben. Sie lag weithin abgegrenzt und eher unscheinbar in einer wunderbaren Seenlandschaft an der Grenze zu den Auen der Tausend Seen und den Bergen. So prunkvoll der Name auch klang, bezeichnete er jedoch nur ein verhältnismäßig schlichtes Haus, das auch nicht unbedingt mehr als das Nötigste zu bieten hatte: einen größeren Wohnraum mit einem Schlafplatz, eine Kochstelle mit einer kleinen Vorratskammer, etwas, das an ein Bad erinnern mochte, und eine kleine, private Bibliothek mit einem gemüt­lichen Kamin. In dieses Stübchen zog sich der Prinz zurück, wenn er seinen Studien nachgehen oder in Stille lesen wollte. Vom Bad pflegte Sacris in der Regel kaum Gebrauch zu machen, denn das Wasser der Seen war kristallklar und quellfrisch. Zusätzlich zu allem anderen hatte er sich eine Art Pavillon errichten lassen, welcher ihm eine wunderbare Möglichkeit bot, seine Gedanken zum Abend hin einfach nur schweifen zu lassen – so ganz am Ende einer schmalen Landzunge in den See hinein errichtet, mochte manch einer zuweilen meinen, ganz umringt von Wasser zu sein …

Somit glich die Prinzresidenz mehr einer Zuflucht vor dem Alltag denn etwas anderem. Lewyn hatte seinen Freund einst gefragt, warum sich jener als eigenen Wohnsitz etwas derart Bescheidenes ausgesucht hatte, wo er sich doch als Prinz hätte einen halben Palast erbauen lassen können …! Daraufhin hatte Sacris lediglich gelächelt und erklärt, er habe genau das gewählt, was für sein eigenes Gleichgewicht von Bedeutung gewesen wäre.

"Dieses Mal nehmen wir aber bitte wieder unseren normalen Weg", sagte der Blonde, während sie mit ge­schulterten Rucksäcken das Haus verließen. "Ach, was hast du denn gegen unsere letzte Route gehabt?", grinste der Prinz daraufhin und schloss die Holztür hinter ihnen, "War dir die große Felsbrücke etwa zu viel gewesen?" Da sah ihn Lewyn ernst und kopfschüttelnd an und meinte: "Ich habe nichts gegen Felsbrücken an sich; aber wenn sie mehrere hundert Schritt lang sind und über eine verflucht tiefe Schlucht führen, während in der Breite kaum Platz für zwei Pferde ist – dann ja!", und er setzte seinen Weg über die Wiese zu ihren weidenden Reittieren fort.

Sacris lachte und holte zu ihm auf. "Dadurch haben wir aber nun mal gut ein Fünftel an Weg gespart und waren so auch viel früher bei den Wasserfällen – abgesehen davon war die Aussicht von dort oben ja wohl wirklich genial!" Doch sein Freund schüttelte abermals heftig den Kopf und winkte dabei vernichtend mit einer Hand ab. "Oh, geh mir bloß weg mit deiner verdammten Aussicht!" Und er ahmte plötzlich die überaus begeisterte Stimme des Prinzen nach: "'Ach, komm schon Lewyn, die Aussicht dort ist bestimmt klasse! Lass uns dort hinüber reiten! Na komm schon, Lewyn! Du wirst es bestimmt nicht bereuen!'"

Sacris grinste daraufhin schelmisch, beugte sich seitlich zu seinem langhaarigen Gefährten hin und zog ihn mit singender Stimme auf: "Du hast doch einfach nur Hö~hen~angst, gib's zu~hu!" – "Tseh!", gab Lewyn prompt zur Antwort und wandte seinen Kopf dabei überheblich von ihm ab, "Ich bin lediglich überlebensorientiert. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich möchte gerne noch einige Jahre am Leben bleiben." Das Grinsen des Prinzen wurde breiter, als er beteuerte: "Aber ich weiß gar nicht, was du hast …! Es ist doch gar nichts passiert! Ich meine: Du lebst, ich lebe, Lydia lebt, Concurius lebt. Was willst du mehr?" Infolgedessen wandte sich ihm Lewyn gereizt zu und ergänzte bestimmt: "Aber meine Nerven leben danach nun mal nicht mehr!" – "Oooh, deine Nerven …!", wiederholte der dunkelhaarige Mann daraufhin übertrieben mitleidig und sah ihn aus großen, mit Wimpern klimpernden, dunkelbraunen Augen an. "Vergiss es!", schüttelte der Blonde entschlossen den Kopf, "Mich kriegst du dort nicht nochmal rüber!"

Da schlug Sacris spontan vor: "Nun, wir könnten dir auch einfach die Augen verbinden; dann siehst du den Abgrund nicht mehr. Lydia bringt dich vollkommen sicher hinüber, auch ohne deine Hilfe." – "Ja, davon bin ich überzeugt", murrte Lewyn missmutig und stapfte finster vor sich hin. Auf diese Reaktion hin fügte der Prinz mit einem provozierenden Grinsen hinzu: "Oder vielleicht gerade ohne deine Hilfe?" – "Oargh!", empörte sich der Blonde augenblicklich, verengte die Augen zu Schlitzen und fauchte ihn wild an, "Jetzt reicht's aber! Ich verbinde dir auch gleich deine Augen – und deine Arme und Beine noch dazu! – und werfe dich danach am besten hier in den See! Und dann werden wir ja sehen, wer ohne wessen Hilfe klarkommt!" Sacris lachte darauf nur und entgegnete: "Achja? Dazu müsstest du mich überhaupt erst einmal zu fassen kriegen!" Und er machte einen flinken Satz zur Seite, als Lewyn sogleich nach ihm griff.

Da ließen beide Männer plötzlich ihre Rucksäcke ins Gras fallen und lieferten sich eine erbitterte Verfolgungsjagd. "Ich kriege dich noch, du elender Idiot!", knurrte der Blonde, während sein dunkelhaariger Gefährte laut lachend vor ihm davonrannte. "Na los, komm doch! Komm doch!", rief Sacris neckend hinter sich, "Mensch, bist du langsam, Lewyn! Wirst du etwa schon alt?" Als sein Freund daraufhin abermals knurrte und einen Zahn zulegte, lachte der Prinz – einfach herrlich amüsiert! – noch lauter los und wurde ebenfalls schneller.

Sie hatten den Rand des Sees bei der Prinzresidenz erreicht und preschten nun durch das hohe Ufergras. Sacris blickte dabei immer wieder grinsend hinter sich und ließ seinen Gefährten ganz kontrolliert fast an sich herankommen, ehe er ihm erneut davonrannte – und ihm anschließend wiederholt eine vermeintliche Chance gab, ihn einzuholen.

"Argh, jetz- …!", begann Lewyn, rutschte dann aber unerwartet am schlammigen Boden aus, stolperte dadurch zur Seite ins Schilf weg und … landete geräuschvoll im tiefen See. Als der Blonde kurz darauf wieder gurgelnd an die Wasseroberfläche kam – und mit den Armen rudernd seine langen, nassen Haare nach hinten strich, um Luft zu bekommen – hockte der Prinz bereits am Ufer und sah ihn besorgt an. "Hey, Lewyn", fragte jener ernst nach, "Alles in Ord- …?" Da fühle Sacris jäh eine Hand an seinem Unterarm und fiel kurz darauf ebenfalls ins kalte Gewässer. Als er daraufhin auftauchte und das Wasser aus seinen Lungen heraus hustete, blickte ihn sein Freund mit einem triumphierenden Grinsen an. "Was-", doch dann stellte der dunkelhaarige Mann fest, dass er ihn an seinem Anhänger festhielt.

"Tja, 'gefangen', würde ich dann mal sagen", meinte Lewyn feixend und schwamm rückwärts weiter in den See hinein, während er seinen neuen Gefangenen mit der Rechten hinter sich herzog. Perplex schaute Sacris von der Hand an seiner Halskette zu seinem Freund auf und war auf einmal gezwungen, hinter ihm her zu schwimmen, weil der Zug an seinem Hals zu stark wurde. "Lewyn, ich … ich hoffe doch sehr, … dass deine 'Ich-ertränke-meinen-besten-Freund-im-See' – Aktion nicht ernst gemeint war …", gab der Prinz ein wenig beunruhigt von sich, während er ihm in die Tiefen des Gewässers hinaus folgte.

Der Blonde hatte sich halb von ihm weggedreht, um besser voranschwimmen zu können, und lachte nun betont bösartig auf. "Nyahaha, das ist dein Ende, Freundchen! Gleich wirst du geknebelt, gefoltert, ertränkt und an die Fische verfüttert! Und dasselbe tue ich mit Concurius und Lydia – damit mich niemals je wieder jemand über diese verdammte Felsbrücke schleifen kann!"

"Ach, und dann auch noch unsere armen Pferde?", klagte Sacris wehleidig und verdrehte die Augen, "Die haben dir nun wahrlich nichts getan!" Dann seufzte er jedoch auf einmal leise und meinte resigniert: "Tja, weißt du, wenn nur ich allein davon betroffen wäre, wäre das ja was ganz Anderes – doch unter diesen Umständen …", und er packte mit einem Mal das Handgelenk seines Freundes, drehte es dabei routiniert herum, bis jener seinen Anhänger loslassen musste, und zog Lewyn selbst danach entschieden zu sich her, "… lässt du mir keine andere Wahl."

Lewyn schnappte überrascht nach Luft, als er sich plötzlich im Griff des Prinzen wiederfand. Seine Rechte – die doch noch eben dessen Kette festgehalten hatte! – befand sich nunmehr bewegungsunfähig auf seinem Rücken und wurde durch die Linke seines dunkelhaarigen Gefährten fixiert. Zudem hatte Sacris den anderen Arm sicher um seinen Hals gelegt und zitierte mit einer nicht zu verkennenden Spur von Selbstzufriedenheit: "'Tja, 'gefangen', würde ich dann mal sagen' …"

Und während der Prinz sich und seinen sprachlosen Freund mit den Beinen rückwärts schwimmend wieder Richtung Ufer brachte, schloss er grinsend: "Nun, Lewyn, ich fürchte, das Ertränken wird wohl noch ein wenig warten müssen – bis du gelernt hast, große Fische auch festzuhalten, sobald du sie einmal gefangen hast." Jener wusste darauf nichts mehr zu sagen.

Anschließend kehrten die beiden Männer zur Prinzresidenz zurück, zogen sich trockene Kleidung an und unternahmen schließlich einen zweiten Anlauf, um zu ihrem Ausflug aufzubrechen …

Das Geräusch von rasch aufschlagenden Hufen ließ Lewyn vom Satteln seiner schneeweißen Stute aufblicken. "Erwartest du jemanden, Sacris?" Ein wenig verwirrt sah dieser ihn an. "Nein, … sollte ich? Schließlich wären wir eigentlich schon längst unterwegs." Der Blonde hob eine Augenbraue und blickte zum Horizont. "Nun, du bekommst Besuch … Da scheint es aber jemand wirklich eilig zu haben." Sacris runzelte die Stirn und folgte seinem Blick. Dann hörte auch er das näherkommende Hufschlagen und erspähte kurz darauf ein bemanntes Pferd auf dem schmalen Trampelpfad, welcher zur Residenz führte. Die dunkelblaue Tunika des Reiters trug das goldene Wappen des Königshauses.

Mit einem Schnauben kam die große Stute direkt vor ihnen zum Stehen. Der Bursche – welcher nicht minder gehetzt aussah als sein Reittier – beugte sich zu ihnen hinab und reichte dem Prinzen einen ledernen, versiegelten Umschlag. Sacris schaffte es gerade noch, einen ratlosen Blick mit Lewyn zu wechseln und den Brief entgegenzunehmen, bevor der Junge auch schon atemlos zu erzählen begann: "Eure Hoheit …! Es … es ist furchtbar! Eure Freundin, Celine …!", er hielt keuchend inne, "Sie ist spurlos verschwunden!" Die Gesichter der jungen Männer entgleisten in Entsetzen.

Während Lewyn zunächst gar nicht zu begreifen schien, was er soeben vernommen hatte und zu einer Verständnisfrage ansetzte, packte der Prinz den Boten am Arm und zog ihn näher zu sich heran. "Was sagst du da, Bursche?!" – "J-ja, Eure Königliche Hoheit!", fuhr jener hilflos fort, "A-als Seine Königliche Majestät davon erfahren hat, bin ich, b-bin ich sofort damit beauftragt worden, Euch davon in Kenntnis zu setzen …!" – "Was genau ist passiert?", setzte Sacris drängend nach, "Wann ist sie verschwunden? Wo ist sie verschwunden?!" Während er auf den Boten einredete, ruckte er mehrmals an dessen Arm und riss ihn dabei um Haares­­breite vom Sattel herunter.

"Ich … i-ich weiß nicht, Eure Hoheit …!", erklärte der Gesandte eingeschüchtert stotternd, "S-sie sollte ja eigentlich in Eksaph sein! D-der Bote, den Ihr vor einigen Tagen zu ihr geschickt habt, konnte sie aber nirgends auffinden!" Er schüttelte mit ent­schuldigendem Bedauern den Kopf. "Und auch die Stadtbewohner wissen nicht, was mit ihr geschehen ist, ja, seit über einer Woche ist sie von keinem mehr gesehen worden! Ihre Wohnung verlassen, Fenster und Türen geöffnet, keine Nachricht, keine Spuren, nichts!"

Der dunkelhaarige Prinz betrachtete ihn mit verengten Augen und legte in deutlichem Missfallen die Stirn in Falten … Ihm gefiel nicht, was er da hörte. Und der Gedanke an die Konse­quenzen des Ganzen gefiel ihm noch weit weniger.

Der Bote bekam es bei diesem Anblick mit der Angst zu tun und hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. "Bitte, d-das ist alles, was ich weiß!" Doch der Ausdruck in den dunklen Augen des Kronprinzen verfinsterte sich infolgedessen nur noch mehr, dass der schmächtige Knabe schon mit dem Schlimmsten rechnete und in einem Moment seinen Kopf rollen sah! – Und er rief flehend: "Oh bitte, Hoheit, vergebt mir! Ich überbringe Euch doch nur das, was Seine Königliche Majestät mir auf­getragen hat!"

Nun ließ der Prinz ihn beherrscht los und ging langsam einen Schritt zurück. Dabei drehte er sehr nachdenklich und sichtlich unglücklich den Kopf zur Seite … Lewyn schaute auch weiterhin fassungslos zum Boten hinauf und wusste nicht, wie er auf diese Nachricht reagieren sollte. Sacris wandte seinen Blick daraufhin ebenfalls wieder dem Burschen zu und fragte gefasst: "Gibt es sonst noch irgendetwas?" Doch der Knabe schüttelte schüchtern den Kopf und erwiderte: "N-nein, Eure Königliche Hoheit … Nur der Brief von Seiner Königlichen Majestät." Damit wagte es der Bote, sich wieder aufzurichten und seinen Atem zur Ruhe kommen zu lassen.

Es folgte ein bedrückter Moment der Stille.

Den jungen Männern dämmerten die Umstände, unter welchen ihre gute Freundin verschwunden war – und es behagte ihnen überhaupt nicht. Denn wenn Celine sie auf diese Art und Weise verlassen hatte, konnte es nur eines bedeuten …

Der Prinz nickte resigniert und räusperte sich. "Nun gut …", sprach er und wandte sich schließlich erneut Lewyn zu. Dieser erwiderte seinen Blick in stillem Einverständnis … So atmete Sacris einmal durch, ehe er schloss: "Ich denke, dann wird unsere Reise heute wohl nirgendwohin sonst als nach Hymaetica gehen. Wir müssen schnellstmöglich mit meinem Vater sprechen." Mit diesen Worten drehte der dunkel­haarige Mann dem Reiter den Rücken zu und schritt zu seinem leise wiehernden Rappen hin. Auf dem Weg dorthin legte er seinem Freund schweigend eine ermutigende Hand auf die Schulter …

Sacris wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Auch wenn es zu­gegebenermaßen eigentlich keinen Grund gab, allzu opti­mistisch zu sein. Aber sie würden Celine schon irgendwie finden … – Und er fuhr sich mit einem aufgeregten Zischen durch das halbkurze Haar. Verdammt, da ließ man sie einmal aus den Augen …! Er hatte ihr schon immer angeboten, ihre Dienste als Heilerin vom Schloss aus in Hymaetica zu verrichten, doch sie hatte stets ab­gelehnt und in ihrem abge­legenen Dörfchen bleiben wollen! 'Die Menschen hier brauchen mich, Sacris. Hier gibt es keinen außer mir, der ihnen helfen kann. Also bleibe ich bei ihnen.' – Immer und immer wieder hatte sie ihm das entgegnet! Und jedes Mal hatte sie dabei dieses sture Lächeln aufgesetzt.

Der dunkelhaarige Mann schüttelte missbilligend den Kopf und rümpfte unterschwellig die Nase, während er auf seinen Hengst aufstieg. Tz! Das hatte sie jetzt davon, dass sie ihren Willen hatte unbedingt durchsetzen müssen. Dieses dick­köpfige Ding hatte es ja nicht einmal zugelassen, dass henxische Wachen auf sie aufpassten! Ja, und wohin hatte ihr verdammter Eigensinn sie jetzt gebracht …?! – Genau!

Aber dann riss sich Sacris zusammen und zügelte seinen Ärger.

Ja, Celine war stark … sehr stark. Sie ertrug das Leid so vieler Menschen, obwohl sie noch in ihrer zartesten Blüte stand und nicht einmal gänzlich erwachsen war. Und doch hatte sie nie aufgehört, ihr Lächeln und ihre Kraft an ihre Mitmenschen zu verschenken … – Aber dennoch! Argh!

Und der Prinz verzog plötzlich gequält leidend das Gesicht, während er das androgyn anmutige Profil seines langjährigen Freundes im Licht der Sonne betrachtete. Ein Stechen fuhr durch seine Brust, als hätte sich ein glühender Dorn in seine Seite gebohrt. Der junge Mann atmete tief durch und schluckte schwer, doch ging der Schmerz nicht fort, sondern blieb, wo er war – als dunkle Vorahnung in seinem Inneren. Und ihr Vorgeschmack entfaltete sich bitter auf seiner Zunge …

Sacris war nämlich nicht nur um das Wohl des Mädchens besorgt … Nein … Celine war zwar nett, aber zumindest für ihn nur eine recht gute Bekannte, mit welcher er durch die Verbindung zu Lewyns Familie regelmäßig Kontakt gehabt hatte. Nein, es war vor allem Lewyn, der besonders an Celine hing und sie liebte wie eine leibliche Schwester, die er nie ge­­habt hatte. Und er, Sacris, konnte jetzt nur hoffen, dass Lewyn – welcher ihm selbst nun mal mehr bedeutete, als er in Worte zu fassen vermochte! – in dieser Situation nichts Unüberlegtes tat … Und er hoffte es wirklich inständig …

Lewyn hatte kurz die Augen geschlossen, nachdem ihm Sacris eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, und war still­schwei­gend auf seinen Schimmel aufgestiegen. Der Sonnenschein war verblasst, so wunderte sich der junge Mann, woher die jähen Wolken hergekommen waren; doch der Himmel war noch immer genauso klar und blau wie je zuvor …

Ein Seufzer entfuhr Lewyn, sobald er sein Pferd in Bewegung setzte. Eine leise Unruhe breitete sich in ihm aus – und als der Blonde seinen Blick noch einmal über die weiten Seen, üppigen Wiesen und das kleine, friedliche Haus am Ufer schweifen ließ, wurde ihm irgendwie schwer ums Herz. Er wurde plötzlich das furchtbar beklemmende Gefühl nicht los, als würde er diesen Ort zum letzten Mal sehen.

***

"Qu'al 'tshev!" Die Gestalt stampfte wütend auf und ballte die Hand zur Faust, während sie ein blutiges Fell vor den Thron warf. Die Wachen regten sich und machten auf der Stelle Anstalten, den Mann zu bändigen, doch der König wies sie mit einer zügigen Handbewegung an, Ruhe zu bewahren. Der König Rex Faryen sah fragend zu seinem Berater auf. "Was hat das zu bedeuten, Hal?"

Der Mann neben ihm trug eine goldverzierte, dunkelblaue Robe und legte die Kuppen seiner schmalen Finger aneinander. "Nun, Eure Majestät …", begann der kahlköpfige Berater mit gedämpfter Stimme, "Die Elfen scheinen einen weiteren Boten zur 'Warnung' entsandt zu haben … Sie werden der 'Frevel' langsam überdrüssig."

Die Gestalt vor ihnen war bis auf einen Lendenschurz und Waffengürtel völlig unbekleidet und offenbarte so einen schlanken, wenn auch kräftigen Körper, welcher über und über mit blauen Tätowierungen bedeckt war. Der Elf hielt einen Speer in der Hand, trug einen Bogen am Rücken und hatte silbrig langes Haar, in welches Blätterranken hineingeflochten waren. Sein Gesicht war filigran gehalten, seine Ohren spitz zulaufend und seine türkisblauen Augen in funkelndem Zorn auf den König vor sich gerichtet.

"Z'ehynn'dha qu'an th'eyza! N'nin'ktshu qu'av! M'ekethz! M'ekethz 'nnu ah'nya vez'kynth!" Immer aufbrausender und fluchender kamen die Worte über die Lippen des Fremdlings. Sie klangen hart, sogar beißend und hatten doch eine natürliche Melodie, die dazu verleitete, mehr von ihr vernehmen zu wollen. Immer wieder deutete er auf das Fell und anschließend auf alle anderen Anwesenden um ihn herum.

König Faryen wandte den Kopf merklich beunruhigt zu seinem Berater. "Der Gesandte schwört, dass die Menschen 'ein böser Fluch' treffen wird, solltet Ihr nicht damit aufhören, 'ah'nya zu spotten' und ihre … 'Kinder' zu töten …", dann beugte sich Hal ein wenig zu ihm herunter und flüsterte: "Eure Majestät, es wäre höchst ratsam, dass Ihr ihnen ein Zeichen Eurer 'guten Absicht' gebt, ansonsten ist es nur eine Frage von Monaten oder gar Wochen, bis sie zuhauf vor Eurem Palast stehen und 'Rechenschaft' fordern – wenn Ihr versteht, was ich meine …", und er hob eine kahle Augenbraue, "Es scheint, als würden sie keine Ruhe geben, bis die Wolfsschlachtung aufgehört hat."

Der König nickte langsam und räusperte sich schließlich, woraufhin sich der Mercurio Hal wieder aufrichtete. "Nun …", begann der Menschenkönig – jedoch nicht, ohne vorher einen bedeutungsvollen Blick mit seinem Berater gewechselt zu haben, "Ihr habt da etwas missverstanden: Wir haben …", er zögerte und wählte seine Worte mit Bedacht, "… bereits in die Wege geleitet, dass … unsere Menschen keine sinnlosen Tieropfer mehr bringen." Er sah kurz zu Hal, welcher daraufhin begann, das Gesagte in Qu'elza, die Sprache der Elfen, zu übersetzen.

Der Fremdling hielt nun inne und lauschte den Worten des Königs. Dieser fuhr fort: "Aber wie das bei uns Menschen leider so ist, brauchen Veränderungen …", Rex zögerte erneut, "… ihre Zeit, bis sie sich vollkommen durchgesetzt haben. Deswegen bitte ich euch um ein wenig Geduld. Gebt den Menschen die Zeit, die sie brauchen, um sich an die neuen Umstände zu … 'gewöhnen' …" Beim Sprechen vollzog seine rechte Hand leichte, kreisende Bewegungen, welche die latente Nervosität des alten Mannes verrieten. "So nehmt denn als Zeichen meines guten Willens diesen … diesen …", was sollte er ihnen bloß geben?, "… ja, diesen Baumsamen entgegen!" Der König ließ einen Diener hastig ein kleines Lederbeutelchen auf einem Tablett bringen. "Er stammt vom großen Baum unserer Väter und kann nur in einer einzigen Nacht in sieben Jahren gewonnen werden, da die Blüte ihn nur für diesen kurzen Augenblick preisgibt …!"

Auf einen flüchtigen Wink hin schritt der Diener an den Elfen heran, während der Mercurio die Worte zu Ende übersetzte. Der Bursche wartete, bis der Gesandte das Beutelchen vom Tablett genommen hatte, und entfernte sich danach wieder. Der Waldbewohner besah sich das Säckchen und öffnete es, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen. Er tunkte seinen Finger vorsichtig in diesen hinein und zog ihn mit einer hauchfeinen, staub­artig glitzernden Schicht an der Fingerkuppe wieder heraus. Höchst neugierig, wenn auch skeptisch, musterte er seinen Finger und sah dabei immer wieder zum König auf dem Thron auf. Dieser erwiderte seinen Blick ruhig und wartete …

Letztendlich schloss der elfische Gesandte das Säckchen wieder, band es an seinem Gürtel fest und neigte kaum merklich den Kopf. "Ay'zawa qu'enn ah'nya", sagte er leise, legte dabei seine Hand flach auf die Brust und wandte sich zum Gehen.

Noch lange nachdem das leise Tapsen der nackten Füße auf dem Steinboden verhallt war, verharrten alle anderen Anwesenden regungslos an Ort und Stelle, … bis der König selbst laut ausatmete und dem unangenehmen Schweigen ein Ende bereitete. Augenblicklich brach ein reges Gemurmel unter den Menschen im Thronsaal aus: Eine Hand voll weiterer Gestalten in dunkel­blauen Roben beriet sich durch lautlosen Blickkontakt mit dem Mann im goldverzierten Umhang neben dem Thron, der als Mercurio offensichtlich eine leitende Funktion inne zu haben schien. Unter den anwesenden Dienern des Königs wurde mit aufgebrachter und verängstigter Stimme diskutiert, was das denn nun zu bedeuten hatte, und auch die henxischen Wachen wirkten sichtlich beunruhigt.

König Faryen legte die Stirn in Falten und stützte sie mit einer Hand ab. Sein Blick fiel wieder auf das blutige Fell vor seinen Füßen und er ließ es mit einem knappen, genervten Wink entfernen. Dann schloss Rex die Augen und atmete tief durch. Sein langes, grau gewelltes Haar vermochte nicht, die Sorge in seinem Gesicht zu verdecken, und die Falten darin schienen tiefer denn je …

"Nun, Eure Königliche Majestät …", ertönte die schneidende Stimme des Mercurios laut im Raum, sodass wieder Stille einkehrte, "Wie genau … gedenkt Ihr jetzt vorzugehen?"

König Faryen setzte sich schwermütig auf und schaute in die Runde seiner Untertanen. Er sah in all ihre verunsicherten Gesichter und wusste, was er zu tun hatte. So festigte Rex seinen Blick und setzte ruhig, aber bestimmt an: "Die Elfen wissen nicht im Geringsten, wie wir uns fühlen; sie wissen nicht, was es heißt, eines Morgens aufzuwachen und fest­stellen zu müssen, dass die, die uns am wichtigsten, am liebsten waren!, nicht mehr da sind und von ihnen keine Spur mehr zu finden ist."

Die Anwesenden hörten ihm aufmerksam zu und nickten vereinzelt. Der alte Mann schüttelte seinen Kopf, während sein Tonfall zunehmend anklagender und bitterer wurde: "Sie haben also auch keine Ahnung, wie es uns dabei ergeht. Sie wissen nichts über uns und unsere Sitten oder Kultur; aber dafür meinen sie, alles an Getier, ja, jeden Wurm und jeden Käfer beim Eigennamen zu kennen!", und er lachte trocken auf, während seine Untertanen es ihm gleich taten und spottendes Gelächter hören ließen, "Jaaah, sie 'kennen' die Tiere als ihre 'Kinder von Mutter Natur' – doch wir wissen nun mal über ihre wahre Natur Bescheid!"

Der König verengte die Augen zu Schlitzen und ballte die Hand zur Faust. "Voller Boshaftigkeit sind sie doch nur darauf aus, uns zu hintergehen und uns zu vernichten! Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen! Wir werden unsere Verlorenen nicht im Stich lassen! Und wir werden auch nicht zulassen, dass weitere Verluste auf uns zukommen! Nein, wir werden uns mit aller Macht gegen diese Bestien wehren und das ist unser ur­­eigenes Recht!!!"

Zum Schluss hin war Rex aufgestanden und hatte mit der Faust in die Luft geschlagen, um die Macht seiner Worte zu bekräftigen. Nun strahlte König Faryen wieder Selbstsicher­heit aus, dass in seinen dunklen Augen das lodernde Feuer des Lebens aufflackerte. Angesteckt von seinem Enthusiasmus riefen die Anwesenden jubelnden Beifall und sahen ihre Gemüter wieder beruhigt.

'Welch einfaches Volk', schoss es dem alten Mann traurig durch den Kopf – und als er zur Seite blickte, wunderte es ihn nicht, dass sein königlicher Berater mitsamt dessen Anhanges an dunkel­blau gekleideten Gefährten herzlich unbeeindruckt von seiner Rede war. König Faryen schmunzelte ein wenig. Richtig … Wie hätte es auch anders sein können? Sie würden ohnehin noch einiges zu besprechen haben. Doch für den Moment waren die anderen ruhiggestellt. So schickte er alle Anwesenden bis auf den Mercurio hinaus.

Als der König mit seinem Berater allein zurückgeblieben war, seufzte er leise und stieg von seiner Thronerhöhung herunter. Der Saal war recht schmal, aber dafür lang gebaut und wurde zu beiden Seiten von marmornen Säulen flankiert. Die Wände waren in schlichtem Weiß gehalten und große, runde Buntglasfenster in sie eingelassen, sodass stets ein farbenfrohes Lichtspiel auf dem hellen Steinboden stattfand. Die Wappen der vier Grafenhäuser zierten das Gewölbe über den Säulengängen, wobei das Wappen des Königshauses allein­stehend über dem Thron hing.

Der Sitz des Königs befand sich mittig in der Hälfte des Raumes auf einem kleinen Sockel. Hinter ihm war eine große Öffnung im Gewölbe eingelassen, die weitere säulengestützte Stockwerke sowie ein gläsernes Dach offenbarte. Durch die Öffnung zum Himmel hinaus wuchs ein großer, stämmiger Baum mit heller Rinde und üppig verdrehten, blassgrünen Blättern, die mit Weiß gesprenkelt waren. Die Borke schälte sich zum Teil in feinen Streifen ab und bildete eine gekräuselt abstehende Rindenschicht um den eigentlichen Stamm herum. Um den Baum selbst waren die verschiedensten exotischen Grünpflanzen gesetzt, sodass sie insgesamt ein harmonisches und überaus malerisches Bild abgaben. Hinter dem rund gehaltenen Innenhof erstreckte sich eine große Treppe zum Festsaal im ersten Stock – und abgesehen davon gab es noch vier Seitengänge, die zu anderen Räumen sowie zu den könig­lichen Gemächern führten.

Der König schritt bedächtig zum Baum der Väter hin und blieb vor der bepflanzten Grünfläche stehen. Er blickte nachdenklich von den mächtigen Wurzeln am langen Stamm entlang bis hinauf in die zahlreichen Blätter der verzweigten Krone. "Wir haben vieles geschafft …", sprach Rex Faryen leise, "Unsere Väter … haben vieles geschafft …" Sein Berater war ihm still gefolgt und stand nun diskret schweigend neben ihm. Der alte König wandte sich ihm zu und sah ihn eindringlich an. "Und das darf jetzt nicht alles umsonst gewesen sein."

Der Mercurio Hal hatte die Fingerkuppen aneinander gelegt und hob nun eine Augenbraue. "Ihr sprecht vom Zucht­programm?" – "Ganz recht", erwiderte König Faryen, "Ihr habt die Wölfe ja bereits gefangen, die wir dafür benötigen, nicht wahr?" – "Selbstverständlich", kam es in sachlichem Tonfall vom kahlköpfigen Berater, "Alles ist in die Wege geleitet. Wir erwarten nur Euren Befehl." Der König schien einen Moment lang nach­zudenken, bis er schließlich nickte und sagte: "Dann geh jetzt. Du weißt, was du zu tun hast." Hal verneigte sich leicht – wodurch ein fremdartiges, hellblaues Zeichen auf seinem kahlen Schädel zum Vorschein kam – und verließ anschließend lautlos den Raum.

Kaum war der Mercurio verschwunden, erschien ein äußerst gehetzt wirkender Diener: "Eure Königliche Majestät, Seine Königliche Hoheit, der- …!", in dem Moment öffneten sich bereits die Tore und ein schwarz uniformierter Mann mit dunkel­rotem Mantel und kurzem, dunkelbraunem Haar betrat zügigen Schrittes den Saal. Direkt hinter ihm folgte ein etwa einen halben Kopf kleinerer Mann in beigem Gewand und langem, blondem Haar. Sie durchquerten den Raum bis hinter den Thron, während sich der Diener eilig zurückzog.

Vor dem König blieb der vordere Mann abrupt stehen, warf seinen Mantel schwungvoll nach hinten und nickte seinem älteren Gegenüber respektvoll zu. "Vater." Der Blick des Königs wurde sanft, als er die jungen Ankömmlinge musterte – und er legte beiden jeweils eine Hand auf die Schulter. "Sacris, mein Sohn … Lewyn … Seid mir herzlich willkommen."

Noch ehe Sacris etwas sagen konnte, meldete sich Lewyn noch ganz atemlos vom Laufen zu Wort: "Eure Königliche Majestät, ich grüße Euch …! Der Bote …", doch er zögerte plötzlich, "Wegen … wegen Celine … was …" König Faryen nahm seine Hände wieder herunter, wandte sich um und begann, langsam entlang der Säulen des Innenhofes zu schreiten. Die jungen Männer schlossen zu ihm auf und liefen nun auf gleicher Höhe neben ihm.

"Es scheint, dass die Tragödie jetzt wohl auch uns betrifft …", begann der König leise, "Ich glaube nicht, dass eure Unruhe getilgt wäre, indem ihr zwei wehrlose, arme Wesen niederstrecktet, nicht wahr?" Die zwei Freunde schüttelten daraufhin schon fast ungläubig ihre Köpfe und Lewyn fügte ein wenig verzweifelt hinzu: "Sie ist doch nicht schon …! Ich meine, wer weiß, wo sie ist? Sie-" – "Richtig, Lewyn", unterbrach ihn der König bestimmt, "Wer weiß, wo sie ist. Wir haben alles absuchen lassen, aber keinerlei Spuren, geschweige denn Anhaltspunkte gefunden, was mit ihr geschehen sein könnte", und er seufzte in Resignation, "Es ist ausweglos … Genau wie in all den anderen Fällen, in welchen die Angehörigen einfach ohne jeden Hinweis verschwunden sind."

Bevor einer der jüngeren Männer etwas einwerfen konnte, fügte Rex Faryen allerdings noch mit beschwichtigend erhobener Hand hinzu: "Und nein, ich selbst glaube auch nicht, dass es die Wölfe gewesen sind, die unsere Schilde durchdrungen haben. Das schaffen sie nämlich gar nicht. Abgesehen davon hätten diese wenigstens Fährten hinterlassen. Und dass sie 'magische Wesen' sein sollen?", er lachte und führte seinen Monolog sarkastisch fort, "Tseh, das glaubt ihr ja wohl selbst nicht …! So etwas wie Magie gibt es nicht. Alles lässt sich logisch begründen. Irrationale Erklärungen sind völliger Unfug."

Der König redete ununterbrochen weiter und benutzte dabei eine Hand zur Argumentation. "Zudem gibt es nur ausgewählte Tiere, die wir mit Chips versehen haben, damit sie durch die Schilde hindurchgelangen können", und er ließ die andere Hand der ersten in die Höhe folgen, "Aber auch das nur, weil Händler und Reisende ihre Pferde und Esel ansonsten jedes Mal vor den Städten zurücklassen müssten …!" Dann ließ der alte Mann plötzlich beide Hände fallen und schüttelte unglücklich den Kopf. "Aber, was rede ich da? Das wisst ihr ja alles schon." Er seufzte schwermütig und blickte wieder nachdenklich bedrückt zum Baum der Väter hinauf …

Die beiden Freunde hörten dem König geduldig zu – so kannten sie seinen Hang zu Monologen nur zu gut – und liefen an seiner Seite entlang, während er gedankenverloren weitererzählte: "Ich frage mich, wie lange es noch dauern wird, bis es zum Krieg kommt; sei es der Krieg zwischen den Menschen und Elfen – oder … sei es der Krieg zwischen uns Menschen selbst …"

Da merkte Sacris auf einmal beunruhigt an: "Vater, ich habe deinen Brief erhalten. Ist es wirklich wahr?" Der alte Mann nickte schweren Herzens und ließ seinen Kopf hängen. "Ja, mein Sohn, du hast richtig gelesen …", entgegnete er ihm, "Wir befinden uns in einer mehr als heiklen Situation. Wollen wir es der einen Seite recht machen, wird sich unweigerlich die andere gegen uns auflehnen", und Rex gestikulierte wieder mit den Händen, "Bewahren wir also den Frieden im Inneren unseres Reiches, werden wir uns mit den Elfen bekriegen – sind wir mit den Elfen im Reinen, zerbricht unser Reich … So oder so: Es wird Krieg geben."

Da ergriff Lewyn verständnislos das Wort: "Aber … was ist dann bloß sonst für das Verschwinden der Menschen verantwortlich, wenn nicht irgendwelche Bestien? Wenn wir doch nur endlich den wahren Grund herausfinden könnten, wären beide Probleme auf einmal gelöst, oder?" Sacris nickte langsam und fragte: "Haben deine Landeskundschafter denn mittler­­weile etwas herausfinden können, Vater?" Doch König Faryen seufzte und schüttelte den Kopf. "Nein, nichts …", meinte er bedauernd und atmete einmal tief durch.

Daraufhin dachte der Prinz lange nach und runzelte schließlich die Stirn. "Aber … wenn das so ist, was wirst du dann jetzt machen, Vater? Ein Krieg im inneren des Reiches würde alles zunichte machen, wofür du dich in deinem Leben eingesetzt hast. Und eine offene Auseinandersetzung mit den Elfen-" – "Weißt du, mein Sohn …", unterbrach ihn der König auf einmal mit auffallend träger Stimme und einem fatalistischen Lächeln, "… ich bin mit meinen Kräften langsam am Ende …" – "Vater …?" Sacris sah ihn latent bestürzt an. "Was hat das … zu bedeuten …?"

Der König blieb stehen und schaute seinen Sohn müde, sehr müde an. Die Ringe um seine dunklen Augen waren tiefer als alle anderen Falten in seinem alten und vom Leben gezeichneten Gesicht. "Meine Zeit geht langsam aber sicher zu Ende …", und er legte ihm bedeutungsvoll nickend eine Hand auf die Schulter, "Nicht mehr lange und du wirst meine Nachfolge antreten, weißt du? Nur noch zwei Jahre, dann hast du endlich deinen dreiundzwanzigsten Geburtstag erreicht … Dann wirst du … der neue König sein …"

Rex Faryen ließ erneut ein tiefes Seufzen hören und murmelte unhörbar: "Ja, ja, … der neue König …", und er wandte sich unter geistesabwesendem Nicken ab, um weiterzugehen. Weder Sacris noch Lewyn behagte der Tonfall, welchen er an den Tag legte. So beschleunigte der Prinz seine Schritte, um zu seinem Vater aufzuholen. "Ja, ja …", nickte der alte Mann geistesabwesend fort, "Und unter Umständen wird es gar nicht nötig sein, so lange zu warten …" Da rief Sacris sofort: "Vater, was- …?!", doch er konnte nicht weitersprechen, denn der König hatte ihm einen Finger auf den Mund gelegt. "Nur Geduld … nur Geduld, mein Sohn …", sprach jener ruhig und entschieden, "Die Zeit wird alles offenbaren." Rex lächelte matt und schritt fort.

Sein Sohn ließ jedoch nicht von ihm ab und fragte verzweifelt: "Aber Vater, was … was soll ich bloß tun …? Ich habe doch nicht die geringste Ahnung, wie ich an deiner statt mit diesem Konflikt umgehen soll!" Der König blieb daraufhin erneut stehen und sah ihn ernst und unerwartet streng an. "Halte deinen Geist wach, gehe mit offenen Augen und Ohren durch diese Welt und versuche, sie mit all ihren Elementen zu begreifen", sprach er bedächtig, "Tue dies, mein Sohn, und der Weg wird sich dir offenbar-"

Dann bekam der alte Mann aber plötzlich einen solch heftigen Hustenanfall, dass er sich an der nächsten Säule abstützten musste. Sacris' Augen weiteten sich in jähem Schreck. "Doch nicht etwa …!", flüsterte er mit hörbarem Bangen, aber sein Vater richtete sich geschwind wieder auf und sagte mit dem Rücken zu ihnen gewandt: "Ich werde mich jetzt zurückziehen. Bitte, fühlt euch in diesem Palast zu Hause … wie es schon immer der Fall gewesen ist." Und er entfernte sich – die beiden jungen Männer allein im Thronsaal zurücklassend.

Lewyns Blick hatte im letzten Moment weniger dem sich entfernenden König als vielmehr einem Schatten hinter einer gegenüberliegenden Säule gegolten; doch als er ein zweites Mal hingesehen hatte, war jener verschwunden. Er legte die Stirn in Falten und wandte sich schließlich dem Prinzen zu – welcher seinem Vater noch immer sichtlich besorgt hinterher blickte.

"Sacris …", der Blonde erfasste vorsichtig dessen Arm und lenkte ihn langsam von der Tür weg. "Er ist wieder erkrankt …", stellte Sacris mit belegter Stimme fest und schaute seinen Freund dabei beklommen, ja, entsetzt an, "Es ist genauso wie damals …! Es ist genau dasselbe …!" Danach wandte der dunkelhaarige Mann seinen Kopf sofort wieder zur Tür hin und starrte seinem Vater nach. Lewyn seufzte und richtete den Blick seines Gefährten mit einer entschiedenen Handbewegung zurück auf sich. "Sacris, nun hör mir mal zu … – Mensch, Sacris …!" Der Blonde hielt seinen Freund am Kopf fest, da jener erneut Anstalten machte, in Richtung des Königs zu schauen. "Bitte, Sacris", redete Lewyn auf ihn ein, "Ich weiß nicht im Geringsten, was ich von der ganzen Sache hier halten soll, aber es wird dir mit Sicherheit nichts nützen, einfach nur auf der Stelle stehenzubleiben und abzuwarten, bis sich irgendetwas aus heiterem Himmel ergibt! Also komm mit. Wir sollten jetzt gehen", und der langhaarige Mann zog ihn dabei mit sanfter Gewalt, aber entschlossen an der Hand zum Ausgang des Palastes, "Hier werden wir schließlich nichts weiter über Celines Verschwinden herausfinden. Und deinem Vater können wir auch nicht helfen – und das weißt du genauso gut wie ich."

Hymaetica Aluvis war eine schöne Stadt. Sie lag in einer weiten Bucht, zu beiden Seiten von Ausläufern des Gebirges des Grauens geschützt, am Ozean der Träume. Das Tal zwischen den Bergarmen erstreckte sich mehr als eine Wochenreise zu Pferd ins Landesinnere hinein. Am Fluss Tical, welcher das Tal geformt hatte, waren viele weitere Dörfer angesiedelt, die zu den Bergen hin immer kleiner wurden und sich zwischen den hohen Gipfelkämmen mehr und mehr in der Einsamkeit verloren. Es hieß, der Einflussbereich des Königs erreichte die andere Seite der großen Gebirgskette nicht und die Menschen, die dort an der Grenze zu den Wüsten von Rayuv lebten, waren ihre eigenen Herrscher – ungebändigt und völlig frei von Gesetzen und Regeln des Königreiches.

Das Reich selber wurde von König Faryen III regiert. Seine Berater bildeten einen Zirkel, welchem man nachsagte, dass der König selbst nicht einmal um ihre wahren Absichten wusste. Sie lebten abgeschottet und machten aus allem, was sie taten, ein Geheimnis. Man nannte sie 'die Wissenden'.

Das Einzige, was man über sie wusste, war, dass sie wohl diejenigen gewesen waren, welche die Schilde errichtet und auch dafür gesorgt hatten, dass es zumindest in Hymaetica und den vier Grafenstädten 'fließendes Wasser aus den Wänden heraus' gab. Die Menschen fanden sie in ihren dunkelblauen Roben mehr als unheimlich, denn schließlich wusste niemand, was in ihren Köpfen vorging. Die Wissenden hingegen vermittelten den Menschen den unangenehmen Eindruck, als würden sie über alles und jeden Bescheid wissen – und die Bezeichnung ihres Zirkels unterstrich dies auf eine ironische Art und Weise.

Die Einwohner Hymaeticas waren ein bunt gemischtes Völk­chen. So wandelten einige in bewusst schlicht gehaltenen Gewändern neben maskiert kostümierten Gestalten, während wiederum andere in aufwändigen Rüschenkleidern neben Kriegern in Fell und Leder durch die Stadt gingen. Die Straßen der Menschenhauptstadt waren dank des Abwassersystems sauber gehalten und wiesen tagsüber ein reges Treiben auf: Menschen, die allerlei Waren anboten oder jene kauften, andere, die vor aller Augen etwas erstellten oder Kunststücke vollzogen, und wiederum andere, die dort einfach nur entlangspazierten und sich munter unterhielten.

"Was hältst du eigentlich von den Wissenden, Sacris?", fragte Lewyn mit gedämpfter Stimme, während sie den lebendig lauten Markt durchquerten. Sacris sah seinen Freund von der Seite her an und hob eine Augenbraue. "Von den … Wissenden?", erwiderte er verwundert und ließ die zweite Augenbraue der ersten in die Höhe folgen. Ein wenig angespannt wiederholte Lewyn: "Ja, von den Wissenden …!"

Der Prinz atmete einmal hörbar aus und dachte einen Moment lang nach. "Du stellst ja vielleicht seltsame Fragen …", murmelte er schließlich und sah in die Ferne, "Was man von denen halten soll? Nunja, sie sind in sich verschlossen, keiner weiß, was sie eigentlich wollen, woher sie kommen und warum sie das tun, was sie tun …", und er schaute seinen Freund mit einem schiefen Grinsen an, "Insgesamt also alles andere als Vertrauen erweckend, wenn du mich fragst. In Bezug auf sie bin ich deswegen vorsichtig. Zudem kann ich nicht nachvollziehen, warum Vater ausgerechnet sie als Berater gewählt hat." Letztlich zeigte Sacris mit der Hand auf sich selbst und schloss: "Ich für meinen Teil würde niemanden in diesem Amt haben wollen, dessen Beweggründe derart unergründlich sind wie die der Wissenden."

Da lächelte Lewyn nachdenklich und bemerkte: "Eine recht ausführliche Antwort dafür, dass dir die Frage so ungewöhnlich schien, findest du nicht auch?" Sacris begegnete ihm mit Verwirrung und begriff nicht, worauf er eigentlich hinauswollte. "Naja, natürlich habe ich mir schon Gedanken um sie gemacht", erwiderte er, "Schließlich werde ich bald selbst vor der Entscheidung stehen, ob ich ihnen als König vertraue oder nicht." Sein Freund wiederum sah zu ihm auf und wurde unerwartet ernst: "Wirst du den Zirkel der Wissenden von seiner Beraterfunktion entbinden, sobald du König bist?" Der Prinz seufzte und entgegnete kopfschüttelnd: "Das kann ich dir nicht sagen, Lewyn. Dazu weiß ich einfach viel zu wenig über sie. Bisher bin ich allerdings auch noch nie dazu gekommen, mit Vater darüber zu sprechen."

Dann hielt Sacris jedoch inne und betrachtete seinen Gefährten mit einem jähen Schmunzeln. "Und abgesehen davon ist es ja nicht so, als hätte ich je einen Hehl daraus gemacht, was ich von den Wissenden halte …! Immerhin bin ich damals doch derjenige gewesen, der den Spionagefeldzug gegen den Mercurio aus­geheckt hat."

Daraufhin musste der Blonde leise lachen: "Ja, aber am Ende saßen wir dann trotzdem beide zusammen bei Brey in den Stallungen fest und durften eine Woche lang Mist wegräumen!" Sacris konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. "Na, komm schon, so schlimm war es dann auch wieder nicht – Brey hat uns wenigstens dabei geholfen!", und er lehnte sich ein wenig zu seinem Gefährten rüber, "Und eigentlich war mein Plan ja perfekt – nur, wer hätte ahnen können, dass eine Dienstmagd unsere Flohpulverfalle auslösen würde, wo doch eigentlich der Mercurio hätte als nächster in den Raum kommen sollen …?!"

Als Lewyn daraufhin mit dem Kopf zu schütteln begann, fügte der Prinz noch verteidigend an: "Hey, ich bitte dich, dafür konnte ich nun wirklich nichts! Sie war neu angestellt gewesen und hatte sich verirrt!" Doch hob der Blonde daraufhin nur tadelnd den Zeigefinger in die Höhe und richtete ohne Gnade über ihn: "Ah ah, keine Entschuldigungen, Freundchen, keine Entschuldigungen! Du hast mich da total mit reingeritten!"

"Jetzt stell dich doch mal nicht so an …!", meinte Sacris ungläubig lachend und schlug seinem Freund locker gegen die Schulter, "Als ob ich dich gezwungen hätte, da mitzumachen!" – "Na, was denkst du denn! Als ob ich damals eine Wahl gehabt hab!", rief Lewyn übertrieben entrüstet und stemmte seine Arme in die Hüfte, "Es hieß doch ständig von allen Seiten, ich soll mir dich zum Vorbild nehmen! Was tut klein Lewyn also? Macht alles nach, was klein Sacris ihm vormacht!", und er begann, wild um sich zu gestikulieren, "Fleißig lernen. Mercurio piesacken! Fleißig lernen. Von selbstgebauten Baumhäusern herabstürzen! Fleißig lernen. In einen vermeintlich zugefrorenen See einbrechen und in der darauffolgenden Rettungsaktion das halbe henxische Bataillon mit ins Eiswasser ziehen!"

Sacris lachte herzhaft auf. "Sei bloß still, du wandelndes, krimi­nelles Element, du! Ein Vertrauensmissbrauch nach dem anderen!", regte sich der hellhaarige, junge Mann lauthals auf, "Dadurch, dass ich dir alles bedenkenlos nachgemacht habe, war ich am Ende noch wesentlich schlimmer dran, als wenn ich gar nichts davon getan hätte!" Noch immer lachend wuschelte ihm der Prinz durch die langen Haare und entgegnete: "Jaja, na und? Bereust du es etwa?", und wieder breitete sich ein Grinsen auf seinen Lippen aus, "Wärst du doch lieber ganz bei den Henxern aufgewachsen, anstelle ein halbes Dutzend von ihnen mal eben aus Versehen ins Wasser zu reißen?" Da schüttelte Lewyn abermals den Kopf und ließ ein unerwartet mildes Lächeln sehen. "Ach was, Blödsinn …", meinte er resigniert seufzend – und auf eine sonderbare Weise zufrieden mit sich und der Welt, "Es waren zwar die verrücktesten, aber auch die schönsten Tage meines Le-"

Ein plötzlicher Aufschrei zog die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich. Auf der breiten Straße vor ihnen staute sich die Menschenmenge und bildete einen Kreis um etwas, das sie aus der Ferne nicht genauer erkennen konnten.

"Seht euch mal diese Frau an …!", merkte einer der beistehenden, fremden Männer mit einem anzüglichen Grinsen an. Ein erneuter Schmerzensschrei folgte und eine bissige Frauen­stimme kreischte: "Ich sagte, dass du damit aufhören sollst! Hör auf, so einen Schwachsinn zu träumen, und mich damit auch noch vollzumüllen!"

Auf die darauffolgende Stille begannen die Herumstehenden zu murmeln. "Der arme Junge …", meinte eine Magd, "Seht euch diese Krallen an!" – "Na, die müssen ziemlich wehtun", verzog ein Händler das Gesicht.

"Hast du mich verstanden, Herby?", keifte die Frauen­stimme von vorhin fort und ein weiterer Schrei ertönte. "Das ist doch grausam …!", bemerkte eine adlige Dame, als ein helles Schluchzen erklang. "Mensch, wieso tut denn keiner etwas …?!", wunderte sich ein gedrungener Handwerker und reckte den Kopf in die Höhe, "Wo sind die Wachen? Ruf doch jemand die Wachen!" – "Mama, i-ich habe Angst!", kam es von einem Kind. "Schhh, meine Kleine", gab die Mutter beruhigend von sich, "Komm, lass uns weitergehen …"

"Verzeihung, dürften wir bitte kurz durch …?" Der Prinz und sein Freund konnten sich endlich einen Weg durch die Menge bahnen; und so standen sie nun vor einer mehr als aufreizend gekleideten, auffällig gutaussehenden, jungen Frau, welche jedoch wie eine Furie auf einen kleinen, weinenden Jungen von nicht mehr als sechs Jahren einschimpfte: "Na heul doch so viel du willst, aber lass mich endlich mit diesem Blödsinn in Ruhe, ist das klar?"

Die Fremde hatte langes, schwarzes Haar und trug mit Schnallen besetzte Lederstiefel auf extrem hohen Absätzen – bei denen sich Sacris prompt fragte, wie man damit überhaupt auf dem Kopfsteinpflaster stehen, geschweige denn gehen konnte. Ein zu den Schuhen passender Lack- und Lederaufzug mit entsprechend tiefem Ausschnitt verpasste ihrer höchst einprägsamen – und höchstwahrscheinlich lun­idischen – Erscheinung den letzten Schliff.

"Ob du mich verstanden hast, Herby!?" Drohend beugte sich die Frau über den kleinen Knaben, welcher sich wimmernd seine blutende Wange hielt. Sein weißblondes, topfförmig geschnittenes Haar verbarg seine Augen und ein türkises Seidenbarett zierte sein Haupt mit einer einzelnen, großen Feder. Durch den gleichfarbigen Umhang und eine entsprechend passende Tunika wirkte das Kind fast wie jemand, der versuchte, als edler Knappe durch die Welt zu ziehen und große Heldenabenteuer zu erleben.

Nun hob der Junge den Kopf und richtete seine hellblauen, mit funkelnden Tränen besetzten Augen auf die aufbrausende Frau. "A-aber Träume können doch nicht einfach auf Befehl verändert werden!", erwiderte er verzweifelt, "Was kann ich denn dafür, dass ich gesehen habe, wer dieses Mädchen entführt hat?! Ich kann doch nicht einfach sagen 'Traum, hör auf!' oder 'Träum' was Anderes'!'"

Daraufhin stampfte die Frau zornig auf und holte zu einem weiteren Schlag aus. "Deine Frechheit werde ich dir noch austreiben-!" – Doch weiter kam sie nicht, denn ihre mit scharfen Fingernägeln besetzte Hand wurde plötzlich von jemandem ergriffen. Die Fremde begann zu fluchen und zu zerren, aber der Prinz hielt sie fest umklammert. "Was zum …!", regte sie sich auf und versuchte, ihren Bezwinger allein Kraft ihres Todesblickes in die Flucht zu schlagen. "Ihr wagt es!", knurrte die Frau und rümpfte auf einmal abfällig die Nase, "Wer seid Ihr überhaupt?"

Sacris blieb ruhig, ganz ruhig … und hob lediglich eine Augenbraue. Die Menge um sie herum hielt den Atem an. "Sacris Faryen, Kronprinz und Erbe der königlichen Faryen Dynastie. Ich bin ebenfalls erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen", sprach er betont nüchtern, "Würdet Ihr nun die Höflichkeit besitzen, mir Euren Namen zu nennen und zu erklären, was das hier zu bedeuten hat?"

Lewyn wandte sich unterdessen an die sie umgebenden Leute und erhob die Stimme: "Also dann … Hier gibt es nichts weiter zu sehen! Geht nun bitte wieder eures Weges!", und er scheuchte sie gemächlich fort, "Los, geht schon, geht! Geht weiter!" So zerliefen sich die Menschen – die einen mehr, die anderen weniger murrend – allmählich wieder über den ganzen Markt, sodass die beiden Männer mit dem Jungen und der Frau alleine zurückblieben.

Die blutroten Augen der Fremden hatten sich bei der Erwähnung des königlichen Status' für einen kurzen Moment geweitet, dann aber wieder ihren typisch zynischen Ausdruck angenommen. "Was mischt Ihr Euch denn bitte in meine Privat­angelegenheiten ein?!" Sacris hob die Augenbraue daraufhin erneut, behielt jedoch seine Fassung. "Verzeiht, aber durch Euer auffälliges Störverhalten habt Ihr es gerade zu einer sehr öffentlichen Angelegenheit gemacht."

In diesem Moment erschien eine kleine Stadtpatrouille in ihrem Sichtfeld, welche bereits in ihre Richtung eilte. Das war dem Prinzen nicht entgangen, so fuhr er knapp zu dieser hin nickend fort: "Wenn Ihr Euch weigert, mir Euren Namen zu nennen, kann ich Euch selbstverständlich auch gerne gleich den Henxern dort übergeben." Als die henxischen Wachen Seine Königliche Hoheit erkannten, blieben sie demonstrativ stehen, als würden sie auf eine Art Anweisung warten …

Allmählich schien der Frau die Lage zu dämmern, in welcher sie sich befand, denn der Zug am Arm verringerte sich und sie nahm eine resignierte Haltung ein. Da ließ sie der junge Mann los und schickte die Patrouille mit einem Wink fort. "Laetitia … Laetitia Vendetta, wenn Ihr es genau wissen wollt", stellte sie sich mit einer giftigen Grimasse vor, die wohl einst ein Lächeln hätte werden sollen. "Laetitia Vendetta …", wiederholte Sacris langsam, "Gut, Laetitia. Nun sagt mir, was Euch das Recht gibt, diesen Jungen namens … Herby?, wenn ich es richtig verstanden habe, derartig anzugreifen?"

Lewyn hatte sich derweil zu dem kleinen Knaben auf das Kopfsteinpflaster hingekniet und dessen Wange begutachtet. Das waren ja richtige Schnittwunden, aus denen er blutete …! "Das sieht aber gar nicht gut aus …", bemerkte der lang­haarige Mann sanft und schüttelte den Kopf. "Da hat sie dich ja ganz schön zugerichtet, was, Kleiner?" Mit einem freundlichen Lächeln versuchte er, das Kind zum Reden aufzumuntern. "Wie heißt du denn eigentlich?" Der Junge sah ihn zunächst verwirrt an, fing sich aber recht schnell und antwortete: "Ich … ich bin Herby."

Lewyn lächelte erneut und tätschelte ihn. "Also gut, Herby-", ein ganz leichtes Kribbeln, welches sich plötzlich von den Fingern aus in seinen gesamten Körper ausbreitete, ließ den hellhaarigen Mann innerlich stocken – doch versuchte er, sich davon nichts anmerken zu lassen, und fuhr fort, als wäre nichts gewesen: "Sag, wieso ist sie denn so fürchterlich sauer auf dich?"

Da wurde der Junge traurig und rief: "Sie ist immer so! Ständig schimpft sie mit mir und schlägt mich und-" In diesem Moment trat Laetitia mit einem ihrer schweren Lederstiefel zwischen die beiden und fing an, erneut zu keifen: "'Immer so'?! Pass auf, dass du dir nicht noch eine deftige Tracht Prügel für zu Hause einfängst!" – "Lasst ihn sprechen!", befahl der Prinz, welcher daran interessiert war, die näheren Umstände zu erfahren; so hatte sich die Frau geweigert, irgendeine Er­­klärung zu liefern.

"Sie ist … immer so …?" Lewyn verzog ungläubig das Gesicht und sah fassungslos zu der Frau neben ihnen auf. "Ich dachte, eine Mutter … liebt ihr Kind …?" – "Er ist aber nicht mein Kind!", warf Laetitia angewidert mit lautstarkem Protest ein, "Ich bin zwar für seine Erziehung zuständig, aber ich würde mich erhängen, wäre diese Missgeburt mein Kind!" Und schon wollte sie wieder auf den armen Jungen losgehen, da hielt sie Sacris zum zweiten Mal zurück.

"Ich träume …", wisperte Herby auf einmal leise und zog mit den Fingern einen Kreis über das staubige Kopfsteinpflaster vor ihnen, "Ich habe viele und seltsame Träume … Träume von Orten, an denen ich noch niemals zuvor gewesen bin, aber das Gefühl habe, dass es sie wirklich gibt …!", und er sah Lewyn mit einem Stirnrunzeln an, "Ich träume von Menschen, von Dingen … Alles so wirklich und doch so … sonderbar …" Während der Junge redete, verklärte sich sein Blick zunehmend, bis er derart geistesabwesend wirkte, als befände er sich in einer gänzlich anderen Sphäre. Und dennoch ruhten seine Augen ununterbrochen auf seinem langhaarigen Gegenüber, als würde er ihn ganz konzentriert ansehen …

"Seht Ihr jetzt, wo das Problem liegt?!", rief Laetitia aufgebracht und ruderte in ihrer Rage mit den Armen, "Er spricht ständig von diesen Träumen und seinen ach so großen Prophezeiungen – Hirngespinste sind das, nichts als Hirngespinste!" – "Aber das ist doch kein Grund, gleich so gewalttätig zu werden …!", entgegnete Lewyn erschüttert und konnte seinen Blick vom befremdlichen Gesichtsausdruck des Kindes nur mit großer Mühe abwenden.

"Schön! Die Verantwortung liegt jedoch bei mir, dass aus ihm ein anständiger Kerl und kein hirnrissiger 'Möchtegern-Traumseher' wird!", erwiderte die Fremde bissig und stemmte ihre Hände in die Seiten, "Und abgesehen davon, was wisst Ihr schon darüber …! Erst heute hat er wieder diesen irren Traum gehabt-" – "Es war kein Traum, sondern eine Vision gewesen …!", setzte Herby sofort mit gedämpfter und geheimnisvoller, ja, nahezu verschwörerischer Stimme zu einer Erzählung an.

"Na, was hab ich gesagt?!", deutete die Frau mit dem Zeigefinger wütend auf das kleine Kind, "Ein Möchtegern-Traumseher! Man sollte ihn ordentlich-" – "Schht!", unterbrach sie der Blonde hastig, als er bemerkte, dass Herby wieder diesen entrückten Gesichtsausdruck annahm und wegzutreten begann.

Dieser Junge war etwas Besonderes, dessen war sich Lewyn sicher. Seine Ausstrahlung, … seine Verhaltensweise, … seine ganze Erscheinung …! – All dies unterschied sich so sehr von dem, was dem jungen Mann bisher begegnet war, dass er sich gänzlich davon eingefangen fühlte. Herby weckte in ihm ein Interesse, das er nicht genauer zu erklären vermochte. Er kam einfach nicht umhin, den Worten dieses Kindes lauschen zu wollen …

"Beim nächsten Vollmond werden sie kommen

Die Gleichen, die in jene Siedlung eingedrungen sind

Zum Berg des Ahiveth

Und ihr Opfer wird bei ihnen sein

Um es zu stoßen in den Schlund des Todes.

Einer wird kommen, sie zu retten,

Doch es wird vergebens sein …"

Nach einer Weile klärte sich der Blick des Jungen wieder und er sah die beiden Männer ernst an, als erwartete er bestätigende Worte oder irgendeine Bewahrheitung seiner Vision. Ein unbehaglicher Moment der Stille entstand, in welchem zumindest Sacris für seinen Teil nicht das Geringste mit dem Gesagten anfangen konnte.

"Nun …", meinte Lewyn nachdenklich, ohne den Blick von den hellen, klaren Augen des Jungen abzuwenden, "Sage mir, mein kleiner Freund: Wie sah es denn aus, das 'Opfer', das du gesehen hast …?" Daraufhin schloss Herby seine Lider und begann, langsam mit der Hand umherzuwirbeln. "Ihr Aussehen, ihr Aussehen …", murmelte er und zog unglücklich die Augenbrauen zusammen, "Ich … ich kann sie nicht sehen … Ich kann sie nicht erkennen …! Ich weiß nur, dass sie ein Mädchen ist."

"Ein Mädchen?", hakte Lewyn zögernd nach; aber der Junge hörte ihn nicht und fuhr im Fluss seiner Gedanken fort: "Und die Person, die sie retten sollte, … sie … sie sah aus wie … – argh!", und er fasste sich angestrengt an die Stirn, "Wie sah sie bloß aus?! Es, es war ein Mann …! Ein Mann, ja …! Ein-", dann fiel es Herby wie Schuppen von den Augen und er starrte ganz unvermittelt Lewyn an. "Du warst es."

"Was!?", entfuhr es dem Prinzen, welchem die Bedeutung jener Worte schlagartig klar wurde, "Weißt du, was du da gerade sagst, Bursche?! Du beliebst wohl zu scherzen, doch rate ich dir: Treib es nicht zu weit!" Vollkommen uneingeschüchtert ignorierte der kleine Junge ihn jedoch und sah allein sein langhaariges Gegenüber an, … welches seinen Blick still erwiderte.

So schob Herby vorsichtig eine Hand nach vorne – sodass sich ihrer beider Fingerspitzen berührten – und starrte den jungen Mann vor sich dabei ohne Unterlass mit seinen eisblauen, sonderbaren Augen an …

Lewyn schnappte unmerklich nach Luft. Da! Da war dieses leichte Kribbeln wieder …! Ja, er wusste es. Er wusste, dass es stimmte! Er konnte deutlich spüren, dass sein Schicksal an das des Kindes geknüpft war … Und er merkte auch, dass sich der Junge dessen genauso bewusst war wie er-

"Das reicht jetzt!", platzte es plötzlich aus Laetitia heraus und alle Anwesenden zuckten zusammen. "Herby, wir gehen!", mit diesen Worten, hatte sie den Knaben am Arm gepackt und ihn in einem derartigen Tempo die Straße hinabgezerrt, dass er kaum mit seinen kurzen Beinchen hinterherkam.

Wäre da nicht der Ernst der Lage gewesen, hätte Sacris nun vermutlich verblüfft feststellen können, wie gekonnt diese Frau doch tatsächlich mit ihrem Schuhwerk auf dem Kopfstein­pflaster laufen konnte. Doch er verschwendete keinen weiteren Atemzug für sie. Vielmehr ruhte sein Blick auf dem Rücken der langhaarigen Gestalt zu seinen Füßen, welche auch weiterhin auf dem Boden verharrte …

Dem Prinzen bangte davor, mit seinem Freund zu sprechen – so sehr fürchtete er, was nun kommen würde; Lewyn war schließlich viel zu empfänglich für solcherlei Dinge, als dass er sich nun keine ernsthaften Sorgen um ihn machen müsste …! Vollmond würde in weniger als zwei Wochen eintreten … und es waren sicherlich mindestens zwölf Tagesritte bis zum Feld der Himmelsspeere im nordwestlichen Teil des Gebirges des Grauens, in welchem sich der Berg des Ahiveth befand.

Man sagte, das Feld der Himmelsspeere war ein Überbleibsel jener Schlacht, welche einst vor Urzeiten stattgefunden hatte, als der Himmel selbst noch mit der Erde um die Macht gerungen hatte. Die Erde hatte sich geweigert, dem Himmelsgewölbe nachzugeben, und sich zu einem wallenden Monument aufgetürmt. Daraufhin war ihr schönes Antlitz von den schneidenden Böen des Himmelszorns entstellt und in großen Teilen gänzlich hinweggefegt worden. Zurückgeblieben waren Speeren ähnliche, bizarre Gebilde, die dem Wind zum Trotz in die Höhe ragten und sich nicht beugen ließen. Manchen Felsen sagte man sogar nach, beseelt zu sein und nach Vergeltung zu trachten. Die Menschen mieden diesen Ort der ewigen Stürme, denn er galt als verflucht: Nicht auch nur einer von jenen, die zum Feld der Himmelsspeere aufgebrochen waren, war jemals wieder von dort zurückgekehrt.

Als sich Lewyn nach einer Weile noch immer nicht geregt hatte, kniete sich Sacris neben ihm hin und suchte seinen Blick. Sein Freund schaute mit starren und glasigen Augen in die Ferne und rührte sich nicht. Der Prinz erschauderte in Unbehagen und fuhr einmal mit der Hand durch das Sichtfeld seines Gefährten hindurch. "Lewyn …?"

Ganz plötzlich schrak Lewyn auf, als wäre er wieder zu sich gekommen, blinzelte flüchtig zu seinem dunkelhaarigen Begleiter hinauf und erhob sich hastig. "Lewyn …?", fragte Sacris unsicher, richtete sich ebenfalls wieder auf und folgte dem Blonden nach, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

"Lewyn …!", wiederholte der Prinz nun etwas bestimmter, als er zu ihm aufgeschlossen und noch immer keine Reaktion vernommen hatte. "Was ist denn …?", erwiderte sein Freund auf einmal leise und abwesend, ohne den Blick von einem unendlich fernen Punkt am Horizont abzuwenden.

Sacris runzelte die Stirn. Das gefiel ihm überhaupt nicht. "Lewyn, was … was ist los mit dir?" Sein Gefährte antwortete auf diese Frage nichts – entweder ignorierte Lewyn ihn bewusst oder hörte ihn schlichtweg nicht. Und dass sich sein Innerstes gerade auch noch so anfühlte, als hätte sich eine große Faust darum geschlossen, machte die Situation nicht leichter. Tatsächlich fühlte der dunkelhaarige Mann auf einmal etwas in sich aufsteigen, was er so noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte: Panik.

"Verdammt, Lewyn, ich rede mit dir!", rief Sacris in das unerträgliche Schweigen hinein, packte seinen Freund an der Schulter und sah ihn eindringlich an. Der Blonde wandte ihm schier gleichgültig seine Aufmerksamkeit zu. "Ja, kaum zu überhören", meinte er knapp. "Was … was ist denn nur los mit dir?!" Der Prinz verstand das Verhalten seines Gefährten nicht. "Was soll denn los sein?", entgegnete Lewyn erschreckend nüchtern. Sacris zögerte einen Moment, ehe er auf ihn einging: "Was … was wirst du denn jetzt unternehmen …?" Daraufhin schwieg der Blonde und wich seinem Blick wieder abwesend in die Ferne aus.

"Lewyn, bitte, rede mit mir …!" Der Ruf des Prinzen wurde zu einem Flehen.

Da wandte sich ihm Lewyn unerwartet mit einem mehr als undefiniert sonderbaren Gesichtsausdruck zu. "Habe ich eine Wahl …?", kam es tonlos von ihm. Der dunkelhaarige Mann stutzte, setzte zu einer Erwiderung an – bis er erkannte, dass er überhaupt nicht wusste, was er auf diese Frage, geschweige denn diesen befremdlichen Blick hin sagen sollte! – und … ließ es schließlich ganz bleiben. Beklommen schweigend betrachtete Sacris seinen Freund und biss sich auf die Unterlippe. Celine … Sie wünschten sich beide ihr unbekümmertes Lachen zurück, ja, … aber …!

Als Lewyn merkte, dass von seinem Gegenüber nichts mehr kommen würde, wandte er sich wortlos zum Gehen – doch Sacris hielt ihn instinktiv zurück und sprach: "Aber du hast den Jungen doch gehört: Es wird vergebens sein! Wenn du ihm Glauben schenkst, wieso dann nicht wenigstens konsequent?!" Der Blonde sah ihn mit erhobener Augenbraue an und entgegnete kühl: "Du hast aber auch gehört, dass es diejenigen sein werden, die in unsere Städte eindringen." – "Dafür gibt es keine Garantie", warf sein Gefährte sachlich ein. Da legte Lewyn mit einem Mal begeistert den Kopf schief und wies mit einer Hand in die Welt hinaus. "Siehst du denn nicht, was das für eine Gelegenheit ist, Sacris? Wenn die Wurzel des Übels erst einmal bekannt ist, kann endlich wieder Frieden zwischen den Menschen und den Elfen einkehren …!"

Nun … Der Prinz musst dieser Aussage zustimmen. Wenn der Junge die Wahrheit gesagt hatte, so würde sich dort zumindest offenbaren, wer das Verschwinden der Menschen zu verschulden hatte. "Also gut, damit hast du durchaus recht …", meinte er daher ernstlich nachdenkend und nickte langsam, "Aber wir wissen dennoch nicht, wer oder was uns dort erwarten wird. Und wenn-" – "Moment mal, 'wir'?", hakte Lewyn sofort nach und verengte die Augen zu Schlitzen. "Ja, natürlich 'wir'! Was denn sonst!?", entgegnete sein Freund verwirrt kopfschüttelnd, "Denkst du etwa, ich lasse dich allen Ernstes alleine aufbrechen?!" – "Vergiss es, ich werde ohne dich gehen!", erwiderte der langhaarige Mann bestimmt, "Du bleibst hier."

"Stell dich nicht so an, Lewyn", fuhr ihn Sacris ernst an, "Das wäre vollkommener Irrsinn – und das weißt du genauso gut wie ich!" Während sein Gefährte still den Kopf schüttelte, atmete der Prinz einmal durch, um seinen Ärger zu zügeln, und begann, in etwas ruhigerem Tonfall von Neuem zu ar­­gumentieren: "Wenn der Junge bereits sagt, dass es zwecklos ist, ihr zu Hilfe zu eilen, impliziert es doch schon, dass wir ihnen unterlegen sind, oder?" – "Ja, aber dann kennen wir wenigstens unseren Feind und können beim nächsten Mal gezielter gegen ihn vorgehen!", erklärte Lewyn zuversichtlich. Der Prinz lachte trocken und rief: "Und du meinst, wir überleben das Ganze, um daraus Schlüsse für ein 'nächstes Mal' ziehen zu können? Das hier ist kein Nachmittagsausritt, Lewyn; wir sprechen hier vom Feld der Himmelsspeere!"

Der hellhaarige, junge Mann hielt einen Moment inne, ehe er sich verzweifelt die Haare raufte und zu rechtfertigen begann: "Ich … ich muss wenigstens versuchen, sie zu retten, sonst werde ich meines Lebens nicht mehr froh …!" Mit einem Mal schaute Lewyn seinen Freund voller Qual an und vergrub die bebenden Finger in dessen Oberteil. "Sacris, ich … i-ich kann sie doch nicht einfach allein auf dem Berg zurücklassen …!" Seine Stimme nahm einen weinerlichen Unterton an und er lehnte sich näher und näher an seinen dunkel­haarigen Gefährten, dass sich zunehmend Mitleid in dessen Blick legte. Wie konnte Sacris in diesem Moment auch anders, als dem Leid seines Freundes nachzugeben?

Aber dann richtete Lewyn das Wort wieder gegen ihn und schwenkte unerwartet in den Angriff um: "Ich meine: Willst du Celine etwa einfach so im Stich lassen?! Das kann doch nicht dein Ernst sein, Sacris!", und er schlug ihm gegen die Brust, "Abgesehen davon warst du schließlich selbst dabei, als Vater mich kurz vor seinem Tode bat, Sorge für Celine zu tragen – gerade du müsstest doch eigentlich am besten wissen, wie ich dazu stehe!"

Der Prinz seufzte schwermütig, legte seinem Freund eine beschwichtigende Hand auf die Schulter und erklärte sanft: "Bitte, versteh mich nicht falsch, Lewyn, aber wenn es dir nur darum geht, dein Gewissen zu beruhigen, dann kann ich diese Reise unter keinen Umständen zulassen." Und noch ehe Lewyn etwas erwidern konnte, ergriff Sacris seinen Kopf vorsichtig mit beiden Händen und redete zutiefst besorgt auf ihn ein: "Ich habe nämlich schon seit Anbeginn dieser ganzen Geschichte ein sehr mieses Gefühl und es wird nicht gerade besser, wo du nun diesen wahnwitzigen Entschluss fasst, auf gut Glück den Helden zu spielen …!"

Aber Lewyn wies jede Wärme seines Freundes ab und brachte wieder einen Schritt Abstand zwischen sie. Voll Ablehnung verengte er die Augen zu Schlitzen und meinte harsch: "Also willst du lieber zusehen, wie sich die Völker im Krieg niedermetzeln?!", und er zeigte mit dem Zeigefinger auf sein dunkel­haariges Gegenüber, "Du bist der nächste König! Das kann dir doch unmöglich egal sein!"

Der Prinz zwang sich, Ruhe zu bewahren. "Ein toter König nützt niemandem etwas", sprach er besonnen, "Ich bin der Meinung, wir sollten meinen Vater bitten, uns zu helfen." – "Nein, das lehne ich strikt ab!", entgegnete Lewyn auf der Stelle und stemmte kopfschüttelnd die Hände in die Seiten. "Warum?", hakte Sacris nach. So fügte sein Gefährte etwas kleinlaut hinzu: "Er … er würde …", der Blonde zögerte und sah verlegen zu Boden, "Er würde sich niemals durch die Worte eines kleinen Kindes zu so etwas überreden lassen …"

Da wusste der Prinz auch nicht mehr weiter und verzweifelte regelrecht: "Lewyn, verdammt noch mal! Was soll das? Du scheinst dem Jungen ja umso mehr zu glauben!" Mit beiden Armen wies Sacris auf seinen Freund und wusste einfach nicht, wie er seinen inneren Gefühlswallungen – seiner Sorge, seiner Furcht! – Ausdruck verleihen sollte. "Ich meine, du … du bist ja geradezu todesmutig dazu bereit, jedes seiner Worte für bare Münze zu nehmen! – oder zumindest die Teile seiner Prophezeiung, die dir zusagen."

"Tzeh!", stieg der Blonde sofort erbost auf seine Anklage ein, "Du hast ihn ja auch nicht erlebt, wie ich ihn erlebt habe!" Dann nahmen seine azurblauen Augen jedoch plötzlich einen geheimnisvoll entrückten Ausdruck an und er wurde ebenso beschwörend wie der kleine Junge zuvor. "Da war eine, eine … 'Verbindung' zwischen uns, die-", doch Lewyn brach sofort ab, als er dem skeptischen Blick seines Freundes begegnete. Er schloss seinen Mund und drehte den Kopf zur Seite. "Ich … ich habe verstanden", sprach er leise, doch entschlossen, "Lassen wir das. Ich gehe alleine."

Somit wandte sich der hellhaarige Mann ohne Umschweife zum Gehen – nur hinderte ihn leider wie zuvor eine beharrlich festhaltende Hand an seiner Schulter daran, sich von der Stelle zu bewegen.

Der Prinz schüttelte fassungslos den Kopf und konnte nicht glauben, was gerade vor sich ging. "Lass mich, Sacris", zischte der Blonde, als sein Gegenüber auch weiterhin keine Anstalten machte, ihn loszulassen, "Lass. Mich. Gehen. Habe ich gesagt." Dabei schwang in seiner Stimme eine solch ungeahnte Bedrohlichkeit mit, dass sich dem dunkel­haar­igen, jungen Mann sämtliche Nackenhaare sträubten. Ein eisiger Schauer kroch Sacris den Rücken hinauf und er fühlte, dass ihn der Schreck über diese Situation lähmte. Das … war nicht mehr der Lewyn, den er kannte. Wie … wie war das möglich? Was war bloß mit ihm geschehen?!

Unfähig, etwas zu tun oder zu sagen, ließ der Prinz jedoch auch weiterhin nicht von seinem Freund ab und blickte stattdessen stirnrunzelnd zu Boden …

Lewyn hatte indes allerdings schon die Hände zu Fäusten geballt und atmete gerade betont deutlich ein und aus. Da lachte Sacris mit einem Mal bitter auf und meinte mit gesenktem Blick: "Und ich soll dich dann jetzt einfach so in den Tod ziehen lassen, ja …?", und er sah seinen Gefährten innerlich zerrissen an, "Einfach mal 'Tschüss!', nachwinken … und gut ist …?"

Augenblicklich wandte sich ihm Lewyn mit hasserfüllten, eiskalten Augen zu und fuhr ihn dabei mit messerscharf schneidender Stimme an: "Du hast dein Königreich, doch was habe ich? Mir ist nichts geblieben – weder Vater noch Mutter! – und das Letzte, was ich noch habe, werde ich auch ver­suchen zu retten! … und sollte ich dabei letztlich zu Grunde gehen."

Sacris war unmerklich zusammengezuckt und starrte sein Gegenüber vollkommen starr und entsetzt an. Der vernich­tende Blick seines Freundes gab ihm endgültig den Rest. Er wich ihm schmerzlich verletzt zur Seite aus und wartete einige endlose Sekunden, bis er schließlich mit kaum vernehmbarem Flüstern entgegnete: "Du hast … also nichts, ja …?", und der Griff seiner Hand löste sich, "Wenn du das so siehst, … will ich dich nicht weiter aufhalten." Ohne aufzublicken machte der dunkel­haarige Mann auf dem Absatz kehrt und schritt mit rauschendem, dunkelroten Mantel zügig zum Schloss davon.

In jener Nacht sollte der Prinz keine Ruhe finden. Er wälzte sich rastlos im Schlaf hin und her und wachte immer wieder schweißgebadet auf, nur um festzustellen, dass es bloß ein Traum gewesen war; aber die Bilder wollten nicht verschwinden und brannten sich regelrecht in seinen Geist ein, bis er es nicht mehr aushielt, aus dem Bett aufsprang und fluchend nach seinem Schwert griff.

Kurze Zeit später stand Sacris barfuß und lediglich mit einer dunklen Hose bekleidet auf der obersten Ebene des tempelartigen Palastes. Diese besaß zur Hälfte eine säulengestützte Überdachung, lag ansonsten aber frei unter dem weiten Nachthimmel. Dort schwang der junge Mann sein schlicht gehaltenes, einschneidiges Schwert; denn im Kampf hatte der Prinz schon seit jeher den Einklang mit sich selbst gefunden – jede Zierde lenkte nur unnötig ab.

Der Himmel war dunkel und bewölkt, die stehende Luft schwül und angespannt. In der Ferne läutete eine leise Glocke zur dritten Stunde, während das Meer in endlosem Rauschen sein Dasein fristete … Abgesehen davon herrschte völlige Ruhe: keine Tiere, keine Menschen, nichts. Lediglich das surrende Geräusch der scharfen, schmalen Klinge durchbrach die Stille dieser sternlosen Nacht.

Sacris versuchte, sich auf seine Techniken zu konzentrieren, die Hiebe und Stöße präzise und doch kraftvoll auszuführen. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen, wich elegant zur Seite aus, blockte parallel dazu, holte in einer beschleunigten Bewegung von unten aus, drehte sich dabei um seine eigene Achse und … verharrte in der vollendeten Bewegung aufrecht – das Schwert zur Seite gerichtet, wo sein Blick zornig bei seiner Schwertspitze hängenblieb. "Was wollt Ihr hier, Mercurio?"

Der königliche Berater blickte mit hochgezogenen Augen­­brauen auf die Klinge, welche weniger als eine Daumenbreite von seiner Kehle entfernt war. "Ihr … habt eine erstaunliche Begabung für den Umgang mit dem Schwert, habe ich das je erwähnt?" Der kahlköpfige Mann senkte eine der beiden Augenbrauen und sah zum Prinzen auf. Dieser starrte ihn unbeirrt an. "Lenkt nicht ab, Mercurio, ansonsten stelle ich mich beim nächsten Mal vielleicht aus Versehen ein wenig ungeschickter an."

Der königliche Berater hob die zweite Augenbraue wieder an und ging behutsam einen Schritt zur Seite, wobei er die Schwertspitze von ihrer stumpfen Kante aus mit sanfter Gewalt von sich wegschob; so machte es schließlich nicht den Anschein, als würde der Prinz die Klinge allzu schnell freiwillig senken.

Der Wissende begann, langsam vor sich hin zu schreiten, und legte seine gespreizten Finger aneinander. Er blinzelte mehrmals und legte dabei nachdenklich die Stirn in Falten. "Nun, wenn Ihr mir gestatten würdet, dies zu bemerken: Ich kann mich nicht entsinnen, Euch jemals dermaßen schlecht gelaunt erlebt zu haben …" Langsam und deutlich ertönten die Worte des Mercurios durch die Nacht und seine grauen Augen musterte den jungen Mann vor sich sehr genau. "Mein Prinz, … was beschäftigt Euch so sehr?"

Sacris nahm das Schwert zurück, behielt den Berater aber aufmerksam im Blick. "Seid Ihr jetzt etwa hergekommen, um mich zu bemuttern?", entgegnete er kühl spottend, "Verkennt nicht Eure Position, Mercurio." Jener hielt daraufhin im Schreiten inne und sah ihn ruhig an. "Mein Prinz …", sagte der Wissende betont sachlich und wählte seine Worte weise, "Ich bin ein Berater. Lasst mich Euch also den 'Ratschlag' geben …", er schaute flüchtig auf die Waffe herab und wieder zum jungen Mann vor sich hinauf, "… nichts 'Unbedachtes' anzustellen."

Sacris sah ihn grimmig an und schwieg. So schenkte ihm der Mercurio einen bedeutungsvollen Blick und fuhr fort: "Wie Ihr wisst, befindet sich Seine Königliche Majestät zur Zeit in einem höchst labilen Gesundheitszustand. Die Sorge um das Überleben seines einzigen Sohnes könnte ihn regelrecht 'zu Grabe bringen', wenn Ihr versteht, was ich meine …", er hielt kurz inne und nickte leicht, "Gehabt Euch wohl." Noch ehe Sacris etwas erwidern konnte, war der Mercurio Hal mit einer fließenden Bewegung in die Dunkelheit entschwunden.

Nun war er wieder alleine, der Prinz der Menschen, starrte auf die Stelle, an welcher noch vor einem Atemzug der königliche Berater gestanden hatte, … und runzelte die Stirn. Ja, die Wissenden … Langsam schien er zu begreifen, warum man sie so nannte. Ihm schauderte es innerlich und er wandte sich ab.

Sacris ließ sich die Worte des Mercurios allerdings noch einmal durch den Kopf gehen und schritt dabei gedankenversunken auf die halbhohe, abgerundete Steinmauer zu, welche die oberste Ebene des Palastes eingrenzte. Vor der Mauer blieb er stehen, stellte einen Fuß darauf und stützte sich mit dem Ellbogen auf seinem angewinkelten Knie ab.

Bedrückt ließ der Prinz den Blick in die Ferne schweifen … Das Meer war unruhig in dieser Nacht, sehr unruhig. Die schwarzen Wellen brachen sich unaufhörlich an den felsigen Klippen der Bucht und der raue Wind, welcher plötzlich vom kalten Ozean her aufzog, vermochte einen größeren Sturm mit sich zu tragen …

Lewyn lag wach in seinem Bett und starrte an die dunkle Decke seines Zimmers. Ein großer Aufbruch stand ihm kurz bevor und … er würde alleine gehen.

Was ihn erwartete, was auf ihn zukam – das wusste der hellhaarige, junge Mann nicht im Geringsten abzuschätzen. War es richtig oder falsch? Darum ging es hier nicht. Er musste fort. Er musste zum Berg des Ahiveth. Er musste mehr erfahren. Er musste Celine retten.

Der Prinz sog die kühle, frische Luft ein und blickte zu den rasch über ihm hinwegziehenden Wolken hinauf. Schwer behangen drohten diese jeden Moment aufzubrechen und alles unter sich zu begraben. Es war eine wahrlich finstere Nacht: eine Nacht, in welcher die Geister nicht ruhten – weder die lebenden noch die toten …

Plötzlich knurrte Sacris auf und hieb mit einem wuchtigen Schlag ins Nichts vor sich. In dem Moment schien der aufbrausende Wind selbst den Atem anzuhalten. Ein weiteres Mal zeichneten sich vor seinem inneren Auge die Bilder und Eindrücke des Alptraumes ab. Ein weiteres Mal krampfte sich sein Innerstes zusammen. Ein weiteres Mal wollte er einfach nur aufschreien! "Verflucht, Lewyn …!" Der junge Mann rammte sein Schwert in den kahlen Stein des Bodens und brach in sich zusammen. "Warum tust du mir das an?!"

Ein tiefes Donnern und Grollen fuhr durch die Nacht und leitete ein solch heftiges Gewitter ein, dass viele Einwohner Hymaeticas unverhofft aus ihrem leichten Schlaf gerissen wurden. Mächtige Blitze zuckten durch den violetten Himmel und der Regen ergoss sich in derart großen Mengen über das Land, dass sich die Straßen der Stadt in reißende Flüsse und ihre Dächer in Wasserfälle verwandelten. Karren und Fässer, die lose und unbefestigt waren, wurden in den Strömen davongetragen. Die peitschenden Böen bogen Äste und Wipfel zur Erde hinab und, was zu alt oder zu schwach war, wurde er­barmungslos mit­gerissen. Das Vieh in den Ställen und Höfen scheute und schnaubte aufgebracht, suchte Schutz, wo es nur konnte, und rückte verzweifelt zusammen, um dem fürchter­lichen Gewitter trotzen zu können.

Der nunmehr tosende Strom Tical und seine Bäche traten über ihre Ufer und tauchten die Wiesen und Weiden des Umlandes in ihre Untiefen. Einige Fischerboote lösten sich mit klappernden Segeln und scheppernden Ketten von den Anlegestellen und trieben durch die Strömung ins tobende Meer davon.

Dann fuhr plötzlich ein besonders greller Blitz vom Himmel zur Erde hinab und schlug in eine hölzerne Ruine außerhalb der Stadt auf einem Abhang ein. Er entfachte in ihr ein solch verzehrendes Feuer, dass selbst die schwersten Wolkenschauer der Nacht eine geraume Weile brauchten, um die sengenden Flammen vollständig zu tilgen.

Lewyn zuckte bei dem darauffolgenden Donner­­grollen zusammen und rutschte an der Wand hoch, wo er die Beine mitsamt Bettdecke an sich heranzog und nachdenklich aus dem hohen Fenster seines Zimmers blickte.

Mensch, er fürchtete sich ja noch immer vor Gewittern …! Der Blonde lächelte traurig und seufzte … Was Sacris wohl jetzt tat …? Schlafen vermutlich, wie jeder andere Normalsterb­liche zu dieser späten Stunde. Nur er, Lewyn, konnte keine Ruhe finden, da ihn seine unmittelbar bevorstehende Zukunft so sehr beschäftigte. Ja, davon war er vollkommen überzeugt: Es waren einzig und allein die Reise und die daraus erhofften Erkenntnisse – und nicht zuletzt die große Sorge um Celine! – welche ihn so sehr beschäftigten. Ja, mit absoluter Sicherheit. Einen anderen Grund konnte es gar nicht geben. Wer würde sich denn keine Gedanken vor solch einem bedeutenden Aufbruch machen?

Dann seufzte der junge Mann aber ein weiteres Mal und erinnerte sich plötzlich an jene Zeit, da er und Sacris noch klein gewesen waren und ihr erstes Gewitter gemeinsam erlebt hatten …

Sie hatten damals in den goldenen Wiesen außerhalb der Stadt bei der alten Mühle gespielt, als der Sturm ebenso plötzlich ins Land hereingebrochen war wie in der jetzigen Nacht. Die Jungen hatten, ohne weiter zu überlegen, Unterschlupf in der Mühle gesucht. Doch diese hatte im beständigen Wind dermaßen schaurig laut geknarzt und geknackt, dass Lewyn dadurch fast noch mehr in Angst und Schrecken versetzt worden war als durch das fürchterliche Donnergrollen des Gewitters von draußen.

Sacris wiederum hatte sich einen unentwegten Spaß daraus gemacht, den ohnehin schon schreckhaften, kleinen Blondschopf noch zusätzlich so häufig wie möglich zu erschrecken. Das daraufhin immer wieder erklungene Japsen hatte ihm wohl eine herrliche Freude beschert …

Tz …! Lewyn wäre dort halb gestorben vor Angst – und sein Freund hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als alles nur noch zu verschlimmern …! Tja, das hatte er ihm dafür aber auch am nächsten Tag so heftig heimgezahlt, dass sich Sacris in zehn­facher Ausführung bei ihm entschuldigt hatte.

Der Blonde schüttelte die nostalgischen Gedanken aus seinem Kopf und beobachtete stattdessen stillschweigend, wie die Lichtblitze einander am Himmel jagten. Plötzlich kam in ihm die äußerst seltsame Frage auf, ob sich die Blitze deshalb jagten, weil sie einander nicht leiden konnten, oder ob sie es vielleicht einfach nur taten, weil sie verspielt miteinander kämpfen wollten … nur verspielt kämpfen wollten …

Die prasselnden Wassermassen auf seinen nackten Schultern kümmerten ihn wenig. Der eisig schneidende Wind um seinen klammen Oberkörper störte ihn nicht. Sacris verharrte auf sein Schwert gestützt am Boden bis zu den Knöcheln im Wasser kniend und ließ den Sturm seine Ängste und Befürchtungen mit all der Macht und Gewalt, die er mit sich brachte, hinwegfegen. Mochte sein Freund überleben. Mochte er lebend wieder zu ihm zurückkehren.

Terra Aluvis Vol. 1

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