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Kapitel Zwei

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»Als ich Isaac kennengelernt habe, war er zehn. Er war nur ein Junge, der damit zurechtkommen musste, erblindet zu sein, und nun lernen sollte, wie er mit seinem ersten Blindenhund zusammenlebt. Cody. Ich glaube, das war sein Name, wenn ich mich recht erinnere. Es liegt nun schon eine Weile zurück… Mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war.« Dr. Fields schüttelte den Kopf.

Ich runzelte die Stirn. »Erblindet?«

Dr. Fields nickte. »Er war in einen Autounfall verwickelt, als er acht war. Seine Mutter ist im Auto gestorben. Er saß auf dem Beifahrersitz und hat die Abdeckung des Airbags abbekommen.«

Mein Magen wurde schwer. »Oh Gott.«

Er nickte erneut. »Sie hat ihn offenbar mitten im Gesicht getroffen. Netzhautablösung oder so etwas in der Art. Hat im Koma gelegen und war lange im Krankenhaus, wie mir gesagt wurde. Auf jeden Fall hatte er Glück, überhaupt noch am Leben zu sein.«

Lieber Himmel.

Dr. Fields holte tief Luft und stieß sie laut wieder aus. »Inzwischen kann man da was machen, wissen Sie?«, sagte er kopfschüttelnd. »Netzhautablösung. Wenn sie schnell genug sind. Aber er hatte überall Frakturen«, er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, »und war lange ohne Bewusstsein.« Er seufzte erneut. »Er war nur ein Junge.«

Er musste mir sicher nicht erklären, welche Fortschritte Medizin und Technologie im Verlauf der letzten zwanzig Jahre gemacht hatten. Ich wusste, wie sehr sich allein in der Tiermedizin die Praktiken und Möglichkeiten von denen von vor zwei Jahrzehnten unterschieden.

»Aber«, fuhr er fort, »es war nicht genug, dass er mit dem Verlust seiner Mutter und seines Sehvermögens fertigwerden musste, denn ein paar Jahre später wurde sein Blindenhund Cody krank und starb. Ich glaube, Isaac war um die vierzehn.« Dr. Fields wiegte den Kopf. »Der arme Junge war am Boden zerstört.«

»Gott«, war alles, was ich zustande brachte.

»Dann bekam Isaac einen neuen Blindenhund, Rosie.« Dr. Fields lächelte. »Sie war eine herrliche Hündin. Ein schwarzer Labrador, klug, stark wie ein Ochse. Isaac hat sie angebetet. Sie geliebt. Sie waren unzertrennlich. Ich glaube, in vielerlei Hinsicht hat diese Hündin viele Verluste in seinem Leben ausgeglichen.«

Er seufzte und sein Lächeln erstarb. »Aber Isaacs Vater kam nicht mit dem Tod seiner Frau zurecht, geschweige denn mit der Verantwortung für einen blinden Sohn. Er hat sich zu Tode getrunken. Es war ein langer, schleichender Prozess, aber er ist gestorben, als Isaac gerade einmal achtzehn war.« Dr. Fields seufzte erneut. »Es war Hannah, die sich in all den Jahren um Isaac gekümmert hat. Das tut sie immer noch.«

Dieses Mal war es an mir, hörbar auszuatmen. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu ahnen, was als Nächstes kommen würde. »Und Rosie?«

»Rosie wurde eine Weile, bevor sie gestorben ist, von ihren Pflichten als Blindenhund entbunden. Sie war alt, nicht mehr so schnell, aber als ihr Gehör nachließ, wurde sie für sie beide zu einem Sicherheitsrisiko.« Er schüttelte den Kopf, als er sich erinnerte. »Isaac hat darauf bestanden, dass sie trotzdem bei ihnen bleibt. Sie ist nach zwei Jahren gestorben, aber er hat sich geweigert, vorher auch nur darüber nachdenken, sich einen neuen Assistenzhund zuzulegen, bevor sie starb. Das ist jetzt wieder zwei Jahre her.«

»Oh Gott. Wie furchtbar.«

»Ja«, stimmte Dr. Fields mit einem wissenden Nicken zu. »Und nun hat er Brady. Seit etwa sechs Monaten.«

»Er ist ein toller Hund.«

»Er ist ein herrlicher Hund«, stimmte der ältere Tierarzt zu. »Aber er ist nicht Rosie. Wenigstens nicht für Isaac.«

»Geht es ihm darum?«, fragte ich. »Versucht er irgendwie einen Fehler an ihm zu entdecken?« Warum sollte er? Und warum sollte ein Tierarzt das zulassen? »Warum erlauben Sie ihm, dass er das tut?«, fragte ich, ohne mich darum zu scheren, ob ich unhöflich klang. »Warum ermöglichen Sie Isaac das und muten es dem Hund zu?«

Er seufzte. »Brady ist der am besten versorgte Hund, den ich je sehen durfte. Die Tests sind nicht invasiv, also unterziehe ich ihn einfach alle zwei Wochen einer Grunduntersuchung. Ich würde nie etwas tun, das Brady belastet.«

Ich kannte den überragenden Ruf dieses Mannes und wusste, dass er keinem Tier schaden würde. Und er hatte recht: Brady war in makelloser Verfassung.

»Was genau hofft Isaac zu finden?«

Dr. Fields zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er sucht nach einer Ausrede oder einem Grund, warum er keinen Blindenhund haben sollte.«

»Es ist nicht verpflichtend, einen Assistenzhund zu haben«, sagte ich. »Isaac muss sich dafür entschieden haben. Wenn er also keinen Hund möchte, warum hat er dann das langwierige Auswahlverfahren auf sich genommen?«

Dr. Fields lächelte. »Oh, er will Brady. Er will diesen Hund von ganzem Herzen. Aber ich glaube, er hält ihn auf Armeslänge von sich weg, weil er fürchtet, dass ihm wieder das Herz gebrochen wird.« Sein Lächeln wurde traurig. »Ich glaube, er geht davon aus, dass er nicht verletzt wird, wenn er nicht zulässt, dass Brady ihm viel bedeutet.«

Ich sackte in meinem Stuhl zusammen. Mein Magen war verkrampft, meine Stimme leise. »Das ist sehr traurig.«

»Ist es. Ich dachte einfach, wenn ich lange genug mitspiele und ihm Zeit gebe, begreift er, dass nicht Brady das Problem ist.«

Nein, das Problem war nicht der Hund, sondern der Mensch. Wie meistens. Ich seufzte erneut. »Also sehe ich ihn in zwei Wochen wieder?«

Dr. Fields nickte. Dann sagte er: »Oh, stimmt ja. Er wollte ja neues Kalziumpulver haben. Er meinte, er hätte die letzte Packung verschüttet. Möchten Sie ihm morgen Ersatz vorbeibringen? Mal sehen, wie er sich Ihnen gegenüber verhält, wenn ich nicht dabei bin?«

»Okay«, willigte ich ein. »Das ist vermutlich eine gute Idee. Er schien nicht unbedingt begeistert von mir zu sein.«

Dr. Fields lachte. »Oh, das liegt nur daran, dass er Sie nicht kannte. Er wird schon bald auftauen, Sie werden schon sehen.«

***

Ich rief vorher an und erklärte Hannah, dass ich Bradys Kalziumpulver auf dem Heimweg vorbeibringen könnte. Sie meinte, das würde perfekt passen, da Isaac donnerstags lange arbeitete. Erst als ich auflegte, begriff ich, was sie gesagt hatte. Isaac arbeitete. Ich bin nicht sicher, warum mich das überraschte. Tat es einfach.

Genau genommen: Je mehr ich über Isaac nachdachte, desto mehr fesselte er mich. Als ich an jenem Abend vor seinem Haus vorfuhr, fragte ich mich, wie man mich empfangen würde. Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, nahm ich die kleine Dose Kalziumpulver für Brady und ging zur Haustür. Bevor ich anklopfen konnte, öffnete Hannah lächelnd die Tür.

»Hi, Carter. Kommen Sie bitte herein.«

Ich ging durch das Foyer und das große Wohnzimmer, in dem wir am anderen Tag gesessen hatten, und betrat die Küche. Ich zeigte Hannah das Kalziumpulver bewusst, bevor ich es auf die Arbeitsfläche stellte. »Wie bestellt.«

»Oh, danke«, erwiderte sie mit ihrem üblichen Lächeln. »Wir sind gerade erst nach Hause gekommen. Der Verkehr war heute höllisch.«

Gerade als ich fragen wollte, wo Brady und Isaac waren, hörte ich das vertraute Geräusch von Krallen auf Fliesen und dann, wie eine Tür geschlossen wurde. Sie mussten draußen im Garten gewesen sein. Brady kam zuerst herein, mit wedelndem Schwanz und zufriedener Miene. Ich lächelte ihm zu.

Aber dann erschien Isaac.

Abgesehen von der Designersonnenbrille, die er schon bei unserer ersten Begegnung aufgehabt hatte, trug er einen gut sitzenden, grauen Anzug und ein weißes Hemd, bei dem der erste Knopf offenstand. Mir klappte der Mund auf. Himmel. Er sah schon in lässiger Kleidung gut aus, aber im Anzug? Und zudem in einem, der so gut saß? Er wirkte, als wäre er einem Katalog für Männermode entstiegen. Er war… wunderschön.

»Sind Sie das, Dr. Reece?«, fragte er.

Ich hatte immer noch den Mund offen und als Hannah mich ansah, war mir klar, dass sie Bescheid wusste. Sie hatte mich beim Starren ertappt, beim Gaffen, wie ich beim Anblick ihres Bruders beinahe sabberte.

»Oh«, flüsterte sie, ging aber rasch darüber hinweg. »Ja, er hat das Medikament mitgebracht.« Sie grinste.

»Ja«, sagte ich, räusperte mich und sah Isaac an. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich so spät vorbeikomme.«

»Nein«, antwortete Isaac. »Ich habe einen unbekannten Wagen gehört und bin davon ausgegangen, dass Sie es sind.« Dann fragte er: »Was für ein Auto ist es?«

»Oh.« Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken auf die Reihe zu bekommen. »Ein Jeep, Allradantrieb.«

Isaac wollte eine weitere Frage stellen, aber Hannah unterbrach ihn. »Warum setzt ihr euch nicht hin und ich bringe euch etwas zu trinken?« Dann legte sie uns beiden eine Hand auf den Arm und schob uns ins Wohnzimmer. Sie lächelte immer noch. »Geht nur«, drängte sie. »Ich bringe euch gleich was.«

Isaac murmelte seiner Schwester etwas Unflätiges zu, aber er ging zum Sofa und setzte sich. Ich folgte ihm, nahm genau gegenüber Platz und er verschwendete keine Zeit, bevor er mit seinen Fragen loslegte.

»Wie alt sind Sie?«

»Siebenundzwanzig.«

»Universität?«

»UConn«, sagte ich. Dann fügte ich den vollständigen Namen hinzu: »Universität von Connecticut.«

Er nickte. »Lieblingssport?«

»Eishockey.«

»Spielen oder anschauen?«

»Anschauen. Ich war nicht schnell genug, um selbst zu spielen«, verriet ich ihm lächelnd. Die Befragung machte irgendwie Spaß. Wenigstens redete er mit mir.

»Aber Sie können Schlittschuh fahren?«

»Ja.«

»Welche Haarfarbe haben Sie?«

»Schwarz.«

»Augen?«

»Braun.«

»Hautfarbe?«

»Was?«

Isaac neigte den Kopf. »Ihre Abstammung? Sind Sie schwarz, weiß, Asiate, Europäer?« Er schürzte ungeduldig die Lippen und ließ mir keine Zeit zu antworten. »Es ist eine berechtigte Frage. Sie wissen, wie ich aussehe. Also würde ich auch gern wissen, wie Sie aussehen.«

»Ist das wichtig?«, fragte ich.

Er lachte, aber es war kein fröhliches Geräusch. »Warum zum Teufel soll es wichtig sein, wie Sie aussehen? Warum sollte es mich kümmern? Ich kann den Unterschied zwischen einem weißen und einem schwarzen Mann nicht sehen, wissen Sie? Für mich ist das vollkommen egal.« Er holte tief Luft und begann von Neuem. »Ich versuche mir nur ein Bild von Ihnen zu machen.«

»Ich bin weiß, europäische Abstammung…« Ich wusste nicht so recht, wie ich es erklären sollte. Ich war noch nie in einer vergleichbaren Situation gewesen. »Ich verbringe so viel Zeit im Freien wie möglich, also bin ich ein bisschen gebräunt.«

»Was tun Sie im Freien?«

»Campen, wandern«, antwortete ich. »Na ja, jedenfalls zu Hause bin ich wandern gegangen«, gab ich zu. »Hier habe ich noch keine Gelegenheit gehabt, mich umzusehen. Aber das werde ich noch.«

Isaac nickte, dann fragte er nach kurzer Stille: »Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Eine Freundin?«

Ich zögerte. »Nein.«

»Sie haben gezögert.«

Ich lächelte. »Habe ich?«

»Ja«, gab er zurück. »Das verrät mir entweder, dass Sie gelogen haben oder dass es ein schwieriges Thema ist.«

»Sie müssen meinen Bruder entschuldigen«, sagte Hannah und brachte uns zwei Eistees. Einen reichte sie Isaac. »Er hat so viel Taktgefühl wie eine Abrissbirne.«

Isaac zuckte mit den Schultern. »Hat keinen Sinn, groß um den heißen Brei herumzureden. Ich kann mir den Luxus nicht leisten, anhand von Gesichtsausdrücken die Ehrlichkeit eines Menschen abzuschätzen.«

Hannah schnaubte. »Du kannst dir auch den Luxus von Manieren nicht leisten.«

Isaac seufzte und ich lachte in mich hinein, während ich Hannah in der Küche verschwinden sah. Sie waren genau, wie ich mir Geschwister immer vorgestellt hatte. Und ich stellte fest, dass Isaac mich faszinierte. Sicher, er sah gut aus, sehr gut sogar, aber es war mehr als das. Er war blind, ja, aber er wirkte selbstsicher, stolz und sogar hochmütig. Es war eine Mauer, die er um sich herum hochgezogen hatte, um sich zu schützen. Das war mir bewusst.

Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, wie der wahre Isaac Brannigan war.

Seine Lippen zuckten nachdenklich, aber bevor er etwas sagen konnte, rief Hannah uns aus der Küche etwas zu und unterbrach uns. »Carter, bleiben Sie zum Abendessen?«

»Oh, ich kann nicht«, entgegnete ich. Ich stand auf und wandte mich Hannah zu. »Danke für das Angebot, das ist wirklich nett. Aber ich sollte gehen. Zu Hause wartet eine sehr ungeduldige Dame auf mich.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie weder Ehefrau noch Freundin haben«, sagte Isaac vom Sofa aus.

Ich lächelte. »Die sehr ungeduldige Dame, auf die ich mich beziehe, ist ein Border-Collie-Mix namens Missy. Sie ist meine Hündin.«

»Sie haben nicht erwähnt, dass Sie einen Hund haben«, antwortete er.

»Sie haben nicht gefragt.«

Isaacs hielt den Mund und schmollte geradezu. Hannah lachte.

»Findest du irgendetwas lustig, liebe Schwester?«, fragte Isaac gereizt.

Sie lachte erneut. »Jepp.« Dann wandte sie sich mir zu. »Vielen Dank, dass Sie das Pulver vorbeigebracht haben.«

»Kein Problem«, gab ich zurück. »Ich habe diese kleine Befragung ziemlich genossen.«

»Sie meinen die Spanische Inquisition?«, stichelte sie und kam zu uns.

Ich lachte wieder in mich hinein.

Offensichtlich gern bereit, den Seitenhieb zu ignorieren, erhob sich Isaac und drehte sich in unsere Richtung. Er spannte die Schultern an. »Haben Sie irgendwelche Fragen an mich?«

Ungefähr eine Million. Aber plötzlich wollte ich sie nicht stellen. Ich wollte den Fortschritt des heutigen Abends nicht ruinieren, indem ich das Falsche fragte.

»Nur eine.«

Er legte den Kopf schief, offensichtlich überrascht von meiner Reaktion. Dann hob Isaac stolz das Kinn. Abwehrend. »Nur zu.«

»Habe ich bestanden?«

Für einen Moment herrschte Stille. »Was bestanden?«

»Die Spanische Inquisition? Den kleinen Test, dem Sie mich unterzogen haben. Habe ich bestanden?«

Isaac wandte das Gesicht ab. »Vielleicht.«

Ich grinste und Hannah stieß mich heimlich mit dem Ellbogen an.

»Dann sehe ich Sie nächste Woche«, sagte ich zu ihm.

Ich weiß nicht, warum mir seine Bestätigung so wichtig war, aber ich grinste auf der ganzen Heimfahrt.

Unnahbares Herz

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