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Das wilde Schlagen seines Herzens

Tobias wusste nicht, was er von dieser Nacht halten sollte, in der wieder einmal Oskar Palluschka den Weg durch das Fenster gewählt und ihn dabei geweckt hatte. Als der Junge am Morgen, nach einigen Stunden unruhigen Schlafes, aufwachte, neigte er dazu, alles, was er in der Nacht erlebt hatte, als einen Traum zu begreifen. Und er war froh, endlich einmal selbst erlebt zu haben, wie es war zu träumen.

In der Nacht war es nicht so einfach gewesen. „He, wer bist du?“ hatte er gefragt, als plötzlich ein Mädchen (im Pyjama!) in seinem Zimmer stand. Etwas Schlaueres war ihm nicht eingefallen. Und dann war – ploff – die kleine Gestalt verschwunden gewesen.

Das sprach nun wirklich alles für einen Traum. Oskars ungeduldiges Gesicht am Fenster war ihm dagegen nur allzu real erschienen. Tobias hatte sich und das wilde Schlagen seines Herzens damit beruhigt, dass das Klopfen am Fenster ihn wohl mitten in einem Traum geweckt hatte, sodass die beiden Ebenen sich vermischten.

Das klang logisch.

Wenn nur Palluschkas Bemerkung in der Nacht nicht gewesen wäre.

Was das zu bedeuten hätte, hatte der nach Alkohol stinkende Mann lallend gefragt, als er endlich durch das Fenster geklettert war, da wäre doch eben noch jemand im Zimmer gewesen. Ein Mädchen. Im Pyjama. Ob Tobias nicht noch ein wenig zu jung dafür wäre? Hatte er gefragt. Dazu hatte der Untermieter blöde gegrinst und dem Jungen verschwörerisch zugeblinzelt.

„Quatsch“, hatte Tobias ungehalten geantwortet und den Strahl der Taschenlampe durch das Zimmer geschwenkt. Hier ist niemand, das könne er doch sehen. Er hatte Palluschka zur Tür gedrängt, der sich das grummelnd gefallen ließ, und ihn hinauskomplimentiert. Dann war er wieder zu Bett gegangen, doch es dauerte lange, bis er wieder in den gewohnt traumlosen Schlaf fiel.

Am Morgen war er fast sicher, dass er nur geträumt hatte. Vielleicht war Palluschka von Anfang bis Ende ein Bestandteil des Traums gewesen? So musste es wohl sein. Das erklärte alles. Und Tobias dachte weiter: Wenn Träumen immer so aufregend ist, will ich mehr davon!

Er verzichtete darauf, später am Tag den Untermieter zu fragen, wie er in der Nacht nach Hause gekommen wäre. Er wollte nicht in die Verlegenheit geraten, Oskar Palluschka von seinem Traum – seinem kostbaren ersten Traum, an den er sich erinnerte – zu erzählen. Und der Zimmermann erwähnte das Geschehen der Nacht mit keinem Wort. Was nicht verwunderlich war, denn wenn er morgens mit dickem Kopf aufwachte, erinnerte er sich selten an Einzelheiten aus der hinter ihm liegenden Nacht.

Mit Irene sprach Tobias auch nicht darüber. Es wäre ihm peinlich gewesen, von einem Traum mit einem Mädchen im Pyjama in seinem Zimmer zu erzählen.

Aber mit irgend jemandem musste er über das aufregende Erlebnis reden. Wegen des Mädchens kam auch sein Kumpel Jupp nicht in Frage. Hätte er von Liane, dem Mädchen aus dem Dschungel geträumt, hätte er davon erzählt. Aber das Mädchen in dem Traum war jünger als er gewesen. Davon mochte er auch dem Schulfreund gegenüber nichts sagen. Tobias träumt von kleinen Mädchen. Nein danke, das musste nicht sein.

Blieb ihm noch ein Ansprechpartner.

„Herr Hansen“, sagte er so nebenbei, als er am Nachmittag nach der Schule den Kiosk aufsuchte und in den Comic-Heften blätterte, „wie ist das beim Träumen? Weiß man manchmal nicht, wann der Traum aufhört und man wieder wach ist?“

Der Einarmige sah ihn überrascht an. „Wie kommst du darauf?“ fragte er.

Tobias druckste herum, weil er die Einzelheiten seines nächtlichen Erlebnisses auch hier nicht preisgeben wollte. „Es ist nur, weil ich letzte Nacht geträumt habe und mich daran erinnern kann. Das habe ich vorher nie gekonnt. Und ich weiß nicht genau, wann der Traum zu Ende war. Weil plötzlich unser Untermieter am Fenster war.“ Herr Hansen wusste von den nächtlichen Gewohnheiten des Zimmermanns.

„Was hast du geträumt?“ fragte er.

„Kann mich nicht richtig erinnern“, wich Tobias aus. Das stimmte zwar nicht, aber so war es doch mit Träumen. „Irgendwie wirres Zeug. In meinem Zimmer“, fügte er hinzu.

„In deinem Zimmer. Und der Palluschka war nicht Teil des Traums?“ fragte der Kioskbesitzer nach.

„Das weiß ich nicht so genau. Deswegen frage ich. Ich kenne mich mit Träumen nicht aus.“

„So, so.“ Herr Hansen wirkte nachdenklich. „Du bist aber sicher, geträumt zu haben.“

„Ja schon.“ Mehr brachte Tobias nicht heraus. Er wollte das Mädchen im Pyjama nicht erwähnen.

„Ich bin kein Fachmann fürs Träumen“, wehrte Herr Hansen ab. Plötzlich schien er verärgert zu sein. Tobias sah keinen Grund, Herrn Hansens offensichtlichen Unmut auf sich zu beziehen. Er hatte doch nichts Schlimmes gesagt. Trotzdem ließ er das Thema fallen.

Als er den Kiosk verließ, ging er noch nicht in die Wohnung, um seine Schulaufgaben zu machen. Stattdessen steuerte er die benachbarte Eingangshalle des U-Bahnhofes an und löste am Kassenhäuschen eine Fahrkarte.

Er war zu unruhig, um nach Hause zu gehen. Irene war auf Arbeit, und bei der Nachbarin war er an diesem Tag nicht zum Essen angemeldet. Er konnte mit dem Nachmittag anfangen, was er wollte.

Er fuhr auf der Ringlinie bis zu den Landungsbrücken, wo er ausstieg. Vom Bahnsteig aus blickte er auf die Elbe. Sofort spürte er das Fernweh, das ihn immer überkam, wenn er hier am Geländer stand und auf den Hafenbetrieb hinab schaute.

Es war ein sonniger Tag, mit weißen Wolken in einem blauen Himmel und einem frischen Wind vom Wasser her. Sein Blick folgte den Schiffen, die stromabwärts Richtung Nordsee dampften. Dort irgendwo lag die Begrüßungsanlage Willkommenhöft am Schulauer Fährhaus.

Vor einigen Jahren hatte Irene – damals dachte er noch, sie wäre seine Mutter – einen Ausflug mit ihm dorthin gemacht. Fasziniert hatte er verfolgt, wie jedes einlaufende Schiff über Lautsprecher mit seiner eigenen Nationalhymne begrüßt wurde. Auf den Frachtschiffen standen die Matrosen an der Reling und winkten herüber. Und wenn beim Auslaufen der Schiffe die Abschiedsmelodie gespielt wurde, lief es ihm heiß und kalt über den Rücken.

Stromabwärts – da lagen Nordsee und Atlantik, Afrika, Amerika und Asien. Da lag die grenzenlose Ferne, nach der er sich sehnte.

Heute aber war er abgelenkt durch die Erinnerung. Wenn Träume sich immer so lebendig anfühlten wie das, was er in der vergangenen Nacht erlebt hatte, dann wollte er mehr davon. Und wieso hatte er bisher nicht geträumt? Oder hatte er geträumt und sich nur nicht daran erinnert?

Und dann war da dieser Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ: Wenn Oskar Palluschkas nächtlicher Auftritt kein Traum gewesen war, was war dann mit dem Teil vorher? Palluschkas gelallte Frage, da wäre doch eben noch jemand im Zimmer gewesen, ging ihm nicht aus dem Kopf.

Durch die Lektüre zahlloser Science-Fiction-Geschichten geschult, hatte Tobias keine Mühe, auch das Unwahrscheinliche zu denken. Und so erlaubte er sich schließlich, während er noch immer an den Landungsbrücken stand, den Gedanken, der den ganzen Tag über in seinem Hinterkopf herum spukte und seinen Herzschlag beschleunigte:

Wenn nun nichts von den Geschehnissen der Nacht ein Traum gewesen war – welches Abenteuer erwartete ihn dann? Materialisation aus dem Unterbewusstsein, wie in dem Film Alarm im Weltall (seiner Meinung nach der beste Zukunftsfilm aller Zeiten, in Technicolor und Breitwand), Besuche aus der Zeit oder aus anderen Dimensionen, durch Galaxis war ihm nichts davon fremd. Natürlich war es höchst unwahrscheinlich, dass ausgerechnet er, ein vierzehnjähriger Junge in Hamburg, das Ziel eines solchen Besuches war. Aber was unwahrscheinlich war, war nicht unmöglich.

Was ihn wirklich quälte war der Gedanke, dass er nichts, aber auch gar nichts, unternehmen konnte, um das Rätsel zu lösen. Er wusste ja nicht einmal, ob er in der Nacht besser schlafen oder besser wach bleiben sollte, um nichts zu verpassen. Und noch schlimmer: wenn nun überhaupt nichts mehr geschah, nie mehr in seinem ganzen Leben? Wenn das Unerklärliche einmal angeklopft und sich dann für immer verabschiedet hätte. Das war der schlimmste Gedanke von allen.

Er stieg in die nächste Bahn und fuhr weiter über die Ringlinie, am Hafen entlang und dann hinunter in den Tunnel zum Rathaus und zur Mönckebergstraße, bis er hinter der Lübecker Straße wieder ans Tageslicht kam. In Barmbek stieg er aus. Von hier aus konnte er über den Wiesendamm zu Fuß nach Hause laufen. Er wollte vorher noch nachsehen, welchen Film es am Sonntag in der Kindervorstellung im Kino an der Hufnerstraße gab.

Es wurde der erste Teil eines Zorro-Films gezeigt, den er schon kannte: am Schluss steckt Zorro, der maskierte Rächer eingesperrt in einer fensterlosen Kammer, deren Wände aufeinander zu rücken und ihn zu zerquetschen drohen. Fortsetzung im zweiten Teil. (Der Held überlebt dank eines genialen Tricks.)

Als er endlich zu Hause ankam, war es höchste Zeit für die Schularbeiten. Bis zum Ende der Woche musste er im Deutschunterricht nun endlich etwas über Tausendundeine Nacht sagen können. Als er in der Bücherhalle im Wasserturm nach den Erzählungen gesucht hatte, war er anfangs in die Jugendabteilung gegangen. Aber die Ausgaben, die dort standen, waren alle gekürzt und für Kinder bearbeitet. Außerdem brauchte er eine Einführung oder einen Kommentar.

Er hatte sich an die freundliche Frau am Tresen gewandt, und die hatte ihn in die Erwachsenenabteilung geschickt. Er wäre nie auf die Idee gekommen, Tausendundeine Nacht bei den Klassikern zu suchen. Aber gerade dort fand er eine vollständige mehrbändige Fassung der Geschichtensammlung. Versehen mit einem Vorwort und einem Kommentar, so wie er es für die Schule brauchte. Er hatte alle Bände nach Hause geschleppt und sich an die Lektüre gemacht. Nun verstand er auch, warum der Deutschlehrer mit den Augen gezwinkert hatte, als er ihm den Tipp gab, nach einer vollständigen Ausgabe zu suchen. Hier fand er ungekürzt die pralle Sinnlichkeit, die in den Erzählungen steckte, sie mit Leben füllte und seine Phantasie befeuerte. Er musste jedoch einsehen, dass er unmöglich in der kurzen Zeit, die ihm noch zur Verfügung stand, alle Geschichten lesen konnte.

Für den Vortrag in der Schule wählte er die Geschichte des Buckligen aus, die Scheherazade in der vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten Nacht erzählt, weil sie nicht sehr lang war und er sie witzig und spannend fand:

Der Bucklige, Hofnarr des Sultans, war beim Schneider und dessen Frau zu Gast und verschluckte sich an einer Fischgräte, an der er erstickte. Seine Gastgeber wollten den Leichnam unauffällig beiseite schaffen und deponierten ihn im Hause eines anderen. Der dachte, er hätte den Buckligen zu Tode gebracht, und wollte ihn ebenfalls loswerden. Und so ging die Geschichte über mehrere Runden. Der Lieblingstäter von Tobias war der christliche Makler, der im betrunkenen Zustand nachts an einer Straßenecke sein Wasser abschlagen wollte und dabei in ein Handgemenge mit dem Toten geriet.

Alle Beteiligten fühlten sich schuldig am Tod des Buckligen, und sollten am Schluss, einer nach dem anderen, dafür gehängt werden. Da sich aber immer wieder ein neuer Täter fand, der den vorhergehenden entlastete, hatte der Henker schließlich genug von der Sache und weigerte sich, die Hinrichtung zu Ende zu bringen. Und als der Sultan von alldem erfuhr, lachte er ein letztes Mal herzlich über seinen Hofnarren.

Tobias hatte diese Geschichte so oft gelesen, dass er es sich zutraute, sie in freier Rede vor der Klasse nachzuerzählen. Was ihm noch fehlte, war ein schlauer Kommentar. Den musste er sich an diesem Nachmittag erarbeiten.

Als er die Einführung von Hugo von Hofmannsthal las, vergaß er für eine Zeit lang sogar die Erlebnisse der vergangenen Nacht:

„In der Jugend unseres Herzens, in der Einsamkeit unserer Seele fanden wir uns in einer sehr großen Stadt, die geheimnisvoll und drohend und verlockend war, wie Bagdad und Basra. Die Lockungen und die Drohungen waren seltsam vermischt; uns war unheimlich zu Herzen und sehnsüchtig; uns grauste vor innerer Einsamkeit, vor Verlorenheit, und doch trieb ein Mut und ein Verlangen uns vorwärts und trieb uns einen labyrinthischen Weg ...“

Das wilde Schlagen seines Herzens hatte sich durch diese Lektüre nicht beruhigt. ‚Mut und Verlangen trieb uns vorwärts’ – in den Worten, die er las, meinte er sich zu erkennen, und eine Aufregung ergriff ihn, die er nicht bändigen konnte.

Als er am späten Abend im dunklen Zimmer am offenen Fenster saß und in die Nacht starrte, fragte er sich, wie er denn wieder zur Ruhe kommen sollte, wenn es nicht eine Fortsetzung des Geschehens – des Traumes? – der letzten Nacht gab.

Es begab sich aber, dass er nicht lange warten musste.

Traumtrinker

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