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Ein Tag voller Fragen

Wenn ich nachts aufwache, dachte Lena Winzig mit klopfendem Herzen, und ein fremder Junge steht vor meinem Bett, frage ich bestimmt nicht: „He, wer bist du?“ Wahrscheinlich kriege ich kein Wort hervor und verkrieche mich unter der Bettdecke. Das war ziemlich mutig gewesen. Von dem Jungen.

Wendy hatte sich ähnlich verhalten, als sie mitten in der Nacht aufwachte und einen Jungen in ihrem Zimmer sah, der auf dem Boden saß und weinte. Das war Peter Pan gewesen, der seinen verlorenen Schatten suchte.

Papa hatte ihr die Geschichte früher, als sie noch klein war, abends vorgelesen. Damals hatte sie es unheimlich beeindruckt, dass Wendy gar keine Angst zeigte, sondern nur neugierig war. „Hallo, Junge“ hatte sie gesagt und ihn gefragt, warum er weint. Damit hatte das Abenteuer für sie und ihre Brüder begonnen.

Aber ich bin nicht Peter Pan, dachte Lena, ich tauche nicht nachts in fremden Zimmern auf. Ich kann auch nicht fliegen. Und überhaupt habe ich das alles nur geträumt.

Dass es sich um einen Traum handelte, sah man doch auch an der Schreckensgestalt, die plötzlich am Fenster aufgetaucht war und nach ihr gegriffen hatte. Im Nachhinein war sie über das Erscheinen des Monsters fast froh, denn bis dahin hatte es überhaupt nicht wie ein Traum gewirkt. Danach war sicher, dass sie träumte.

Das war aber auch eine hässliche Fratze gewesen, da draußen an der Fensterscheibe: rot, rund, aufgedunsen und behaart, mit einer riesigen schmutzigen Pranke. Kein Wunder, dass sie vor Schreck aufgewacht war.

Doch Lena wusste, dass es so nicht gewesen war.

Denn eigentlich war sie nicht davon aufgewacht, sondern erst, als der Junge sie ansprach. Tobias, der Traumjunge aus der Vergangenheit. So nannte sie ihn bei sich. Und wenn sie es in Gedanken aussprach, lief ihr ein Kribbeln über den Rücken. Es war ein bisschen gruselig, aber nicht sehr, eher aufregend.

Dass er sie ansprach hatte sie mehr erschreckt als das Monster am Fenster. Wieso eigentlich? Sie sprach doch auch sonst in ihren Träumen mit anderen Menschen. Gerade erst neulich, mit dem komischen Milchmann. Das gehörte beim Träumen dazu. Warum hatte sie es dieses Mal so erschreckt? Das verstand sie nicht, und es ließ ihr keine Ruhe.

Sie saß aufrecht in ihrem Bett und war froh über das Licht, das vom Flur in ihr Zimmer fiel. Sie sah sich um. Ja, das war ihr Zimmer, wie sie es kannte: keine Bücherstapel und Raketenmodelle, keine Monster, die an die Scheibe klopften. Stattdessen ihre Lieblingsposter an der Wand, viele Pferdebilder, und – darauf war sie stolz – ein Plakat von einem Pink-Konzert, das Papa ihr geschenkt hatte. Mit einer Unterschrift der Sängerin! Wie Papa das geschafft hatte, war ein Rätsel.

Sie stand auf und tappte zum Fenster. Ein wenig unheimlich war ihr dabei zumute, denn sie sah noch immer deutlich die Fratze des Monsters vor ihren Augen. Aber hinter der Fensterscheibe war nichts als die Nacht und der warme Schein der Straßenlaterne.

Sie sah hinaus. Da war ihre Schule auf der anderen Straßenseite. So, wie es sein sollte. Schneematsch lag auf der Straße und auf den Fußwegen.

Lena fasste sich ein Herz und öffnete das Fenster. Nicht, dass sie besonders mutig gewesen wäre. Aber gerade weil sie sich so genau an ihre Träume erinnerte, konnte sie gut zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Zumindest war das bisher so gewesen.

Sie atmete die kalte Nachtluft ein. Im Traum war es nicht Winter gewesen. Da war sie ziemlich sicher.

Sie lehnte sich hinaus und sah an der Hauswand hinab. Ihr fiel der Absatz auf, der unterhalb ihres Fensters am Haus entlang lief. Gesehen hatte sie ihn bestimmt schon früher, aber bisher hatte sie ihn nicht beachtet. Doch nun sah sie ihn mit anderen Augen:

Da konnte man drauf stehen. Wenn man schwindelfrei war. Lena war es nicht, so glaubte sie zumindest. Sie hatte es noch nicht wirklich ausprobiert. Aber wenn das Monster schwindelfrei war (hatte irgend jemand schon mal von einem Monster gehört, dem schwindelig wurde?), hätte es auf dem Absatz stehen können.

Lena kicherte. Plötzlich war das Monster in ihrer Vorstellung gar nicht mehr so furchterregend. Sie stellte sich vor, wie es sich an die Hauswand krallte und ängstlich nach unten sah. Kein Wunder, dass es unbedingt ins Zimmer kommen wollte.

Als sie mit ihren Gedanken soweit gekommen war, fühlte sie sich müde genug, um wieder schlafen zu gehen. Sie schloss das Fenster, tappte über den kalten Fußboden zurück zum Bett und kuschelte sich unter ihre Decke. Wer weiß, vielleicht würde sie noch einmal von dem Jungen aus der Vergangenheit träumen.

Doch das geschah nicht mehr in dieser Nacht.

Am Morgen versuchte Lena beim Frühstück mit ihrer Mutter über den Traum der letzten Nacht zu sprechen.

„Das war wieder so ein komischer Traum“, sagte sie kauend. Natürlich sagte Mama als erstes: „Sprich nicht mit vollem Mund.“ Dann fragte sie: „Was für ein Traum?“

„Ich war in meinem Zimmer. Aber es war nicht mein Zimmer. Es gehörte dem Jungen, der früher da gewohnt hat.“

Von dem Monster sagte sie erst einmal nichts. Sie wollte Mama nicht überfordern.

„Welcher Junge?“ fragte ihre Mutter stirnrunzelnd. „Da hat kein Junge gewohnt. Vor uns hatte ein altes Ehepaar die Wohnung. Das weißt du doch. Die sind jetzt im Altersheim.“

„Ich meine viel früher. Ganz viel früher. Der Junge hieß Tobias. Er war etwas älter als ich.“ Das war eigentlich Quatsch, denn der Junge war nicht nur ‚etwas älter’ als sie, er war uralt, steinalt, aber sie sprach von dem Jungen im Traum, und der war eben nur etwas älter als sie.

„Wie, du weißt sogar schon seinen Namen?“ Mama schien sich zu amüsieren. „Du interessierst dich also für Jungen?“

„Also wirklich, Mama!“ Jetzt wurde Lena ungeduldig. Immer diese Anspielungen von den Erwachsenen. Jungen interessierten sie nicht die Bohne. Aber der im Traum war nun einmal da. Den hatte sie sich nicht ausgesucht. „Ich kann mir doch nicht aussuchen, von wem ich träume. Und dass er Tobias heißt, weiß ich von Frau Dunlo. Die hat den gekannt, als er hier wohnte.“

„Frau Dunlo hat dir von einem Jungen erzählt, der hier früher gewohnt hat?“

Lena verdrehte die Augen. Manchmal war Mama ganz schön schwer von Begriff. „Sag ich doch.“

„He, Kleine, du brauchst gar nicht die Augen zu verdrehen.“ Mama entging wieder einmal gar nichts. „Und woher weißt du, dass das dieser Junge ist?“

Gute Frage. „Weil es mein Zimmer ist. Weil es sein Zimmer ist. Es ist das gleiche Zimmer, nur früher. Und die Milchkanne hat er auch im Kreis geschwenkt“, fügte sie triumphierend hinzu.

„Welche Milchkanne?“

Mama war heute morgen besonders begriffsstutzig. Da musste man geduldig sein.

„Mama! Das habe ich dir neulich gezeigt. Mit der alten Blechkanne von Frau Dunlo. Die hat früher dem Tobias gehört. Sagt Frau Dunlo.“

„So, so. ‚Sagt Frau Dunlo’. Langsam wundert mich gar nichts mehr. Ist doch kein Wunder, dass du so etwas träumst, wenn Frau Dunlo dir immer diese alten Geschichten erzählt. Das verfolgt dich bis in den Schlaf. Bei deiner Phantasie.“

Lena versuchte es noch einmal:

„Aber der Junge hat mich angesprochen.“

„Aha, er interessiert sich also für dich?“

Jetzt ging das schon wieder los. „Mama, das ist doch normal, dass der mich anspricht, wenn ich plötzlich vor seinem Bett stehe.“

Mama lächelte. „Das kann ich gut verstehen. Und wie ging es weiter? Was habt ihr dann gemacht?“

„Gar nichts. Ich bin aufgewacht.“

„Da bin ich doch erleichtert.“ Was wollte Mama damit nun wieder sagen?

Lena hatte den Eindruck, dass ihre Mutter sie nicht ernst nahm. Aber was sie über die Erzählungen von Frau Dunlo sagte, die sie bis in den Schlaf verfolgten: das klang vernünftig. Typisch für Mama: sie hatte immer eine vernünftige Erklärung für alles.

Nur hatte das Gespräch Lena überhaupt nicht weitergeholfen. Sie war nämlich nicht überzeugt. Ihre Unruhe blieb. Sie überlegte, ob sie Frau Dunlo von dem Traum erzählen sollte. Aber erst einmal musste sie in die Schule gehen. Schon komisch: jetzt wohnte sie direkt um die Ecke, und musste sich trotzdem morgens beeilen.

Am Nachmittag hätte Lena gern mit Frau Dunlo gesprochen. Aber das ging nicht, weil ihr Vater sie von der Schule abholte. Er hatte sich extra frei genommen, um mit Lena ins Planetarium im Stadtpark zu fahren. Ihre Freundin Cristabel und noch ein Mädchen (sie hieß Verena und roch nach Knoblauch) waren mit von der Partie. Als sie einstiegen, rümpfte Papa die Nase, aber er sagte nichts.

Die ganze Klasse war in Gruppen eingeteilt worden, die den Stadtteil erforschen sollten. Jede Gruppe hatte einen Auftrag bekommen. Ihrer war die Erkundung des Planetariums im Stadtpark.

Wenn es Sommer gewesen wäre, hätten sie mit ihren Fahrrädern fahren können. Aber jetzt war das Wetter zu schlecht. Deswegen hatte Papa seine Hilfe angeboten. Dabei war es nicht weit: im letzten Jahr, gleich nach dem Einzug in die neue Wohnung, hatte Lena mit dem Fahrrad die Umgebung erkundet und war bis zum Stadtpark gekommen. Zumindest bis zum Anfang, wo das Planschbecken war, in dem man Segelboote fahren lassen konnte. Wenn eines umkippte, war das nicht schlimm: man brauchte nur die Hosenbeine hochkrempeln und konnte es rausholen, denn das Becken war flach.

Dahinter lagen das Freibad und der Stadtparksee, und dahinter die große Wiese, und am Ende der großen Wiese stand der Wasserturm. In dem war aber kein Wasser mehr, sondern das Planetarium. Im Sommer kamen die Alsterdampfer bis auf den See. Und dann gab es noch eine kleine Insel, mit einer Holzbrücke und einem Bootsverleih. Da konnte man Tretboote mieten. Papa hatte es ihr versprochen, aber jetzt im Winter gab es keine Tretboote.

In der Badeanstalt war Lena noch nicht gewesen. Das Wasser war ihr zu dreckig. „Das ist nicht dreckig, dass ist das normale Seewasser“, hatte Mama gesagt. Aber Lena war es unheimlich, weil man nichts sehen konnte. Und Fische sollte es da auch geben. „Im Sommer gehen wir da hin“, hatte Mama angekündigt.

Lena fand an diesem Tag keine Gelegenheit mehr, mit Frau Dunlo zu sprechen. Als es Abend wurde und Zeit, zu Bett zu gehen, hatte längst ihre Neugier über ihre Ängstlichkeit gesiegt. Sie erwartete, wieder von dem Jungen zu träumen, und sie traf ihre Vorbereitungen.

Denn auch wenn es nur ein Traum war, der sie – wie sie hoffte – erwartete, so wollte sie in ihm nicht so gern im Pyjama herumlaufen. Das war ihr peinlich. Sie nahm sich fest vor, normal angezogen zu sein. Im Traum war schließlich alles möglich.

Und um dem nachzuhelfen, zog sie sich heimlich, nachdem Mama ihr gute Nacht gesagt hatte, Jeans und T-Shirt an und legte sich damit ins Bett. Die Decke zog sie hoch bis zum Hals, falls ihre Mutter noch mal hereinschauen sollte.

Klar war das irgendwie albern. Aber – und damit sprach sich Lena Mut zu – es sah sie niemand, und wer weiß, vielleicht half es.

Kurz vor dem Einschlafen wirbelten ihre Gedanken mächtig durcheinander: da war ein blonder Junge unter einem großen Federbett, und Frau Dunlo schwenkte eine Milchkanne und fragte, ob sie anschreiben lassen könnte, und Papa hing draußen vor dem Fenster und zog eine Grimasse, weil er nicht rein durfte, und Lena fand das ziemlich gemein und schlief dann endlich ein ...

Traumtrinker

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