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2.

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In den nächsten Tagen verstärkte sich die drückende Schwüle noch mehr. Vielleicht war es darauf zurück zu führen, dass die Stimmung in der Stadt immer gereizter wurde. Es kamen aber auch noch andere Faktoren hinzu: Seit Monaten schon kamen aus dem Reich Nachrichten, die die Anderen in Unruhe versetzten.

Es war die Rede von Brandstiftungen, von Plünderungen und von Gewalttaten. Es hieß, allerorten begännen die Anderen wieder zu flüchten. Viele aber auch, so hieß es, ließe man nicht gehen, sondern nahm sie in Gewahrsam, brachte sie in feste Lager und beschlagnahmte ihren Besitz.

Diese Nachrichten von außen erregten Gudenbrot. Vor drei Wochen hatte es in der kleinen Stadt die ersten Ausschreitungen gegeben. Der Kaufmann Meleni fand eines Morgens sein Geschäft verwüstet. Er glaubte, einen der flüchtenden Täter erkannt zu haben, und erstattete Anzeige. Daraufhin wurde er zwei Tage später im Dunkeln überfallen und brutal zusammen geschlagen.

Die jugendlichen Kampfgruppen verstärkten ihre Aktivität. Kein Anderer war vor ihren Beschimpfungen sicher, kein Anderhaus vor ihren Schmierereien und kein Anderfenster vor ihren Steinen.

Niemand wusste, wohin diese Entwicklung führen sollte. Aber alle fühlten, dass eine Veränderung unmittelbar bevorstand. Irgend etwas musste bald geschehen, lange konnte diese erhitzte Atmosphäre nicht ohne Folgen hochgehalten werden.

Dann, fünf Tage nachdem Peter Lisa am Fluss gesehen hatte, kamen Fremde nach Gudenbrot. Es waren tatkräftige junge Männer. Sie kamen mit Lastwagen und trugen das Parteiabzeichen auf ihren Mützen. Sie hatten Lautsprecher auf ihre Wagen montiert. Sie fuhren durch die Stadt und brüllten Hetzparolen gegen die Anderen in jedes Haus. Von nun an konnte sich kein Anderer mehr offen auf die Straße wagen.

Ein großer Teil der alteingesessenen Einwohner stand dieser Entwicklung ratlos gegenüber. Gewiss waren auch sie gegen die anderen Mitbürger eingestellt, aber den meisten von ihnen fehlte doch der Mut, ihre Vorurteile in die Tat umzusetzen. Sie zogen es vor, sich ebenfalls in ihren Häusern zu verkriechen und die Augen zu verschließen vor dem, was draußen vor sich ging.

Die jugendlichen Kampfgruppen wurden fortgerissen von der Begeisterung, die ihnen ihre älteren Kameraden aus dem Reich vorlebten. Sie stiegen mit auf die Lastwagen und ließen sich mit glühenden Ohren von dem Siegeszug der Partei berichten.

Am Abend des zweiten Tages nach der Ankunft der Männer aus dem Reich war eine große Kampfgruppenversammlung auf dem Hügel über der Stadt einberufen worden. Alle alteingesessenen jungen Leute von Gudenbrot machten sich schon am Nachmittag auf den Weg zum Treffpunkt, wo riesige Holzstapel aufgeschichtet worden waren, die bei Anbruch der Dämmerung entzündet wurden und weithin über das Land leuchteten. Die Anderen, die ihre Wohnungen nicht verließen, sahen aus ihren Fenstern mit Bangen hinauf zu dem Feuerschein. Sie kannten die Zeichen, die ihnen nichts Gutes verhießen.

Als die Nacht angebrochen war, saßen Hunderte von Jungen und Mädchen in ihren einheitlichen Uniformen um die Feuer, die Gesichter rot gefärbt von der hoch auflodernden Glut. Am Nachmittag waren weitere Lastwagen aus dem Reich mit Parteimännern in Gudenbrot eingetroffen. Die Männer waren den Hügel hinauf gestiegen und hatten sich unter die Jugendlichen gemischt. Überall waren Lautsprecher aufgebaut, und in der Mitte des Versammlungsplatzes zwischen den zwei größten Feuern stand ein Lastwagen mit einer aufgebauten Rednerbühne.

Den ganzen Abend schon dröhnten Kampfgesänge aus den Lautsprechern und machten jedes normale Gespräch unmöglich. Die Jugendlichen hielten einander untergehakt und sangen die Lieder begeistert mit. Weit hallte ihr düsterer Gesang über das sich duckende Gudenbrot. Ein unbeschreiblicher Rausch hatte sie erfasst: Sie fühlten, dass von heute an die Welt ihnen gehörte, dass nichts und niemand ihrem Ansturm gewachsen war.

Endlich stieg einer der Männer aus dem Reich auf den Lastwagen und ergriff das Wort. Er berichtete zunächst noch einmal vom unaufhaltsamen Vormarsch der Partei im Reich, vom Vertreiben der Anderen aus Dörfern und Städten, berichtete von ihren Gräueltaten, die man dabei aufgedeckt hatte, und vom Aufblühen der Gemeinden, die - wie er es nannte - gereinigt wären vom Jahrzehnte alten Unrat.

Dann fragte er, ob Gudenbrot hinter dem Reich zurück stehen wolle?

Darauf gab es nur eine Antwort, und Peter schrie sie genau so heraus wie seine Kameraden um ihn herum. Es hielt die Gruppen nicht mehr auf ihren Plätzen. Sie standen auf, drängten durcheinander, nach vorn, zum Lastwagen hin.

Der Redner aber fuhr fort. Er rief die Jugend auf, die Versäumnisse der Alten auszubügeln und Gudenbrot noch in dieser Nacht zu reinigen. Man müsste den Anderen endlich zeigen, dass sie hier nichts zu suchen hätten. Und wenn sie das nicht im Guten begriffen, wie es die letzten Tage ja gezeigt hätten, dann müsste man es ihnen noch etwas deutlicher machen.

Unbemerkt hatte sich am Anfang seiner Rede ein Teil der Männer aus dem Reich vom Versammlungsplatz entfernt. Als nun der Redner die Kampfgruppen einzeln aufrief, an alle die Frage stellte, wie lange sie eigentlich noch warten wollten, und dabei hinunter ins Tal wies, sahen alle, die seinem Blick folgten, inmitten von Gudenbrot ein Feuer aufflackern.

„Das ist der Anfang!“ schrie der Redner mit heiserer, überkippender Stimme. „Jetzt ist es an Euch, das Werk zu vollenden!“

Nun waren die jungen Kämpfer nicht mehr zu halten. Jeder Gruppe war schon am Tag ein Mann aus dem Reich zugeordnet worden. Der sammelte seine Schar um sich, dann strömten sie von der Höhe hinab in die Stadt, in der bereits an zahlreichen Stellen Flammen emporsprangen.

Die Gruppe, der Peter angehörte, kam als eine der letzten unten im Städtchen an. Das vor kurzem noch so beschauliche Gudenbrot befand sich im hellen Aufruhr. An verschiedenen Stellen brannten jetzt Läden und Häuser der Anderen. Der rote Schein der Feuer füllte die Straßen mit gespenstisch glühendem Licht.

Die Gruppe hastete durch die Gassen und löste sich dabei langsam auf, weil ihre Mitglieder sich nach allen Seiten verteilten. Schließlich bemerkte Peter, dass er allein war, und verlangsamte den Schritt. Er sah die Straße entlang, um festzustellen, wo er sich befand. Doch er erkannte sein Gudenbrot nicht mehr. Offenbar wurden die Kampfgruppen gezielt von Ortskundigen an die Häuser der Anderen herangeführt, und die Gebäude, die unangetastet blieben, lagen im tiefen Dunkel, als wollten die Bewohner es um jeden Preis vermeiden, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen oder abgeschaltet worden, so dass es nur der flackernde Schein der Brände war, der Licht spendete.Ein solches Gudenbrot hatte Peter noch nie gesehen.

Neben ihm klirrten die Scheiben eines Geschäftes und eine johlende Schar Jugendlicher stürmte in den Laden. Weiter vorn wurde gerade die Tür eines Hauses eingeschlagen. Eine tobende Meute verschwand im Inneren, tauchte aber nach kurzer Zeit wieder auf. In ihrer Mitte zerrten die Uniformierten einen alten Mann mit feinen, durchgeistigten Gesichtszügen heraus. Sie zwangen ihn, auf der Straße vor dem Haus niederzuknien. Eine Gruppe von ihnen stürmte wieder ins Innere des Gebäudes. Im ersten Stockwerk öffneten sich die Fenster, dann ging ein Hagel von Büchern auf den reglos Knienden nieder. Schwere Lederbände, große Atlanten, kleine Breviere schlugen auf den Mann oder klatschten neben ihm auf das Pflaster.

Peter rannte weiter und bog in die nächste Querstraße ein, wo die Villen der vornehmen Anderen inmitten weiter Gärten lagen. Auch hier tobte bereits der Mob. Gegen das Licht eines brennenden Hauses zeichnete sich in einem der Gärten eine Gruppe von Menschen ab. Sie umringten zwei Männer, die unter den drohenden Blicken der Umstehenden zwischen den Blumenbeeten eine tiefe Grube ausheben mussten. Ungebrochenes Schweigen herrschte in dieser Runde. Ein Stück weiter war der Lärm um so größer. Hier stürmte eine Kampfgruppe eine der Villen, und offenbar wurde ihr Widerstand geleistet, denn Peter hörte aus dem Haus Rufe und wütende Flüche, manchmal auch einen schrillen Schrei.

Während er noch vor dem Garten auf der Straße stand, öffnete sich eine Nebentür des Hauses und eine Frau stürzte heraus, gefolgt von drei brüllenden Parteimännern. Die Frau rannte durch den Garten auf die Straße, genau auf Peter zu. Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Wohl aber die Verfolger. Sie riefen ihm etwas zu, was er in dem allgemeinen Lärm nicht verstand. Jetzt sah ihn auch die Frau. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Angst, und sie versuchte auszuweichen. Ohne zu überlegen und ohne Zögern trat er ihr in den Weg, packte sie an den Schultern und schleuderte sie zurück. Genau in die Arme ihrer triumphierend aufschreienden Peiniger. Erst jetzt bemerkte Peter, dass auch er laut schrie. Noch einmal sah er die von unbeschreiblicher Panik aufgerissenen Augen der Frau auf sich gerichtet, dann zerrten die Uniformierten sie zurück zum Haus. Peter verspürte den Impuls, ihnen zu folgen, entschloss sich dann aber, weiter die Straße hinunter zu laufen.

Er war sich nicht bewusst, was er tat. Seit der Massen-versammlung auf dem Hügel hatte sich ein Ring um sein Gehirn gelegt und hielt es fest zusammen gepresst, sodass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er fühlte nur einen erhebenden Rausch, einen unbändigen Kampfeswillen und den Wunsch zu zerstören, was ihm über den Weg kam.

Er traf auf einzelne Kampftruppler, die gleich ihm ziellos durch die engen Gassen des kleinen Städtchens rannten. Gemeinsam schrien sie ihre Parolen gegen den dunklen Nachthimmel, sprengten Haustüren auf, hängten den verängstigten Anderen Schilder um den Hals und jagten sie vor sich her. Dann trennten sie sich wieder, um sich anderen Gruppen anzuschließen, oder zogen einzeln weiter.

Peter war wieder allein. Unvermittelt erkannte er die Straße, in der er sich befand. Es war dies das Zentrum des Anderviertels von Gudenbrot, und in dieser Straße stand auch Lisas Haus. Ohne zu überlegen stürzte er vorwärts. Hier war das Treiben der entfesselten Jugendlichen am stärksten, hier waren aber auch die meisten der aus dem Reich gekommenen Männer am Werk.

Kaum noch ein Anderhaus stand unversehrt. Die Bewohner waren auf die Straße getrieben, geschlagen und gequält. Aus manchen Häusern kam niemand mehr heraus. Vor einigen Gebäuden lagen reglose Gestalten, oft nur notdürftig bekleidet.

Peter stand vor Lisas Haus. Offenbar war es gerade gestürmt worden, denn aus dem Inneren ertönte ein unentwirrbares Durcheinander von Schreien, Rufen und Flüchen. Peter wusste, dass Lisa drei Brüder besaß, die auch noch hier im Hause wohnten. Er wollte gerade durch die eingeschlagene Haustür eintreten, als ihm von Innen eine johlende Meute entgegenquoll. In ihrer Mitte stießen sie Lisas Vater vorwärts, der aus zahlreichen Wunden am Kopf blutete.

Erschrocken wich Peter zurück in das Dunkel neben dem Hauseingang. Lisas Vater war der erste Andere, den er in dieser Nacht sah, den er persönlich kannte. Er wollte von ihm nicht gesehen werden und rannte durch den Garten zur Rückseite des Hauses, die im Dunkeln lag. Er wollte eben die Verandatür aufstoßen, als er aus den Augenwinkeln heraus etwas Weißes weiter unten im Garten sich bewegen sah. Ohne zu zögern rannte er den Sandweg entlang, der - wie er wusste - zu einem kleinen Schuppen am Ende des langgestreckten schmalen Gartengrundstückes führte.

Hinter sich, von der Veranda her, hörte er Rufe. „Sie muss in den Garten gelaufen sein“, rief einer, und ein anderer schrie mit sich überschlagender Stimme: „Macht doch mal Feuer, damit man was sehen kann!“

Jetzt erkannte Peter vor sich deutlich eine weiße Gestalt, die auf den Schuppen zu lief. Er holte schnell auf und erreichte den Holzbau zur gleichen Zeit wie die Fliehende, die ihn bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Er versuchte sie festzuhalten. Als sie den Griff auf ihrer Schulter spürte, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Verzweifelt entwand sie sich dem Griff und stürzte blind ins Innere des Schuppens, als glaubte sie noch immer, sich dort verkriechen zu können.

Mit einem Sprung hatte Peter sie wieder eingeholt. Stolpernd fiel sie zu Boden. Sie versuchte, ihm kriechend zu entkommen, aber er warf sich auf sie und hielt sie gegen den Boden gepresst. Es war dunkel im Schuppen. Außer dem Weiß ihres Nachthemdes war nichts zu erkennen, aber Peter wusste, dass es Lisa war.

Schreiend wand sie sich unter seinem Griff. Ihre Stimme war schrill und von so unnatürlicher Höhe, wie Peter sie noch nie gehört hatte. Er wollte ihr den Mund zu halten, musste dazu aber seinen Griff lockern. Das nutzte sie zu einem erneuten Versuch, sich zu befreien. Ruckartig stemmte sie die Füße gegen den Boden und versuchte, sich zur Seite zu drehen. Doch mit dem einen Arm hielt Peter noch immer ihren Körper fest umklammert, während er mit der freien Hand ihren Mund verschloss und ihre Schreie erstickte.

Plörtlich erlahmte ihr Widerstand. Ihr Körper erschlaffte und sank zurück, Verwirrt wurde sich der Junge der Wärme ihres Leibes in dem dünnen, an vielen Stellen eingerissenen Stoff bewusst. Einen Augenblick lang lagen sie beide regungslos, dann wich er unvermittelt von ihr zurück.

„Lisa“, flüsterte er atemlos.

Inzwischen hatten sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt, so konnte er ihre Reaktion deutlich erkennen. Als sie seine Stimme hörte, glitt sie hastig zur Seite, richtete sich halb auf und zog das Hemd über die Schultern.

„Lisa“, wiederholte er, „ich bin es.“

„Peter?“ Fast unhörbar kam ihre Antwort. Unglauben, Entsetzen und auch ein wenig Hoffnung schwangen darin mit.

„Lisa, du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte er unbeholfen, „ich will dir nichts tun.“

Sie antwortete nicht. Statt dessen glitt sie im Sitzen noch ein Stück weiter zurück.

Peter schüttelte den Kopf. Er war völlig durcheinander und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihm war, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und könnte sich nur langsam an die Wirklichkeit gewöhnen.

Ein berstendes Krachen ließ beide erschrocken auffahren. Flackernd auflodernde Flammen schickten ihren rötlichen Schein durch die kleinen, mit Spinnenweben verhangenen, Schreiben des Schuppens und erhellten das Innere. Peter warf einen raschen Blick auf Lisa. Sie trug nur das Nachthemd, das an der einen Seite bis zur Hüfte hinauf eingerissen war. Ihre dünnen braunen Beine waren von Flecken bedeckt. Sie hielt den Kopf gesenkt, die Hände ruhten im Schoß. Das schmale Gesicht wurde von den wirr herabhängenden langen Haaren fast vollständig verdeckt. Die Augen lagen im Schatten.

Peter stand auf. Er sah durch das Fenster hindurch auf den Garten, konnte aber niemanden entdecken. Erleichtert wandte er sich ab und setzte sich wieder, Lisa gegenüber. Er wagte nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Unschlüssig fuhr er sich mit der Hand durch den hellen Haarschopf. Dabei bemerkte er, dass er seine Parteimütze verloren hatte. Dankbar für die Ablenkung sah er sich im Raum um. Er fand sie im Stroh, klopfte sie ab und setzte sie auf. Dann raffte er sich zu einem neuen Versuch auf.

„Lisa, bitte, hab keine Angst.“

Sie antwortete nicht. Ratlos fuhr er fort:

„Was sollen wir denn jetzt machen?“

Sie hob den Kopf und sah ihn mit einem abwesenden Blick an, der ihn erschreckte. Ihr Körper begann zu zittern, ihre Hände ballten sich krampfhaft im Schoß, und sie sagte leise, die Worte sorgsam aneinander fügend, als wollte sie sich selber zur Vernunft ermahnen, und doch mit einem unüberhörbaren hysterischen Unterton in der Stimme:

„Was ist für dich daran so schwierig? Geh doch zurück zu deinen Kameraden. Ihr habt sicherlich noch genug zu tun. Keine Angst. Ich komme schon zurecht. Kümmere dich nicht um mich.“

Sie verstummte. Der Junge sah sie an, als hätte er kein Wort verstanden von dem, was sie gesagt hatte.

Ihr Kopf ruckte nach vorn. Abrupt stieß sie aus:

„Geh doch endlich! Geh doch. Oder willst du mich gleich mitnehmen?“

Ihre Stimme brach unvermittelt ab. Sie barg das Gesicht in den Händen und beugte sich vor. Das Zittern ihres Körpers wurde stärker.

Erschrocken glitt er an ihre Seite.

„Bitte, Lisa, ich will dir helfen.“

Er legte vorsichtig den Arm um ihre Schultern.

Sie zuckte zurück und rutschte auf den Knien in krampfhafter Eile in die entfernteste Ecke des Schuppens. Dabei keuchte sie:

„Rühr mich nicht an. Rühr mich nicht an. - Geh endlich.“

Peter horchte in sich hinein. Je länger er wartete, desto klarer wurden seine Gedanken. Der Rausch verflog. Er sah wieder die Wirklichkeit. Und was er dort erkannte, erschütterte ihn so, dass jetzt er das Gesicht in den Händen verbarg. Vergeblich versuchte er, sich vor den eigenen Gedanken zu verstecken. Dabei stammelte er zusammenhanglos vor sich hin.

Eine Ewigkeit lang verharrten beide regungslos, durch die Länge des Schuppens voneinander getrennt. Dann stand der Junge auf. Vorsichtig ging er zu dem Mädchen, das ihm starr entgegen sah. Kurz vor ihr blieb er stehen.

„Lisa, bitte glaube mir, ich will dir helfen.“

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie rührte sich nicht, machte aber auch keine abwehrende Bewegung. So wagte er es, sie behutsam an der Schulter zu fassen. Dieses Mal ließ sie ihn gewähren.

„Lisa, du kannst hier nicht bleiben. Du musst fort. Hier bist du nicht sicher.“

Er erinnerte sich an die Szenen, die er draußen auf den Straßen gesehen hatte, und kalte Furcht befiel ihn. Er packte das Mädchen jetzt fester und versuchte, sie aus der Ecke heraus zu ziehen.

„Lisa, wir müssen weg. Bitte komm doch. Ich helfe dir.“

Sie sah ihn voll zweifelndem Misstrauen an. Das war nicht die Lisa, die einmal gekannt hatte: das Mädchen, dem er nur in die Augen zu sehen brauchte, um das selbstverständliche Gefühl des gegenseitigen Vertrauens zu spüren; das Mädchen, dessen bloßer Anblick ihn mit wunderbarer Zärtlichkeit erfüllte. Zu dieser Lisa hatte er keinen Zugang; er spürte, dass sie vor ihm zurück schreckte und dass sie sich zwingen musste, den Griff seiner Hand zu dulden. Aber dass sie sich dazu zwang, erfüllte ihn mit unbestimmter Hoffnung und gab ihm Mut und Selbstvertrauen zurück. Zum ersten Mal seit langer Zeit wusste er nun genau, was er wollte. Er hatte eine fest umrissene Aufgabe: Er musste Lisa helfen. Und er fühlte nun eine ungewohnte Sicherheit in seinen Gedanken.

„Komm“, sagte er, und der entschlossene Tonfall seiner Stimme ließ sie widerstandslos folgen.

Er schob sie zur Tür des Schuppens, wo er vorsichtig hinaus spähte. Immer noch lag der Garten leer vor seinen Augen, auch im Haupthaus war es ruhig geworden. Es schien äußerlich unversehrt. Im Nachbarhaus dagegen waberte hinten den zerschlagenen Fenstern eine rote Glut, die von Zeit zu Zeit hell aufleuchtete und ihren Schein über die Gärten ergoss.

Sich besorgt nach allen Seiten umsehend, trat der Junge aus dem Schuppen und zog das Mädchen hinter sich her. Er spürte, wie ihre Gestalt unter seiner Hand beim Anblick des Hauses erstarrte. Schnell sprach er auf sie ein:

„Wir gehen erst einmal zu mir nach Hause. Wir bleiben hinten in den Gärten. Vorn auf der Straße ist es zu gefährlich.“

Ungeduldig setzte er sich in Bewegung, aber sie zögerte und sah zum Haus hinüber.

„Was ist mit meinen Eltern und mit meinen Brüdern?“ fragte sie mit tonloser Stimme, „ich muss doch nach ihnen sehen.“

Er dachte an das Bild des Vaters, der blutend aus dem Haus gezerrt wurde, und schüttelte den Kopf:

„Das geht jetzt nicht, Lisa. Es ist zu gefährlich. Später können wir uns darum kümmern. Bitte komm, man kann uns sehen.“

Als sie immer noch keine Anstalten machte, ihm zu folgen, zog er sie am Arm hinter sich her. Sie leistete ihm keinen Widerstand mehr.

In den Zeiten des Krieges

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