Читать книгу Geheimnisse entdecken: Geld - Kohle - Kröten & Mäuse - null michelle_werner - Страница 4
Die erste Berührung
ОглавлениеSam, ein druckfrischer 20-Euroschein wird unter strengen Sicherheitsvorschriften, gemeinsam mit vielen anderen Scheinen an eine Bank ausgeliefert.
Ein paar große, knochige Hände mit schmutzigen Fingernägeln nehmen Sam aus dem Metallkoffer und räumen ihn zu den anderen Banknoten im Pult des Kassiers. Sam kann spüren, dass es die Hände eines ehrlichen Kassiers sind. So wie in der Sexualität bei Menschen ist der erste Verkehr mit einem anderen Wesen von prägender Bedeutung. Sam weiß, dass er diesem Kassier kaum jemals wieder begegnen wird, aber er wird durch die übertragenen Schwingungen für immer verbunden sein. Schade nur, dass er so schmutzige Fingernägel hat, denn dies ist kein gutes Omen, aber das kann Sam in Augenblick noch nicht so recht verstehen.
Sam landet ganz unten im Stapel, gleich neben dem Alarmschein, der ganz speziell präpariert ist, um bei einem Raubüberfall Alarm auszulösen. Unter all den Scheinen ist es ziemlich dunkel und der Druck der Geschwister, die auf ihm lagen, missfiel Sam ebenfalls. Als die 80 Tonnen der Tiefdruckmaschine auf ihn trafen, bekam er sein Tiefenprofil und das fand Sam auch ganz in Ordnung. Nun aber, da er die Schwingung des Kassiers durch die Berührung in sich aufgenommen hat, ist er wesentlich sensibler als zuvor.
Wie lange wird es dauern, bis er ins wilde Leben entlassen wird? Wo setzt sich sein Abenteuer fort? Welches Schicksal wird ihm zuteilwerden?
Er hatte sich schon bei seinen Geschwistern erkundigt, was die Lebenserwartung betrifft. Natürlich konnte ihm niemand genaues sagen, denn – so hieß es, hängt es von seinem gesamten Zustand ab und der ergibt sich aus dem Benehmen der Besitzer, in dessen Hände er gelangt. Manche von Sams Kollegen werden jedenfalls nur 360 Tage alt, während andere 2.000 Tage und mehr erleben dürfen. Es soll sogar welche geben, die in Sparbüchsen auf Nimmerwiedersehen verschwinden und dann wahrscheinlich uralt werden, aber die erleben dann jahrelang nichts. „Das ist wie im Altersheim, wo man nur auf seinen Tod wartet“, sagte der fette Fünfer, der neben ihm lag.
Sam hat noch keine einzige Falte, glänzt noch und kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie man so verkommen enden kann, wie dieser schmierige Fünfer. Sam ist ziemlich froh, dass er nicht im selben Fach liegt wie dieser Sandler. Sam riecht auch noch ganz frisch nach Wachs, weil er damit beschichtet wurde, genauso wie alle anderen Neugeborenen. Ältere Geldscheine riechen leider überhaupt nicht mehr nach Wachs, sondern irgendwie anders, was Sam aber noch nicht zuordnen kann.
In den langen Nächten in denen er im Tresor auf den nächsten Tag wartet, erfährt er, dass die meisten seiner Kollegen deshalb so komisch riechen, weil mit ihnen Drogen wie Kokain und Ecstasy konsumiert werden. Sam ist gar nicht wild darauf herauszufinden, wie sich solche Drogen anfühlen. Er hat mehr den Wunsch nach einem grundsoliden Leben, jedenfalls wie er sich das so vorstellt.
Im Laufe der nächsten Tage gelangt er im Stapel immer weiter nach oben und so hofft er, bald an der Reihe zu sein.
„Er benimmt sich wie ein Pudel in einem Tierheim, der darauf wartet, ein Frauchen oder Herrchen zu bekommen“, sagte ein betagter 50er. Sam hat das Gefühl, dass er seine kostbare Lebenszeit verprasst, während er im Pult des Kassiers nur herumliegt. Sam möchte etwas erleben, möchte wertgeschätzt werden, will unter die Leute kommen und seinen Spaß haben. Manchmal zittert er vor lauter Aufregung und dabei gelingt es ihm, ein Stückchen aus dem Stapel herauszuragen, aber das nützt nichts, denn der Kassier nimmt die Scheine immer von oben nach unten.