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Ein roter Golf

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Der Motor stotterte. Und erstarb. „Oh nein! Tu mir das nicht an!“ Er verbiss sich den Fluch, der ihm beinahe über die Lippen geglitten wäre. Stattdessen presste er die Kiefer aufeinander und riss den Zündschlüssel erneut herum. Lass ihn anspringen! Betete er. Mit einem zögernden Rumpeln ging der Wagen an.

Der alte rote Golf keuchte und stöhnte den kleinen Hügel hinauf und weiter die Auffahrt entlang. Erst als Georg ihn mit quäkendem Blinklicht auf die kleine Dorfstrasse lenkte, wurden die Geräusche unter der Motorhaube gleichmässiger. Er atmete auf. Der Wagen lief. Mit einem zufriedenen Nicken bog er ab und rumpelte an den letzten Höfen des Ortes vorbei. Er verliess das Dorf und lenkte den Wagen auf die Bundesstrasse. Prüfend gab er Gas, trat die Kupplung und schaltete hoch, doch die Geräusche kamen nicht zurück. Georg lehnte sich zurück und fuhr knapp unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch die Landschaft.

Rechts und links zogen die Felder vorbei. Noch waren die Pflänzchen kümmerlich klein, aber in wenigen Wochen würde der Raps in goldgelber Farbenpracht zu beiden Seiten wogen. Er freute sich immer auf diese Zeit. Dann war ihm das Fahren noch lieber. Mit Schwung bog er links ab und fuhr nun durch eine Allee dürrer Birken, die im blassen Licht des frühen Morgens grau und gestaltlos an ihm vorbeihüpften. Sie warfen unter dem wolkenverhangenen Himmel nicht einmal einen Schatten. Im Sommer würden die Schatten der Stämme im Vorbeifahren über sein Gesicht gleiten, während ihn hin und wieder ein durch das Blätterwerk brechender Speer aus Sonnenlicht blendete. Er träumte vom Sommer und dem warmen Fahrtwind bei heruntergekurbelten Fenstern, vom klebrigen Gefühl des verschwitzten Hemdes zwischen Haut und Sitz, dem Geschmack süsser Fruchtschorle und das Prickeln kleiner Bläschen auf der Zunge. Er träumte von den schlierenden Streifen einer von Staub und Insekten verschmutzten gräulich-braunen Windschutzscheibe, vom stechenden Geruch des mit Reinigungsmitteln versetzten Sprühnebels und dem trockenen Quietschen alter Scheibenwischerblätter über spiegelverkehrten von Kinderfingern hingeschmierten Buchstaben. Er träumte von Schokoladeneis am Stiel, von klebrigen Taschentüchern auf seinem Armaturenbrett, von Kekskrümeln auf den Sitzpolstern und wippenden braungebrannten Füssen in blassrosa Sandalen.

Ihm schossen plötzlich Tränen in die Augen. Hart trat er auf die Bremse, hinter ihm tönte ein wütendes Hupkonzert, als er den Blinker setzte und an den Strassenrand fuhr. Er liess den Motor im Leerlauf, legte den Kopf auf das Lenkrad und atmete tief ein und aus. Der Beifahrersitz war leer. Er wartete, zählte das Rauschen vorbeifahrender Autos und atmete. Bei Zehn sah er auf. „Gib mir Kraft!“ murmelte er. Der Himmel über ihm war grau und schweigsam. Er stand halb auf der Strasse und halb auf einem Feld. Der Boden war zerfurcht und aufgewühlt. Hoffentlich kam er hier wieder raus! Eine Krähe segelte von einem nahen Baum herab und hüpfte über den Acker. Georg beobachtete sie eine Weile und versuchte sich zu sammeln. Er nahm die Wasserflasche aus der Tasche und trank einen Schluck. Es schmeckte nach nichts. Er wollte sich vor der Vorlesung noch einen Kaffee am Automaten holen. Langsam drehte er den Schraubverschluss zu und steckte die Flasche zurück. Als er den Gang einlegte und Gas gab, heulte der Motor auf und die Krähe flog mit einem Kreischen davon.

Beim zweiten Versuch schaffte er es zurück auf die Strasse. Er war allein, kein Auto war in Sicht. Wieder flitzten die Baumstämme in einem grauen Flirren an ihm vorbei. An der nächsten Kreuzung merkte er, dass er viel zu schnell fuhr und drosselte seine Geschwindigkeit. Er fuhr durch einen kleinen Ort, der seinem Dorf nicht unähnlich war und musste an einer Fussgängerampel halten. Schulkinder mit viel zu grossen Rucksäcken auf den Rücken trödelten über die Strasse. Er blickte ihnen hinter her und merkte nicht, dass inzwischen grün geworden war. Erst das Hupen des hinter ihm wartenden Wagens brachte ihn zum weiterfahren. Ausserorts war der Verkehr dicht und er konzentrierte sich ganz aufs Fahren.

Der Ausflug in den Zoo war einer der wenigen seltenen Tage gewesen, die einem ohne besonderen Grund im Gedächtnis blieben. Sie waren oft in den Zoo gefahren und hatten sich hinterher an der Tankstelle noch ein Eis für den Rückweg gekauft. Eine tierliebende Neunjährige mit kurzem braunen Haar, die später einmal Klimaforscherin am Nordpol werden wollte und alle mit ihrer heiteren, naseweisen Gelassenheit zum Schmunzeln brachte und ein ernster Theologiestudent, der sich, trotzdem er sehr viel älter war, von ihrem Witz anstecken liess und jeden Spass mitmachte. Sie waren ein ungleiches Geschwisterpaar, aber sie hatten schnell entdeckt, dass sie die gleichen Vorlieben hatten und der grosse Altersunterschied war für die beiden von Vorteil. Georg konnte Auto fahren und seit er den kleinen roten Golf besass, fuhr er seine Schwester überall hin. Sie brachte ihm eine Welt näher, die der stille, bücherliebende Junge immer nur aus sicherer Entfernung hinter Fensterglas betrachtet hatte. Georg war schon immer kränklich gewesen und von einer übertrieben fürsorglichen Mutter beschützt und behütet worden. Nie war ihm aufgefallen, dass die liebevolle Führsorge eine Fessel war, die seine Schwester mit Leichtigkeit abzuschütteln wusste. Mit der Geburt der kleinen Schwester, dem Frühchen, der Nachzüglerin, dem Wildfang, der sich trotz aller Widrigkeiten ins Leben kämpfte, änderte sich langsam sein stummes Stubenhockerdasein.

Sie hatte ihn von Anfang an immer gefordert, nie geschont. Mit der Anschaffung des kleinen roten Golfs hatten sie sich einander noch ein weiteres Stück genähert. Sie kletterte mit ungezwungener Mühelosigkeit auf den Beifahrersitz, zeigte mit pummeligen Kinderfinger auf die schmale Ausfahrt und sagte: „Jetzt fahren wir in den Zoo.“ Da war sie gerade sechs Jahre alt geworden. Aus dem einmaligen Geburtstagsausflug wurde ein monatliches Ritual mit festen Regeln und einer Jahreskarte. Jeden ersten Sonntag nach der Kirche ging es los. Zu Hause mischten sie Apfelsaft mit Wasser in bunten Trinkflaschen, steckten noch eine Packung Butterkekse dazu und fuhren los, sie auf dem Beifahrersitz, denn woanders wollte sie nicht sitzen, und Georg mit wehenden Haaren. Sie gingen immer zuerst zu den Eisbären. Erst danach kamen die Affen, Löwen und Elefanten dran. Sie hatte den Weg immer genau im Kopf. Auf der Bank vor der Streichelwiese assen sie die Kekse und teilten die Krümel mit den Spatzen. Die Rückfahrt verbrachten sie damit, Schokoladeneis zu essen und sich Witze zu erzählen, um sich gegenseitig zum Lachen zu bringen, was natürlich streng verboten war.

Der Lastwagen vor ihm trat scharf auf die Bremse. Georg rammte den Fuss aufs Bremspedal und kam vor einer scharfen Linkskurve zum stehen. Er hatte ein scharfes Splittern und Knirschen gehört. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Weit vor sich sah er die Rückleuchten des LKW, der in die Kurve geschlingert war. Der Anhänger hing in der Leitplanke und das Führerhaus stand quer auf der anderen Seite der Fahrbahn. Georg schaltete die Warnblinkanlage an und stieg aus. Er sah sich verwundert um. Vor ihm auf dem Asphalt lagen Scherben und er konnte die schwarzen Bremsspuren des Lasters sehen. Bis auf seinen Golf und den Laster aber sah er kein anderes Auto auf der Strasse. Unschlüssig was er tun sollte, ging er auf den Lastwagen zu. Als er in die Kurve bog, sah er das Motorrad. Es war zwischen Leitplanke und Laster eingeklemmt. Den Fahrer sah er nicht. Erschrocken beugte er sich hinunter und sah unter den LKW, aber dort war niemand. Georg lief zur Fahrertür des schweren Wagens. Hinter dem Steuer sass ein dicker Mann mit groben Händen, die sich fest um das Lenkrad klammerten. Seine Unterlippe zitterte leicht. Georg öffnete mit kräftigem Ruck die Tür und zog sich zu ihm hoch. „Was ist passiert?“ Er berührte den Mann mit zittrigen Fingern. „Geht es Ihnen gut?“ Der Mann reagierte mit einem langsamen Blinzeln. „Ich hab ihn gar nicht gesehen. Er lag so tief in der Kurve.“ Murmelte er und ein Schweisstropfen lief über seine Schläfe nach unten in den Kragen.

Georg hechtete über die Wiese. Der Motorradfahrer lag zusammengekrümmt in einer Kuhle aus Erde und Schlamm. Seine Ledermontur war aufgerissen und dreckig, das rechte Bein war in einem merkwürdigen Winkel verdreht. Auf seinem Helm mit schwarzem Visier schlängelte sich ein roter, feuerspeiender Drache. Er rührte sich nicht. Vorsichtig liess Georg sich auf ein Knie nieder und schob das Visier hoch. Die Augen des Mannes flatterten. Georg zückte sein Handy und rief den Rettungswagen. Als er auflegte, sah er, dass der Mann das Bewusstsein verloren hatte. Würde er ihn beatmen müssen? Vorsichtig nahm er ihm den Helm ab. Noch während er überlegte, was ihm vom Erste-Hilfe-Kurs in Erinnerung geblieben war, öffnete der Mann die Augen. „Muss ich sterben?“ presste er mühsam hervor. Georg konnte Alkohol in seinem Atem riechen. Eine Träne lief über die Wange des Mannes. Georg schüttelte den Kopf und legte die Hand auf dessen Schulter. „Der Arzt ist schon unterwegs und die Polizei auch. In ein paar Minuten sind sie da.“ Er nahm den Arm des Mannes, zog den ledernen Handschuh ab und drückte seine Finger. Der Mann war jung, nicht viel älter als Georg selbst. Schmerz und Schreck standen in seinen Augen. „Bleibst du bei mir?“ fragte er. Das Sprechen machte ihm Mühe. Georg nickte und schluckte einen dicken Kloss im Hals herunter. „Es gibt nichts zu befürchten.“ Murmelte er „Wenn du willst, können wir gemeinsam beten, bis der Krankenwagen eintrifft.“ Der Motorradfahrer sah ihn besorgt an. „Bist du ein Priester?“ stöhnte er. Georg blieb stumm. Er war bloss Theologiestudent. Aber der Mann wurde ruhiger und atmete nicht mehr so hektisch. Er drückte leicht Georgs Hand. „Ich muss sterben.“ Flüsterte er. „Es tut schrecklich weh.“ Georg erwiderte den Druck. „Du schaffst das. Halt noch ein wenig durch. Gleich kommt der Rettungswagen.“ Der Mann kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war sein Blick klar. „Ich muss beichten.“ Hauchte er und zog Georg näher heran. Er roch schrecklich nach Bier. „Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt.“ Seine Lippen waren ganz bleich und Georg runzelte besorgt die Stirn. „Es wäre besser, wenn du ganz ruhig bleibst und nicht zu viel sprichst.“ Meinte er. Der Mann lachte leise. „Das hier ist Gottes Gerechtigkeit. Ich habe gesündigt und nun muss ich bezahlen.“ Sein Blick fesselte Georg mehr als der eiserne Griff, mit dem er seinen Arm nun umklammerte. „Ich bin betrunken gefahren. Nicht zum ersten Mal. Vor zwei Jahren hatte ich einen Unfall und bin getürmt. Das kleine Mädchen hat es nicht geschafft. Es tut mir so leid!“ Er schluchzte und Rotz lief ihm in den Mund. „Ich habe das nicht gewollt. Es ist nur gerecht, dass ich heute sterben muss.“ Er hustete und beruhigte sich wieder.

Georg stand wie betäubt auf. „Ich werde einmal sehen wo der Rettungswagen bleibt.“ Sagte er blechern und stakste zurück zum LKW. Dort stützte er sich an der Motorhaube ab und übergab sich. Als er aufsah, sah er seinen kleinen roten Golf verloren auf der einsamen Landstrasse stehen. Er blickte hoch zum Himmel, doch der blieb stumm. Der Fahrer des LKW sass noch immer hinter dem Lenkrad, schwitzte, schwieg und starrte auf die Strasse. Dort, wo das Motorrad in die Leitplanke gedrückt worden war, hatte sich das Plastik verbogen und war zersplittert. Ein grosses Stück lag vor Georg auf den Boden. Er hob es auf. Es war scharfkantig und spitz und stabil. Mit festen Schritten wandte er sich um und ging zu dem Motorradfahrer zurück. Der Mann suchte seinen Blick. „Kommen sie bald?“ fragte er. „Ja.“ Sagte Georg und liess sich auf die Knie nieder. Er konnte die Sirenen bereits jaulen hören. „Betest du für mich?“ fragte der Mann. „Und für das kleine Mädchen? Marie?“ Georg hob den Splitter wie einen Dolch. „Das werde ich tun.“

Der ungewöhnliche Blindenhund

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