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Der ungewöhnliche Blindenhund

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Thomas Brauer sass stocksteif in dem sündhaft teuren Sessel, den ihm der Juwelier freundlicherweise angeboten hatte. Er konnte sich auf dem unbequemen Polster einfach nicht entspannen. Nervös blinzelte er zweimal, dann rückte er schnell die dunkle Sonnenbrille mit den spiegelnden Gläsern zurecht. Seine rechte Hand tastete nach dem weichen Fell des Labradors neben ihm. Tess feuchte Nase drückte sich an seine Fingerspitzen und er spürte ihre raue Zunge darüber gleiten. Die Hündin wusste ihn immer zu beruhigen. Für sie war das alles Routine. Er hörte gedämpfte, schlurfende Schritte, die sich ihm von links näherten und neigte den Kopf. Der Juwelier sprach ihn mit sanfter Stimme an: „Ich habe einige schöne Stücke aus dem Safe genommen.“ Es klang, als würde er mit einem Kind sprechen. Thomas lächelte nachsichtig. „Die Qualität dieser Halskette ist ganz exquisit.“ Er hörte das leise Geräusch, mit dem der Juwelier die Schmuckschatulle vor ihm auf den Tisch legte. Dann raschelte leise der Samt, als der merkwürdig riechende alte Mann die Kette herausnahm. Thomas Herz machte vor Freude und Aufregung einen Hüpfer. Er nahm die Hand vom Kopf seines Hundes und streckte sie vorsichtig nach vorn. Schon spürte er das schwere Gewicht der Steine darin lasten. Sanft strich er mit den Fingern darüber, erforschte die glatte Oberfläche, fuhr mit dem Zeigefinger die Fassung nach und freute sich über die angenehme Kühle des Schmuckstückes auf seiner Haut. Sein Lächeln wurde breiter. Marie würde diese Kette sicher gefallen. Die knarrende Stimme des Juweliers zu seiner Linken liess ihn aufhorchen: „Die Diamanten sind sehr schön gefasst, natürlich in Platin. Weissgold ist zur Zeit gar nicht en vogue.“ Thomas schmunzelte über die steife Art des Juweliers, der sich sichtlich mühte, möglichst weltgewandt und modern zu wirken. Er konnte den leicht modrigen Geruch des Mannes fast schon schmecken. „Meinen Sie, es würde meiner Frau gefallen?“ fragte er und konzentrierte sich wieder auf die Kette. Das Metall war in seiner Hand warm geworden.

Die Kleider des alten Mannes raschelten und der Geruch von Mottenkugeln hing in der Luft. Das war es also, was so modrig gerochen hatte, dachte Thomas. Die Polster des Sessels knirschten, als der Juwelier sich neben ihn setzte und der Geruch wurde wieder schwächer. Thomas streckte die Hand aus, die die Kette hielt und spürte, wie sie ihm abgenommen wurde. „Es ist ein zeitloses Stück mit klaren Formen.“ Thomas konnte förmlich spüren, wie sorgsam der Mann die Worte abwägte. Er nickte bedächtig. „Man kann spüren, wie sorgfältig die Steine gefasst wurden, alles ist wunderbar glatt.“ Der Juwelier hatte sich vorgebeugt, eine Feder in seinem Sessel quietschte. Er hörte wieder das sanfte Scharren der Steine auf dem Samt. Wie sehr er dieses Geräusch liebte! „Diese Kette hier besteht aus Rubinen und schwarzem Opal, ein wahres Farbfeuerwerk!“ Kaum war der Satz ausgesprochen, sog der Juwelier kurz die Luft ein. Thomas grinste. Der Juwelier hatte sich auf die Zunge gebissen. Um ihm entgegenzukommen, streckte Thomas die Hand erneut aus. Er konnte spüren, dass die Steine unterschiedlich geschliffen waren. Welches sind die Rubine?“ fragte er. Der Juwelier räusperte sich. „Die Rubine haben einen Facettenschliff, die Opale sind glatt. Die Steine sind oval und in Gold gefasst.“ Eine angespannte Pause entstand, als Thomas jeden einzelnen Stein durch seine Finger gleiten liess wie einen Rosenkranz. Dann nickte er zustimmend. Der Juwelier entspannte sich. „Wie viel ist diese Halskette wert?“ fragte Thomas. Zufrieden stellte er fest, dass seine Stimme überhaupt nicht zitterte. Neben sich hörte er Tess gähnen. Er sollte sich beeilen. „Diese Halskette in Ihren Händen ist gut 12.000 Euro wert. Das Diamantenhalsband kostet etwa doppelt so viel.“ Thomas nickte wieder und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Können Sie mir vielleicht noch ein Stück von ähnlicher Qualität empfehlen? Ich bin noch nicht ganz überzeugt.“ Eilfertig schob der Juwelier den Stuhl zurück, die Beine scharrten dabei über den Marmorboden. Dann konnte er seine Schritte davon tappen hören. Ein Schlüsselbund klirrte leise. Thomas beugte sich zu Tess und holte aus seiner Jackettasche ein Stück Hundekuchen. Vorsichtig hielt er es dem Tier hin. Dann hob er Daumen und Zeigefinger und als er hörte, wie die Hündin hastig kaute, kniff er sie leicht in ihr linkes Ohr. Tess legte sich auf den Boden. Ihr Kopf ruhte nun auf seinem rechten Fuss. Das gewohnte Gewicht beruhigte ihn. Alles lief nach Plan. Er konnte Tess leise schmatzen hören.

Der Juwelier kehrte zurück. Hinten im Laden klingelte ein Telefon. Die Angestellte hinter dem Tresen schritt mit klappernden Absätzen in den rückwärtigen Teil des Ladens. Thomas hielt die Hand auf und schon glitt ein weiteres Schmuckstück hinein. Die Steine waren diesmal viel grösser und schwerer. In der Mitte war ein tropfenförmiger Anhänger. Der Juwelier hatte sich gesetzt und beugte sich vor. „Dies sind ebenfalls Diamanten, jeder einzelne hat 24 Karat. Die Fassung ist aus Gold. Der Anhänger in der Mitte ist ein etwa daumennagelgrosser Saphir, ein wahrlich schönes Stück. Es war lange Zeit in Familienbesitz derer von Knausitz.“ Thomas roch wieder die Mottenkugeln. Er nickte erneut. „Gefällt mir.“ Murmelte er. „Ein Stück mit Tradition, sozusagen!“ Thomas lachte und der Juwelier stimmte mit ein. Es klang falsch. Seine Stimme hörte sich an wie ein Eimer rostiger Nägel, als er sagte: „Die Halskette ist gut und gerne 30000 Euro wert.“ Thomas gab die Halskette zurück. „Ich denke, ich werde sie nehmen. Aber ich bin mir nicht sicher.“ Die Angestellte war immer noch nicht zurück. Er hob die Spitze des rechten Fusses und stiess dreimal sanft gegen Tess Kinn. Der Hund rollte auf die Seite. „Könnte ich noch einmal das Diamanthalsband halten?“ fragte er. Seine Stimme blieb ruhig, aber innerlich war er gespannt wie eine Bogensehne. Bis jetzt lief alles gut. Er durfte sich jetzt nicht verraten. Tess begann genau in dem Moment zu winseln, indem der Juwelier ihm erneut die Halskette in die Hand legte. Er konnte die trockene alte Haut des Mannes spüren. Langsam schlossen sich seine Finger um das Schmuckstück. Tess winselte lauter. Wenn sein Herz doch nur nicht so schnell klopfen würde! Ihm wurde heiss. Doch er musste in seiner Rolle bleiben!

„Stimmt was nicht?“ fragte der Juwelier. Thomas schluckte. „Was macht mein Hund? Er klingt so komisch.“ Erfreut merkte er, dass er genau den richtigen Ton getroffen hatte, leise und gefasst, aber deutlich beunruhigt. Der Juwelier stand auf und tappte um den Tisch herum. Thomas lehnte sich zurück und beugte den Kopf leicht nach rechts. Jetzt kam es ganz auf Tess an. „Was hat sie?“ fragte er erneut. Der alte Mann beugte sich zu dem Hund hinunter. Tess winselte und wand sich. Sie spielte ihre Rolle perfekt. „Sieht so aus, als ob sie Schmerzen leidet.“ Flüsterte der Juwelier. Seine Stimme klang panisch, als Thomas antwortete: „Was soll ich tun? Der Hund ist mein Augenlicht!“ Bloss nicht übertreiben! Mahnte er sich. Doch seine Worte erzielten die gewünschte Wirkung. Der Juwelier hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf Tess gerichtet. Unbemerkt glitt die Diamanthalskette in Thomas Tasche. „Ich werde Ihnen ein Taxi rufen, dann können Sie ihn zum Tierarzt bringen.“ Schlug der Juwelier vor. Tess begann zu heulen. Sie hasste den Tierarzt. „Shhhh!“ machte Thomas und tastete nach dem Tier. Natürlich konnte er es nicht erreichen, denn der Hund lag auf der Seite und spielte krank. Er wusste, dass sein Gesicht den Ausdruck aufrichtiger Bestürzung trug. Ich muss unbedingt in meiner Rolle bleiben! Dachte er. „Meine Frau!“ rief er aus. „Sie wartet im Wagen auf mich!“ Der Juwelier hatte sich erhoben. Thomas stand ebenfalls auf und tastete nach seinem weissen Stab. Wie beabsichtigt, fiel dieser klappernd zu Boden. Der Mann rannte fast an Thomas linke Seite und bückte sich schnell, um den Stab aufzuheben. Als er Thomas den Stab in die Hand drückte, heulte Tess noch einmal auf. „Führen Sie mich zu meinem Hund.“ Forderte Thomas ihn auf und griff nach der Hand des Juweliers. Mit der linken den Blindenstab umklammernd, mit der rechten die Hand des Juweliers gepackt, tastete er sich langsam um den Stuhl herum. Den Kopf hielt er hoch erhoben. Der Juwelier blieb stehen. Thomas bückte sich und tastete nach Tess weichem Fell. „Würden Sie meine Frau holen?“ fragte Thomas. Gespannt wartete er auf die Antwort des Juweliers. „Wie sieht Sie denn aus? Ich meine...“ Er schluckte und trippelte nervös auf der Stelle. Thomas hätte am liebsten gelacht. Er bezwang sich. „Sie parkt vor der Bank auf der anderen Strassenseite. Clara Neumann. Sie finden sie ganz bestimmt.“ Er kniete neben Tess nieder und griff nach den harten Stangen des Führgestells. „Ich bin sofort wieder da!“ rief der Juwelier.

Er konnte die tappenden Schritte des Mannes hören und dann klingelte auch schon die Ladenglocke. Die Angestellte sprach noch immer am Telefon. Das lief besser als erwartet! Schnell sprang er auf und griff nach der Schatulle mit der teuren Saphirkette. Mit flinken Fingern öffnete er sie, nahm die Kette heraus und liess das Schmuckstück ebenfalls in seine Tasche gleiten. Ein kleiner Bonus kam ihm sehr gelegen. Dann gab er Tess ein Zeichen und rannte leise zur Tür. Vorsichtig sah er durch die Glasscheibe hindurch. Der Verkehr war dicht. Auf der anderen Strassenseite konnte er den Juwelier sehen. Er stand auf dem Parkplatz der Bank und spähte suchend in jedes Auto. Thomas griff Tess Gestell, öffnete die Tür und lief nach draussen. Bis zum Taxistand war es nicht weit und mehrere Taxis warteten auf Fahrgäste. Thomas griff die Haltestange des Geschirrs fester und tippte mit dem Blindenstock leicht gegen das Fahrzeug. Der Taxifahrer stieg aus. „Kann ich Ihnen helfen?“ rief er Thomas zu. „Ja, bitte! Ich brauche ein Taxi.“ Er wartete, bis der Fahrer ihm die Tür geöffnet hatte und tastete sich vor. Dann setzte er sich. Langsam! Schliesslich durfte er sich jetzt nicht verraten. Er rückte das Jackett zurecht, schnallte sich an und legte den Stab über seine Knie. Dann pfiff er und Tess sprang in den Fond des Wagens. Glücklich drückte er sie an sich. Verstohlen warf er hinter der Sonnenbrille einen Blick nach draussen. Der Juwelier versuchte, die stark befahrene Strasse zu überqueren. Thomas Herz machte einen Satz. Er wagte nicht, den Kopf zu drehen, um den Juwelier im Auge behalten zu können. Der Fahrer liess sich mit einem Seufzen in den Vordersitz gleiten. „Einen cleveren Hund haben Sie da!“ sagte er. Thomas antwortete: „Oh ja! Tess ist was besonderes!“ Er meinte es so. Der Fahrer startete den Motor. „Wo solls den hingehen?“ Thomas strich über Tess Fell. „Zum Bahnhofplatz bitte!“ Der Fahrer nickte und fuhr aus der Parklücke. Thomas lehnte sich zurück und entspannte sich. Die Perücke kratzte etwas. Bald würde er sie abnehmen können. In seiner Jackettasche spürte er die schweren Steine. Es war ihm gelungen, wieder einmal. Fröhlich begann er zu pfeifen. Er, Thomas Brauer, war wirklich einer der besten Schauspieler deutscher Bühnen.

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