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Kapitel 1

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Es war Wochenende. Ich befand mich auf dem Rückweg einer langen und anstrengenden Dienstreise und war dementsprechend müde und ausgelaugt. Es regnete in Strömen. Ich hatte Schwierigkeiten, mich auf die Fahrt zu konzentrieren. Plötzlich nahm ich wahr, dass am Rand der Straße ein Mann neben seinem Wagen stand, offenbar in der Hoffnung, von einer mitleidigen Person in einem der vorbeifahrenden Fahrzeuge mitgenommen zu werden. Bald darauf fuhr ich an ihm vorbei. Er war klatschnass. Obwohl durch Medienberichte über Kriminelle und deren Vorgehensweise verängstigt, war ich nicht in der Lage, einen Menschen buchstäblich im Regen stehen zu lassen. Trotz meiner Unsicherheit trat ich auf das Bremspedal und mein Wagen kam circa zweihundert Meter hinter dem Mann zum Stehen.

Während ich ihn im Rückspiegel beobachtete und ihn dabei auf mich zukommen sah, wählte ich die Rufnummer meiner Schwester und überredete sie, bei dem Gespräch mit dieser fremden Person mitzuhören. Kurz bevor der Mann meinen Wagen erreichte, drückte ich den Knopf der Zentralverriegelung und ließ die Scheibe der Beifahrerseite ein kleines Stück herunter, um durch den Spalt mit dem Mann sprechen zu können.

»Hallo! Wenn sie wollen, kann ich Sie gerne ein Stück mitnehmen, aber nur, wenn Sie mir Ihren Ausweis zeigen!«

Der durchnässte Mann grüßte mich hastig zurück und schaute mich verwundert an. Anscheinend war ich ihm zuvorgekommen und er hatte dadurch keine Möglichkeit gehabt, mir etwas über sein Ziel oder seine Schwierigkeiten zu berichten. Es blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als meine Bedingung zu akzeptieren. Mit einem Lächeln zog er seine Brieftasche und überreichte mir seinen Ausweis. Nach dem ich ihn in der Hand hatte, öffnete ich ihm die Tür. Leicht verunsichert stieg er ein. Ich sprach seinen Vor- und Nachnamen demonstrativ und laut in das Mikrofon meines Mobiltelefons. Als ich seine Verwunderung bemerkte, erklärte ich ihm:

»Entschuldigung! Mein Mann schützt mich auf diese Weise. Ich habe Ihr Autokennzeichen einmal gelesen, wiederholen Sie es bitte auch einmal!«

Brav befolgte er meine Anweisung. Dankend gab ich ihm seinen Ausweis zurück, beendete mein Telefongespräch und während ich losfuhr, fragte ich:

»Wo kann ich Sie aussteigen lassen?«

Leise und erschöpft antwortete er:

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, an der nächsten Tankstelle bitte!«

Ich schämte mich wegen meiner übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen. Mein Verhalten rechtfertigend erklärte ich:

»Verzeihen Sie mir, wenn ich zu vorsichtig war! Wir Frauen können leider nicht riechen, mit wem wir es zu tun haben. Was nun? Eine lächerliche Zeit!«

Er schien jetzt auf seinem gemütlichen und sicheren Platz sichtbar erleichtert. Indem er die vor uns fahrenden Autos betrachtete, sagte er lächelnd:

»Vielen Dank! Auf jedem Fall sind Sie mutiger als all die Herren, die gleichgültig an mir vorbeigefahren sind! Mein Aussehen ist beschämend, der Sitz Ihres Autos ist total nass geworden. Ich werde ihn irgendwie trocknen, wenn wir an der Tankstelle sind.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich habe gerne für Sie angehalten. Was für ein Problem gibt es denn mit ihrem Auto?«

»Ich habe nicht aufgepasst, der Sprit ist alle.«

»Ach so!«, sagte ich erleichtert. »Das ist dann nicht so schlimm! Mir wäre so etwas auch beinahe ein paar Mal passiert. Ein Glück, dass ich es immer rechtzeitig gemerkt habe …«

Als wir die Tankstelle erreicht hatten, schlug ich ihm vor, einen Kanister Benzin zu besorgen, und ihn dann zu seinem Auto zurückzubringen. Überrascht und verlegen sagte er:

»Um Gottes willen! Nein, danke! Ich habe Ihnen schon genügend Unannehmlichkeiten bereitet. Ich bestelle ein Taxi!«

»Es ist schon okay! Sie brauchen kein Taxi zu bestellen. Ich habe heute zufällig genug Zeit …«

Während er den Sprit besorgte, rief ich meine Schwester an und berichtete ihr von dem Vorfall. Sie meckerte mich an, was dieses verrückte Spiel bedeuten solle? Wofür ich mein Leben in Gefahr brächte und warum ich mir ständig Probleme suche? Ich beendete das Telefongespräch, als er mit einem Kanister Benzin in der Hand einstieg, und fuhr los, wobei ich mich auf einen Small Talk mit ihm einließ:

»Komisches Wetter! Die ganze Woche hat es nur geregnet! Ein bisschen Sonne könnten wir jetzt alle gut gebrauchen, nicht wahr?«

»Ja, tatsächlich …«

Nachdem wir sein Auto erreicht hatten, wartete ich eine Weile um sicherzugehen, ob der Wagen auch wirklich fahrbereit sei. Als der Motor ansprang, kam der Mann erfreut auf mich zu, überreichte mir einen Zettel und sagte:

»Vielen Dank! Alle Ihre Freundlichkeiten machen mich wirklich verlegen! Wenn Sie mir gestatten würden, hätte ich Sie gerne mit Ihrem Mann und Ihrer Familie als kleines Dankeschön zum Mittag- oder Abendessen eingeladen! Hier meine Telefonnummer!«

Er gefiel mir. In dem Augenblick, als er meiner Anweisung folgend sein Portemonnaie aus der Tasche zog, hatte er mir schon gefallen, und zwar mehr als ich mir selbst eingestehen wollte. Damals wusste ich durch einen Blick auf seinen Ausweis, dass er 36 Jahre alt war, wie er hieß und wo er wohnte. Während der Fahrt hatte ich auch sonst noch einiges über seine Arbeit und Lebensweise in Erfahrung gebracht, ohne von mir etwas preisgegeben zu haben.

»Oh, danke! Aber das brauchen Sie wirklich nicht!«, sagte ich lächelnd. »Ich bin froh, dass Ihr Problem gelöst ist.«

»Ja. Gott sei Dank! Mit meinem Auto ist jetzt alles in Ordnung! Demnächst werde ich wohl mehr auf rechtzeitiges Tanken achtgeben müssen!«, bemerkte er und blieb weiter stehen, als ob er auf eine Antwort von mir warten würde.

Ich wollte ihn gerne wiedersehen, aber ich war mir noch nicht ganz sicher, ob ich seine Einladung annehmen sollte. Ich überlegte kurz und kam dann zu dem Entschluss, dass ich später in Ruhe darüber nachdenken und mich dann entscheiden konnte. Ich musste mich jedoch bei ihm, bevor es zu spät wurde, für meine übertriebene Vorsichtsmaßnahme und die Notlüge entschuldigen. Daher erklärte ich:

»Verzeihen Sie bitte meine Unverschämtheit, was die Sache mit dem Ausweis anbelangt!«

»Ach, ich bitte Sie! Das war richtig so!«

Ich fuhr fort:

»Ehrlich gesagt, zweimal habe ich Sie angelogen. Wenn es geht, verzeihen Sie mir dies auch! Die Nummer Ihres Wagenkennzeichens hatte ich selbst überhaupt nicht gelesen, ich habe einfach geblufft, damit Sie mir auch wirklich die richtige Nummer sagen. Am Telefon war übrigens meine Schwester, nicht mein Ehemann, den bin ich glücklicherweise für den Rest meines Lebens losgeworden.«

Plötzlich erschien ein gequältes Lächeln auf seinen Lippen. Indem er von mir wegschaute, murmelte er seufzend:

»Vielleicht so, wie die Mutter meines Sohnes mich für immer losgeworden ist!«

Es gefiel mir überhaupt nicht, dass er mich irgendwie mit der Mutter seines Sohnes, besser gesagt, mit seiner Exfrau oder Exfreundin, einer Frau, die ich nicht kannte, verglich. Ich sagte trotzdem nichts dazu, verabschiedete mich freundlich von ihm und fuhr los.

Eine Weile beobachtete ich ihn im Rückspiegel. Er fuhr hinter mir. Ein angenehmes Gefühl überwältigte mich, nicht aus dem Grund, weil ich einem Mitmenschen einen kleinen Dienst erwiesen hatte, sondern, weil ein braver und ungefährlicher Mann hinter mir fuhr und dabei vielleicht an mich dachte. Mich würde es eigentlich freuen, wenn er mir bis nach Hause folgen, hinter meinem Wagen parken und mit mir nach oben kommen würde. Nicht aus einem bestimmtem Grund, einfach so, um sich miteinander zu unterhalten. Ein anderes Gefühl für ihn spürte ich nicht.

Plötzlich kam ich auf die Idee, zu prüfen, ob er mir wirklich folgen würde. Mein Fuß drückte auf das Gaspedal, der Wagen erhöhte seine Geschwindigkeit und ich überholte einige Autos.

Er war leider nicht mehr da, egal wie häufig ich auch in den Rückspiegel schaute! Bedauernd warf ich einen Blick auf den nassen Sitz, der vor wenigen Minuten noch von ihm besetzt gewesen und auf den Zettel, der von ihm übrig geblieben war. Indem ich immer wieder erwartungsvoll in den Rückspiegel blickte, versuchte ich nun, mir seine Rufnummer zu merken, damit das Gefühl des Bedauerns vertrieben, das Gedächtnis trainiert und ich ihn eventuell bei einer günstigen Gelegenheit anrufen würde.

Bis zum Ende der Fahrt blieb mein neugieriger Blick immer wieder am Rückspiegel hängen. Der unverschämte Kerl tauchte nicht mehr auf! Bestimmt gehörte er zu den wenigen Männern, die den Frauen nicht hinterherlaufen; was wusste ich? Vielleicht lief er doch einer hinterher, tat aber so, als ob dies in Wirklichkeit nicht der Fall wäre.

In meiner Wohnung angekommen, nahm ich sofort den Telefonhörer in der Hand und rief meine Schwester an:

»Hallo Lena! Ich bin es. Wie geht’s?«

»Hallo! Danke, mir geht es gut. Wie geht’s dir, Abenteurerin?«

»Danke! Eine gute Nachricht!«

»Bin ganz Ohr. Na, erzähl mal, war deine Jagd erfolgreich?«

Ich war bereits während des Telefongesprächs im Auto von ihrem Gemecker einigermaßen genervt. Nun gab mir der Begriff „Jagd“ Anlass dazu, sie schroff zurückzuweisen:

»Ach, halt die Klappe, bitte! Was soll das? Ich bin doch nicht wie du und deine Jagdfreundinnen, die die Männer öfters wechseln, als ihre Unterwäsche! Der Mann, den ich vor dem Regen gerettet habe, hat uns beide zum Essen eingeladen!«

Anscheinend war sie tatsächlich immer noch verärgert über meine Aktion bei der Rückfahrt. Sie stichelte:

»Ich bitte dich inständig um Verzeihung! Weder meine Freundinnen noch ich sind Jägerinnen und wechseln häufig den Freund! Wir sammeln bloß mit offenen Augen Erfahrung, und passen genau auf unsere Typen auf, damit wir uns nicht, wie die tollen, altmodischen und moralischen Damen in den ersten Kerl, den wir kennenlernen verlieben, ihn heiraten und das Leben für uns beide dadurch zur Hölle machen. Ansonsten werden wir bald feststellen, dass wir nicht nur verschiedene Geschmäcker und Interessen haben, sondern von unterschiedlichen Planeten kommen; daher nun Scheidung und das ständige Gejammer, alle Männer seien Scheiße.»

Ihre Bemerkungen kränkten mich. Mit den Begriffen wie „altmodisch“ und „moralisch“ meinte sie mich. Das warf sie mir immer wieder vor. Ich schluckte meinen Ärger herunter und konterte angemessen:

»Oh! Oh! Schwesterchen! Schwesterchen! Tadle mich bloß! Tadle! Ich liebe deine scharfe Zunge! Warten wir mal ab, was aus dir und deinen Erfahrungen wird! Also, kommst du nun mit deiner altmodischen Schwester zu dieser Einladung?«

Endlich merkte sie, mit ihrem Tadeln zu weit gegangen zu sein, daher sagte sie, weiterhin besorgt:

»Meine liebe und anständige Schwester! Mensch, was für ein verrücktes Spiel war das denn!? Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen um dich gemacht! Keine vernünftige Frau lässt unterwegs einen fremden Mann ins Auto steigen. Nun hast du zufällig Glück gehabt und dieser Mann ist kein Verbrecher. Danke! Gehe du bitte alleine zu dieser Einladung und sammle Erfahrung!«

»Hör­ zu, was ich dir sage, Lena! Dieser Mann ist ein anständiger Mensch! Er hat uns beide zum Essen eingeladen!«

»Nein. Liebe Sara, danke schön! Ich bin nicht eingeladen worden. Ich habe alles mit eigenen Ohren gehört! Du hast ihm erzählt, dein Mann wolle vorsichtshalber seine Personalien durch das Telefongespräch mitbekommen. Nun gehe entweder alleine hin oder nimm irgendeinen Mann in Begleitung mit und behaupte, es wäre dein Ehemann.«

Es freute mich sehr, dass sie mit mir endlich wieder einmal ruhig und vernünftig sprach. Ich erklärte ihr:

»Lenachen, du Esel! Hör zu, was ich dir sage! Ich habe ihm alles erzählt. Ich habe ihm erzählt, dass es sich um eine Notlüge handelte und du am Telefon warst. Der ist nett und hat uns beide eingeladen. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich auch nicht!«

»Oho! Als ob ich alle Zeit der Welt hätte!«, sagte sie laut lachend. »Verzeihe mir dies Mal, liebe Sara! Die Kinder haben Klausurzeit. Bis in zwei, drei Wochen habe ich alle Hände voll zu tun. Ich muss jede Menge Arbeiten korrigieren. Gehe du bitte allein hin! Wenn er wirklich in Ordnung ist und dir gefällt, mach uns später bei Gelegenheit miteinander bekannt. Verzeihe deinem Schwesterchen! Wie du über ihn redest, ist er wahrscheinlich nicht wie die ganzen anderen Idioten, die du bis jetzt im Internet kennengelernt hast. Pass gut auf und mache einen guten Fang! Versuche nicht auf einmal deine altmodische Einstellung über Bord zu werfen und geh´ dann bloß nicht direkt nach dem ersten gemeinsamen Essen mit ihm ins Bett …«

Obwohl meine Schwester vier Jahre jünger ist als ich, hat sie mir gegenüber einiges voraus in puncto Paroli bieten und Schlagfertigkeit; als ob sie eine vier Meter lange Zunge hätte! Natürlich liebt sie mich und macht sich auch Sorgen um mich, kein Zweifel, bei manchen Sachen ist es jedoch sehr schwierig mit ihr zurecht zu kommen. Besonders was das Thema Männer anbelangt. Lena kann die Männer sehr leicht um den Finger wickeln, mit ihnen Freundschaft schließen und sie dann aber auch ganz einfach wieder loswerden. Dieses Loswerden geschieht zum Glück nicht auf bösartige Art und Weise. Sie pflegt immer noch Kontakt zu all ihren ehemaligen Freunden, wird mit ihrem jetzigen Freund zu deren Geburtstagen eingeladen und lädt diese wiederum auch zu ihrem Geburtstag ein. Vielleicht liegt dieser Eigenschaft von ihr unsere Erziehung zugrunde. Alles, was unsere Eltern bei mir verbockt hatten, machten sie bei Lena richtig. Ich war praktisch ein Versuchskaninchen! Ich mag meine Schwester sehr gern. Sie ist nicht nur eine Schwester für mich, sondern auch eine sehr gute Freundin. Manchmal kommt sie mir jedoch vor, wie ein trotziges, freches und ganz und gar unmögliches Gör.

Die Ziegennovelle

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