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Kapitel 2
ОглавлениеAls Lars gerade fünf Jahre alt geworden war, beschlossen seine Eltern, ihn vorzeitig in die Grundschule zu schicken. Denn die Wohnung war sehr beengt. Die Mutter hatte eine zahnärztliche Assistentenstelle. Und Lars erschien seinen Eltern bereits reif genug, um mit der Schule zu beginnen. Dort behaupteten sie, er sei bereits sechs Jahre alt. Seine Geburtsurkunde sei auf der Flucht aus dem Osten verloren gegangen. Das wurde von der Schulbehörde akzeptiert.
Sein täglicher Schulweg führte durch den Stadtpark. Dort spielte er nachmittags mit seinen Schulkameraden. Sie fanden in den Gebüschen häufig weißliche Luftballons, die man aufblasen konnte. Sie spielten damit und bliesen sie auf und warfen sie sich zu, obwohl manche Spaziergänger sie erschreckt warnten, sie sollten dies besser nicht tun, diese Luftballons seien sehr schmutzig und gefährlich. Manchmal sahen sie auch im Gebüsch einen Mann und eine Frau, die einen eigenartigen Ringkampf übten. Lars erzählte dies seinen Eltern, um in aller Unschuld um zu erfahren, was das zu bedeuten hätte. Sie antworteten jedoch ausweichend, er solle sich möglichst von solchen Leuten fernhalten.
Manchmal fuhren sie für ein paar Pfennige mit einem alten Vorkriegsbus an die Ostsee nach Travemünde. Lars war noch sehr klein und wollte im Sand spielen. Es kam aber immer wieder vor, dass eine Frau aus einem Strandkorb sprang, ihn umarmte, ihn an sich riss und abküsste und dabei immer rief: Oh, wie ist der süß! Oder so ähnlich. Lars war das sehr unangenehm, weil er lieber für sich sein wollte und die feuchten Küsse mit welken Lippen als sehr abstoßend empfand. Eine Frau hatte sogar sehr blutige Zehen. Lars meldete dies sofort seiner Mutter. Sie sagte ihm aber, diese Zehen seien angemalt, weil das schöner aussehen würde. Lars fand das hässlich und das Begrapschen durch die Frauen sehr unangenehm. Er versuchte, im tiefen Ostseesand wegzulaufen, wenn sich ihm eine Frau in dieser bedrohlichen Weise näherte.
Eines Tages – Lars war sechs Jahre alt – war seine Mutter verschwunden. Sie hatte sich nicht verabschiedet. Es vergingen mehrere Tage, ohne dass er etwas von ihr sah oder hörte. Immerhin hatten sie zuhause schon Telefon. Aber es kam kein Anruf. Lars bedrängte seinen Vater immer wieder, ihm zu sagen, wo denn seine Mutter sei und wann sie wiederkomme. Er antwortete hierauf nicht, sondern machte allenfalls abfällige Bemerkungen über die Mutter. Lars fühlte sich sehr hilflos und verlassen, zumal sein Vater seinem Bruder und ihm ohnehin immer zu spüren gab, dass sie ihm lästig seien. Es war für Lars ein furchtbares Gefühl, nicht zu wissen, ob die Mutter jemals zurückkommt. Er konnte sich nicht helfen, er konnte sich auch nirgends erkundigen, weil er gar nicht wusste, wo er sich hätte erkundigen können.
Eines Tages sah er seine Mutter im Stadtpark spazieren gehen. Er lief zu ihr, er heulte fürchterlich und fragte sie, ob sie denn nun wieder nach Hause komme. Sie sagte, dass sie jetzt bei ihrem Vater, seinem „afrikanischen“ Großvater wohne, dass sie aber bald wieder nach Hause komme. Viel später erfuhr er mehr zufällig, dass seine Mutter wohl wegen der vielen Kränkungen des Vaters in dieser Zeit in der Nervenheilanstalt gewesen war, wie man es damals nannte.
Lars wurde größer und war in der Grundschule noch ein sehr guter Schüler. Allmählich interessierte ihn aber auch die Frage, woher denn die kleinen Kinder kommen. Auf Seine Fragen hierzu antworteten seine Eltern – wie auch schon früher immer –, dass er hierfür noch zu klein sei, dass er hiervon ohnehin nichts verstehe und dass er das noch früh genug erfahren würde.
Mit der Zeit war das Umfeld, in dem er sich bewegte, größer geworden. Er ging nicht nur durch den Stadtpark zur Schule, sondern auch schon mal in die Innenstadt, um die Mutter von der Praxis abzuholen. Zu der Zeit gab es nicht wenige Männer, denen ein Bein oder beide Beine fehlten, die sich im Rollstuhl oder in einem hölzernen Karren fortbewegten oder die blind waren, einen Arm verloren hatten oder in anderer Weise beschädigt waren. Es gab aber auch einige völlig gesunde Männer, denen nichts fehlte und die – anders als der farblose Herr Miese und der noch farbloserere Herr Hering – bei den jungen Damen recht beliebt zu sein schienen.
Hin und wieder hörte Lars seine Eltern tuscheln, dass ein gewisser Herr Giebel es ganz besonders arg triebe. Auf seine Fragen, was denn damit gemeint war, erhielt er wieder nur die Antwort, dass er das sowieso nicht verstünde. Einmal sah er Herrn Giebel mit zwei jungen Frauen an der Straßenecke stehen. Er redete in etwas unnatürlicher Weise mit vielen großartigen und anscheinend bedeutsamen Gesten auf sie ein, während die Frauen heftig kicherten. Beim nächsten Mal fragte er seine Schulkameraden, was denn Herr Giebel den Frauen alles so zu erzählen hätte. Seine schon mehr aufgeklärten Schulkameraden erläuterten ihm, dass Herr Giebel anscheinend mit den Frauen poussiere. Lars konnte sich unter diesem Wort nichts vorstellen und fragte genauer nach. Seine Schulkameraden klärten ihn weiter auf, dass er sich irgendwie bei den Frauen einschmeicheln wolle.
Das moderne Wort „sülzen“ war damals noch nicht bekannt. Dies wurde erst viel später von einem Studienfreund in Hamburg erfunden. Ein treffenderes Wort ist bei objektiver Betrachtung für diesen Vorgang bisher nicht gefunden worden. Es lehnt sich an die in Gelee eingelassenen Fleisch- und Innereienstückchen an, die beim Verzehr auf der Zunge ein glibberiges Gefühl erzeugen. Dieser Vorgang des Sülzens wurde alsbald dadurch definiert, dass ein Mann einer Frau mit in einer ganz bestimmten Absicht wahre oder unwahre, jedenfalls schmeichelhafte oder lustige Sachen erzählt. Zu damaliger Zeit war jedoch nur das Wort poussieren bekannt. Unter den Jungen war es absolut verpönt und sogar verächtlich, mit Mädchen zu poussieren. Man nannte sie Poussierstengel.
Mädchen waren für Lars ohnehin seltsame Wesen. Sie standen immer in Gruppen herum und schauten sich um, ob irgendetwas passiere. Sie selbst taten jedoch meistens nichts, sondern kicherten allenfalls über andere, die irgendetwas unternahmen oder sich wichtigmachten. Die Mädchen weinten hin und wieder und waren häufig krank. Sie standen meist in der Ecke und tuschelten untereinander. Sie rannten nicht herum, kletterten nicht auf den Zaun oder auf einen Baum und spielten nicht mit irgendwelchem Unrat Fußball. Sie trugen fast alle Namen, die in der großdeutschen Zeit sehr beliebt gewesen waren, wie Gudrun, Uta, Gertrud und sogar Siegbringe. Es erschien Lars auf jeden Fall besser, sich von ihnen fernzuhalten, da man sich auch nicht etwa verdächtig machen wollte, mit Mädchen zu poussieren.
Lars wuchs weiter heran. Er bestand die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium mit Auszeichnung, und er kam in eine gemischte Mädchen/Jungen-Klasse. Jung-Lars kam auch langsam in die Pubertät. Mit der Zeit bekamen für ihn die Körper der Mädchen hoch interessante Ausformungen. Er konnte das seltsame Gefühl nicht deuten, wenn es in seiner Hose eng wurde. Ein derartiges Thema war zuhause nie besprochen worden. Er spürte, dass dies ähnlich wie die Sache mit Herrn Giebel irgendwie im unanständigen Bereich liegen dürfte. Immerhin deuteten seine Eltern das Verhalten des Herrn Giebel in missbilligendem, ja verächtlichem Ton an. Sie tuschelten mit gedämpfter Stimme, dass Herr Giebel es schon allein deshalb so toll mit den Frauen treiben könne, weil ja die meisten Männer in seinem Alter im Krieg gefallen oder zu Krüppeln geworden waren und allenfalls in den Straßen mit allerlei lenkbaren Holzkarren herumfahren konnten.
Jedenfalls konnte Lars mit seinen Erregungen nicht umgehen und schämte sich darüber. Unter den Klassenkameraden wurde zwar einiges darüber geflüstert, aber dies geschah alles hinter vorgehaltener Hand, und Lars als am schlechtesten Informierter wurde auch zu derartigen Gesprächen nicht beigeladen. Zu der gleichen Zeit bemerkte er, dass er sich immer mehr für Mädchen interessierte und sie genauer anschaute. Sie erschienen ihm immer noch seltsam und fremd. Er hatte keine Schwester. Er konnte deshalb auch keine Vergleiche anstellen, was Mädchen denken, über was sie sich miteinander unterhalten oder was sie am liebsten taten. Denn sich als Junge mit Mädchen zu unterhalten, galt ja als sehr uncool, auch wenn dieses Wort damals noch nicht gebräuchlich war.
Ihm fiel auf, dass die Mädchen enge Hosen bevorzugten und zumeist eng anliegende Blusen oder Pullover trugen. Einige trugen auch Strickjacken, die ebenfalls mehr oder weniger eng am Oberkörper anlagen. Wenn die Schulpause begann, zogen die Mädels umständlich ihre Pullover bzw. Strickjacken an. Wenn die Schulpause zu Ende war, zogen sie diese ebenso umständlich wieder aus. Jedes Mal musste man aufgrund der bestimmten Bewegungen zu ihrem Oberkörper hinschauen, was von den Mädchen wohl auch beabsichtigt war. Bei jedem An- oder Ausziehen dieser Jacken kam immer wieder eine Erregung hoch, denn wenn beim An- oder Ausziehen die Arme nach hinten gebogen werden mussten, prallten notwendigerweise die Brüste nach vorne, was ebenfalls offenbar beabsichtigt war. Das war eine sehr lange und sehr schwierige Zeit, da alles, was mit diesen Erregungszuständen und den Auslösern zusammen hing, offiziell als äußerst unanständig, ja sogar sündhaft galt.
Zuhause wurde, wie gesagt, hierüber niemals gesprochen. Dieses Thema überließen die Eltern vielmehr dem sogenannten Konfirmandenunterricht, in welchem Lars und sein Bruder auf die Konfirmation vorbereitet wurden. Einmal in der Woche mussten sie dort erscheinen und allerlei Psalmen und Gebete auswendig lernen. Es wurden ihnen auch Geschichten vorgelesen, in denen mutige und tapfere, in jedem Fall rechtschaffene Jungen allerlei Abenteuer zu bestehen hatten. Eines Tages war es soweit: Der Diakon, der im kirchlichen Auftrag die Konfirmanden auf das rechtschaffene und vor allem gottesfürchtige Leben vorbereiten sollte, hatte die Aufgabe, in dieser Stunde seine Schützlinge aufzuklären.
Die Aufklärung bestand darin, dass die jungen Männer sich ein junges Mädchen mit üppiger Oberweite vorstellen sollten. Nachdem sie hierzu aufgefordert waren, erklärte Herr Diakon Dösing, dass sie wahrscheinlich bei dieser Vorstellung sehr schlechte Gedanken entwickelt hätten. Dieser Versuchung sollten sie allerdings niemals wieder zum Opfer fallen. Denn diese Vorstellungen seien unanständig, schmutzig und im höchsten Maße auch sündig und würden vom lieben Gott am jüngsten Tag auch streng bestraft werden. Um derartige schmutzige Gedanken beim Anblick eines schönen Mädchens gar nicht erst aufkommen zu lassen, empfahl Herr Diakon Dösing, sie sollten sich vorstellen, dass ein fremder schmieriger Mann die eigene Mutter so lüstern anschauen würde. Bei solchen abscheulichen Vorstellungen durfte man doch wirklich nicht auf schmutzige Gedanken kommen. Um derartige Gelüste nachhaltig zu verscheuchen, mussten die Kandidaten nun lauthals beten und inbrünstig heilige Lieder singen.
So bemühte sich die Kirche schon frühzeitig, ihre Schäfchen sich als Sünder fühlen zu lassen. Später würden diese Sünder durchaus geneigt sein, ihr schlechtes Gewissen zu erleichtern. In der Hoffnung auf gnädige Beurteilung vor dem jüngsten Gericht würden sie der Religionsindustrie nennenswerte Spenden zukommen lassen, und zwar gegen ein „Vergelt‘s Gott“, die genialste Erfindung einer Quittung ohne erkennbare Gegenleistung.
Das war also die Aufklärung. Nun hatten sie allerding noch immer nicht offiziell erfahren, was es mit dem Trieb auf sich habe und woher denn die kleinen Kinder kommen.