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Kapitel 3
ОглавлениеIn dieser Zeit seiner ersten Reifung wurde Lars des Öfteren von Mitgliedern von Jugendverbänden, von der Jungschar oder von sonstigen Jugendvereinen, angesprochen, ob er dieser oder jener Organisation beitreten wolle. Einer dieser jugendlichen Werber und Mitschüler nahm ein solches Werbegespräch zum Anlass, ihm anzubieten, dass er ihm das Onanieren beibringen könne. Lars wusste nur vom Hörensagen, was das wohl sein könnte. Aufgrund seiner „Aufklärung“ und seiner völligen Unkenntnis jeglicher sexueller Zusammenhänge fand er dieses Angebot nicht verlockend, sondern außerordentlich unheimlich und abstoßend. Er lehnte also ab und schaute weiterhin schüchtern, zweifelnd und unsicher zu den Mädchen, von denen es in seiner Klasse ca. zwölf an der Zahl gab.
Es wurde Frühling: Insekten, Käfer, Fliegen und Schnaken summten herum. Die Mädchen zogen sich bunt und auffällig an. Ihre Haare fielen in die Stirn, sie tänzelten und summten gemeinsam das eine oder andere Liedchen. Bei genauer Betrachtung benahmen sie sich wie Insekten. Sie sahen auch so aus, mit ihren ausladenden Haarponys, die wie Fühler anmuteten. Sie bestanden aus Kopf, Brust, Taille und Unterleib, also genau wie ein typisches Insekt, beispielsweise eine Wespe. Mit Vorliebe kamen sie bei schönem, warmem Wetter zum Vorschein, hatten ihre auffälligsten Sachen angezogen und ihre interessanten Körperteile zur Schau gestellt. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert, so dass einige Locken und Strähnen in ihre Stirn fielen. Beim Anblick eines Babys, egal wie hässlich es auch war, gerieten sie sofort in Verzückung. Sie sahen mit Kopf Brust und Hinterleib nicht nur so aus wie Kerbtiere, sondern sie benahmen sich auch so, wie eben Insekten, die bekanntlich einen sehr starken Hang zur Brutpflege haben.
Diese Art der Insektentheorie ergreift Lars noch heute, besonders im Frühling, wenn bei den ersten warmen Lüften diese menschlichen Insekten auszuschwärmen beginnen. Es summt und brummt. So wie die Fluginsekten, die ihre schönsten Farben entfalten, wenn sie auf und ab schweben, um von einer Blüte zur anderen zu gelangen, so schwebten auch die Mädchen umeinander, allerdings ohne erkennbares Ziel.
Kam in der Schule oder im Tennisclub unversehens ein zweideutiges Wort auf, so kicherten die Mädchen sofort los. Die Knaben allerdings zeigten sich in solchen Situationen eher verschüchtert und etwas beschämt. Auch die anderen Knaben waren ähnlich erzogen und voller Prüderie, weil insbesondere ihnen immer wieder erklärt wurde, dass „schlechte Gedanken“ nicht nur unanständig und verboten waren, sondern vor allem außerordentlich sündig, also in einem höheren Sinne mit späteren schweren Strafen im Jenseits verbunden.
So ging das Jahre lang weiter. Die Knaben quälten sich in ihrem sexuellen Drang, erzählten sich zunehmend zotige Witze, die sie irgendwo anders aufgeschnappt hatten. Sie erwarteten, dass irgendetwas Entscheidendes einmal geschehe. Es geschah aber nichts. Natürlich gab es einige Teenager-Partys, die zumeist im Keller oder in der Garage stattfanden. Die Eltern waren zumeist abwesend, da dieses Treiben im schummrigen Licht den damals herrschenden moralischen Grundsätzen krass widersprochen hätte. Dabei geschah auch auf diesen Partys nicht viel mehr, als dass man allerhand Alkohol zu sich nahm und versuchte, den teils verschüchterten, teils kichernden Mädels näher zu kommen. Aber seltsam: Immer wenn Lars' unruhige Hände – versehentlich, versteht sich – in die Nähe der interessanten Körperteile kamen, musste das Mädel plötzlich nach Hause. So war es auch später bei Verabredungen, die der pfiffige Lars weit vorausschauend auf den späten Nachmittag oder frühen Abend, jedenfalls auf eine Zeit ansetzte, in welcher die Dämmerung begann. Man ging spazieren, und zwar möglichst an Orten, wo man nicht gesehen wurde, wie z.B. in Parks oder auf Waldwegen oder an ähnlichen verschwiegenen Orten. Hin und wieder blieb er unter einem Vorwand stehen und versuchte, das Mädchen an sich zu ziehen. Auch in diesem Fall musste das jeweilige Mädchen plötzlich dringend nach Hause. Er fragte sich, was das Ganze bedeuten sollte, was er falsch gemacht hätte. Warum gingen sie mit ihm im Dunkeln spazieren, ohne dass er an ihnen herumfummeln konnte? Immerhin war doch allerorten die Rede von diesen Dingen. Fragen über Fragen und keine Antwort, nirgends.
Zuhause war das Thema weiterhin tabu. Von anderen Freunden erfuhr man Ähnliches, dass auch sie bei den Mädchen nicht weiter kamen. Einige Erfolgstypen allerdings gaben den Anschein, dass sie immer Erfolg hatten. Jedenfalls erzählten sie häufig Geschichten, bei denen aber niemand dabei war und die deshalb auch nicht nachprüfbar waren. Immerhin hatte der eine oder andere ein Mofa, auf welchem hin und wieder auch ein Mädel auf dem Soziussitz Platz nahm und kicherte. Dabei vollführten die glücklichen Besitzer eines Mofas gefährliche Fahrpirouetten. Manchmal fuhren sie derart halsbrecherische Kreise, dass es aussah, als solle ihr Mofa gleich in den eigenen Arsch fahren.
Lars war jedenfalls klar, dass die allgemeine Lehre richtig war: Die Mädchen wollten seinen Begierden nicht nachgeben; denn es war offensichtlich unanständig, eine Schweinerei und sündhaft. So quälten sich die Jahre ohne sexuelle Kontakte dahin. Es waren die schlimmsten Jahre seines Lebens. Dies auch deshalb, weil er keine Ahnung hatte, wie das weitergehen sollte.
Auf der Schule waren leider nicht die hübschesten Mädchen zu finden. Es war ein sogenanntes humanistisches Gymnasium mit teilweise gemischten Klassen. Die Eltern der Mitschüler waren meist Akademiker, insbesondere Lehrer, Ärzte, Pastoren, Offiziere, Beamte oder dergleichen. Dementsprechend sahen auch die meisten ihrer Töchter aus. Viele der Mitschüler und Mitschülerinnen hatten keinen Vater mehr. Der war gefallen, verschollen oder verschleppt, ohne dass Hoffnung auf Rückkehr bestand. Einige hatten gar keine Eltern mehr. Sie wuchsen bei ihren Großeltern oder bei Adoptiveltern auf.
In dem außerordentlich konservativen Gymnasium gab es drei Sorten von Lehrern:
Die erste bestand aus alten, bereits pensionierten Lehrern, die wegen kriegsbedingten Lehrermangels reaktiviert worden waren und die noch in Latein bzw. Griechisch unterrichten konnten. Sie waren noch vom alten Schrot und Korn und geprägt von dem ehemals wilhelminischen Verständnis von Zucht und Ordnung. Wenn der Lehrer den Klassenraum betrat, mussten die Schüler auf Kommando aufstehen, strammstehen und den Lehrer im Chor mit seinem Namen begrüßen. Sodann gab es das Kommando „Setzen“ und der Unterricht begann. Im Falle von Verfehlungen oder sonstigen Unbotmäßigkeiten eines Schülers gab es Bestrafungen wie Schläge mit dem Lineal auf den Handrücken, Kopfnüsse, Eckestehen, Ohr einreißen oder eine schallende Ohrfeige. In der Folge musste man dann mit dem guten Ohr dem Unterricht weiter folgen, während es im schlechten Ohr grässlich summte.
Die zweite Sorte waren Lehrer im normalen Beamtenalter, die den Krieg vollkommen unversehrt überstanden hatten. Diese Lehrer verwalteten weiterhin unbekümmert ihr Bild vom deutschen Jungen, der zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und schnell wie ein Windhund sein müsse und im Übrigen sich ehrlich, anständig und aufrichtig zu verhalten habe. Für Schwächen eines Schülers war hier kein Platz, denn es galt: „Gelobt sei, was hart macht!“ Der deutsche Junge machte zwar Streiche, aber er stand auch dafür ein, hieß es.
Die dritte Sorte waren die vom Krieg gezeichneten und beschädigten Lehrer. Sie waren entweder sichtbar beschädigt, indem ihnen verschiedene Gliedmaßen oder ein Auge fehlten. Teilweise trugen sie noch Granatsplitter im Körper, teilweise waren sie in unsichtbarer Weise seelisch schwer geschädigt. Es kam vor, dass sie bei rüpelhaftem Verhalten der Schüler in Hysterie ausbrachen und wie enthemmt ihre Kriegserlebnisse quasi herauskotzten.
Dieser als „Lehrkörper“ bezeichnete Bestand war jedenfalls nicht geeignet oder dazu berufen, das verklemmte Verhältnis zwischen den Geschlechtern der Halbwüchsigen wenigstens ansatzweise zu ordnen.
So gab es einen dauernden Schwebezustand, sowohl zuhause als auch in der Schule, wo weder hier noch dort etwas Reales vorgegeben oder gar vorgelebt wurde. Insofern fehlte jede Vergleichsmöglichkeit, wie es sonst hätte sein können, wenn es anders gelaufen wäre. So gab es auch keine vergleichbaren Erfahrungen, wie man mit dieser oder jener Situation umgehen könne, die man in dieser oder jener Form so ähnlich schon einmal erlebt hatte. Denn es geschah gar nichts. Es blieb ein Schwebezustand ohne Vergleichbarkeit, ohne Mittelpunkt.
Lars und seine Kumpane lernten Griechisch und Latein und zwar von der trockensten Seite, nämlich zunächst die Grammatik. Aber es fehlte an jedem Bezugspunkt, wie man im täglichen Leben mit anstehenden Fragen und Problemen fertig werden könne. Davon hatte Cäsar in seinem drögen Bericht „De bello Gallico“ nichts erzählt. Die Folge der Zusammenhanglosigkeit war die Zusammenrottung mit ähnlich verzweifelten und haltlosen Schulkameraden, die unsicher und ziellos durch die Gegend taumelten und hier und dort, wo es sich gerade bot, sinnlose Zerstörungen anrichteten.