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Kapitel 1

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Dr. Sophia Jäger hatte an diesem Morgen einen Gerichtstermin, in dem sie als Zeugin in einer Mordsache ihr Gutachten persönlich darstellen durfte. Obwohl „verteidigen“ die bessere Beschreibung gewesen wäre. In der Anfangszeit ihrer Tätigkeit als leitende Forensikerin der Außenstelle der rechtsmedizinischen Abteilung Dortmund in Hagen hatten sie die oft hanebüchenen, aber meist rhetorisch geschickten Seitenhiebe der Verteidiger maßlos aufgeregt. Doch nun, nach über zwei Jahren in ihrer jetzigen Position, kannte sie das Spiel und blieb souverän und ruhig bei ihren auf naturwissenschaftlicher Basis gewonnenen Erkenntnissen. Ja, und sie hatte den Eindruck, dass die Richter ihre fachliche Qualifikation wahrnahmen und achteten.

Kaum hatte sie nach Verlassen des Gerichtsgebäudes den Flugmodus ihres Handys deaktiviert, da klingelte es und sie drückte den grünen Knopf. „Jäger!“ „Hallo Sophia, Erwin hier! Wir haben einen Leichenfund. Ich habe die Kollegen von der KTU schon informiert, vielleicht möchtest du ja selbst noch vor Ort einen Blick drauf werfen. Ich schick dir die Koordinaten fürs Navi auf dein Handy, ok?“

An die kollegiale Art, mit der Erwin Walther mit ihr sprach, würde sie sich erst noch gewöhnen müssen. Kennengelernt hatte Sophia den Kriminaloberkommissar anlässlich der feierlichen Eröffnung ihrer Dienststelle, die als Pilotprojekt galt. Seitdem hatte Sie kaum mit ihm zusammen gearbeitet. Erwin war in seinem Umgang mit ihr von Anfang an sehr offen. Vielleicht irritierte es sie auch nur deshalb, weil sie das von den Menschen in Hagen nicht gewohnt war und sie vermutete, dass Erwin ein privates Interesse an ihr haben könnte. Möglicherweise bedurfte es einfach nur einer Phase der intensiven Zusammenarbeit, bis es sich für sie normal anfühlen würde.

Sophia bestätigte, „Ja, gerne. Bist du vor Ort?“

„Ja, ich bin schon eine Weile hier. - Habe bereits alles erledigt, damit du ungestört arbeiten kannst.“

„Gut – bis gleich!“

Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Erledigung aussah. Ihre Mitarbeiter hatten das Instrumentenzelt aufgebaut und den Fundort gesichert, während er mit wichtiger Miene in der Gegend rumstand. Sophia wurde das Gefühl nicht los, dass es verdammt lange dauern würde, bis es zu einer gemeinsamen Wellenlänge käme.

Mittlerweile war sie bei ihrem Auto angelangt. Weil es ein warmer und sonniger Frühlingsmorgen war, öffnete sie das Verdeck des roten Spider Cabrios, Baujahr 1967, schwang sich in den Sitz und übernahm die übermittelten Daten des Oberkommissars in die Navi-App ihres Handys. Nachdem sie ihre Pumps gegen bequeme und alltagstaugliche Sneaker getauscht hatte und ihre blonden schulterlangen Haare mit einem Haargummi hinter dem Kopf fixiert hatte, fuhr sie los. Sie ließ sich von der Technik quer durch die Innenstadt bis Eilpe führen. Dort ging es die Selbecker Straße hinauf. Sie genoss das Gefühl von Freiheit, wie es wohl nur Cabrio-Fahrer wertschätzen können. Bei ihr ging es aber noch darüber hinaus, es bestärkte sie in ihrem Drang nach Unabhängigkeit: Das zu tun, was wichtig und richtig ist! Bei genauerer Betrachtung war dieses Bedürfnis nach beruflicher Freiheit maßgeblich für ihre spontane Zusage gewesen, die Leitung einer Außenstelle der Gerichtsmedizin zu übernehmen. Und für Sophia war es die Gelegenheit, sich aus dem, ‚viele Jäger – wenig Hasen‘ – Umfeld im Uniklinikum Dortmund abzusetzen. Sie lebte auf in ihrem Job und belohnte sich selbst damit, jeden Fall korrekt und mit einem leichten Hang zum Perfektionismus zu bearbeiten. Doch hatte sie tatsächlich die Freiheit, das zu tun, was sie für das Richtige hielt? Ad hoc kamen ihr nur zwei Berufe in den Sinn, bei denen das wirklich so war: Richter und Papst. Obwohl - beim Papst war sie sich da gar nicht so sicher.

Der weiblichen Stimme Ihrer Navi-App folgend lenkte sie nach gut zwei Kilometern ihren Spider nach rechts und folgte einer den Berg hinaufführenden Serpentine, die längs des Weges von Nachkriegsbauten, mit hübschen Vorgärten und allerlei Gartennippes geschmückt, gesäumt war. Nach der letzten der fünf Kurven endete die Straße in einer Sackgasse. Zwischen den Neubauten und einer prächtigen Villa aus der Gründerzeit war, als würde dadurch der gebührende Abstand unter den gesellschaftlichen Schichten untermauert, ein baufreier, wild begrünter Raum. Vor der Villa parkten der, ihr bekannte, Mercedes-Transporter der KTU und ebenso der 5er BMW des Kommissars, sodass Sophia der Ansage des Navis keine weitere Beachtung schenken musste. Sie stellte ihren Spider vor dem BMW ab, stieg aus und schaute beeindruckt zunächst auf die Villa, an der oberhalb des zweiten Stockwerkes das Baujahr 1901 aus schmiedeeisernen Ziffern dem Betrachter ins Auge fiel. Das Haus war in einem dezenten Mintgrün gestrichen und machte einen gepflegten Eindruck. Oberhalb der Jahresangabe waren zwei kreisrunde Fenster angeordnet, links und rechts gesäumt von den abfallenden Dachflächen. Es strahlte etwas Lebendiges aus, als hätte das ehrwürdige Haus Augen, die in die Ferne schauen würden. Diesem imaginären Blick folgend änderte sie ihre Blickrichtung und es bot sich ihr ein wunderschöner Ausblick über das Mäckingerbachtal. „Nicht schlecht, gar nicht schlecht“, flüsterte sie leise.

Als sie sich wieder dem Anwesen zuwandte und die ersten Schritte in Richtung des offenen stehenden schmiedeeisernen Gartentores tat, kam ihr ein Mann mit ungefähr zehn Millimeter kurzen, weißgrauen Haaren entgegen: Kriminaloberkommissar Erwin Walther. Insgesamt hatte er eine sportliche Erscheinung. In seiner schlichten Lederjacke und mit seinem forschen Schritt wäre er für unter 48 Jahre durchgegangen, die er tatsächlich war.

„Schön, dass du es so schnell einrichten konntest, Sophia. Die Fundstelle ist gesichert, die Kollegen von der Streife sind gerade fort und die KTU ist im Zelt und ordnet ihre Instrumente. Habe natürlich auch die Leiche schon in Augenschein genommen, nur aus der Ferne, ohne etwas anzufassen.“

Als erfahrener Kriminalist wusste er, dass oberstes Gebot nach einer Leichenauffindung war, mögliche Spuren am Fundort nicht durch unbedachtes Handeln zu verwischen.

Er fügte seiner Einführung noch hinzu: „Aber viel wird es hier wohl nicht zu tun geben. Für uns, meine ich!“

Eins muss man ihm ja lassen, dachte Sophia. Er ist absolut professionell in seinem Job! Doch in der Bewertung der Frage, ob es hier etwas zu tun gäbe, sah sie im Ansatz ihren Kompetenzbereich verletzt, daher erwiderte sie mit einem verschmitzten Lächeln:

„Na, dann können WIR ja wieder fahren!“

„Nein, so meinte ich es nicht, ich meine nur, da ist wohl jemand schon etwas länger tot und es sieht eher nach einem Fall für die Archäologie als für die Kripo aus.“

„Vielleicht darf ich trotzdem mal selbst sehen?“, konterte Sophia und fügte lachend hinzu:

„Die Archäologie können wir ja immer noch informieren. Naturgemäß sind die es ja gewohnt zu warten.“

Links neben das stattliche Haus führte ein mit feinem grauen Kies bestreuter Weg. Auf der Mitte zweigte dieser zur seitlichen Eingangstür ab, weiter geradeaus zum Garten. Ohne dass Sophia von der schweren hölzernen Haustür Notiz nahm, gingen sie und Erwin daran vorbei. Sie wollte die Wogen etwas glätten und führte das Gespräch weg von der Frage ihrer Zuständigkeit:

„Haben die Bewohner des Hauses dir schon was Zweckdienliches sagen können?“

„Nein, noch nicht. Ich habe die Hausherrin vorhin nur kurz begrüßt. Steht als Nächstes auf meiner Liste. – Ich denke, Ihr kommt ohne mich aus. Ja? Wenn ich gebraucht werde, ich bin im Haus.“ Mit diesen Worten drehte Erwin sich um und entfernte sich.

Sophia hatte ein ungutes Gefühl. War sie zu dünnhäutig gewesen und ihm gegenüber zu bissig? Als Frau in einer Männerdomäne hatte sie gelernt, die Ellenbogen zu benutzen. Doch damit konnte sie mehr Schaden anrichten, als ihr lieb war, dessen wurde sie sich in diesem Moment bewusst. Über Erwin Walther wusste sie, dass er überzeugter Junggeselle war und mit der Kriminalistik seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hatte. Er selbst hatte ihr bei ihrem ersten Treffen erzählt, dass er zu Hause eine ganze Regalwand voller Bücher über Kriminalfälle hätte, und dass er es liebte, abends darin zu lesen. Waren Erwin und Sophia sich – beide in ihrem Spezialgebiet – ähnlicher als angenommen? Es konnte ja gut sein, dass Erwin mit seinem Schwung und Elan einfach nur helfen wollte. Deshalb nahm Sophia sich vor, ihrer beruflichen Beziehung eine Chance zu geben.

Sophia sah eine weite, nach ihrer Schätzung 1800 Quadratmeter große Rasenfläche, gesäumt von einem bunten Gemisch angelegter Blumenbeete, dahinter einen mannshohen Wildzaun. Hinter dem Zaun war dichter Mischwald. In der Mitte des Grüns stand ein hellblauer kleiner Bagger, offensichtlich das Werkzeug zur Öffnung der Grasnarbe. Die Fläche der geöffneten Grasnarbe war bereits so groß, dass gut zwei PKWs darin Platz hätten. In einem Teil war das Erdreich tiefer ausgehoben. Neben der Grube stand das weiße Zelt der KTU und sie konnte aus der Ferne Stimmen hören. Um das ganze Arrangement herum war, an hölzernen Spießen befestigt, ein blau-weißes Kunststoffband mit dem Aufdruck „POLIZEI“ gespannt.

Na, dann mal los! Voller Tatendrang schritt sie zum Zelt, steckte den Kopf kurz durch den Eingang und grüßte: „Morgen zusammen!“, um direkt ihr eigentliches Ziel, die Grube mit dem Fund anzusteuern. Hinter sich hörte noch das Echo ihrer Begrüßung von zwei jungen Stimmen „Moin“, „Morgen.“

Am Rand der Grasnabe ging sie in die Hocke. Bei kurzer bis mittlerer Liegezeit verströmt der Körper ein typisches Aroma. Doch das, was Sophia an diesem Grab wahrnahm, war nicht der Geruch des Todes, sondern der des Frühlings. Es roch nach frischer Erde; saftiger, fruchtbarer Erde.

Sie verweilte in der Stellung und verstand nun Erwins Einschätzung, doch sie hatte den Anspruch, dafür erst einwandfreie Beweise zu finden.

Skelette haben etwas unendlich Friedvolles an sich, dachte sie, während sie in das frisch ausgehobene Erdloch auf das nur zum Teil freigelegte menschliche Skelett sah. Sie sah Elle und Speiche des rechten Arms sowie die teilweise sichtbare Handwurzel der rechten Hand, den Oberarmknochen, einen Teil der Schulter und die vordere Hälfte des Schädels. Sie blickte in leere Augenhöhlen, wobei „leer“ es nicht exakt beschrieb, denn dort, wo einst Augen dem Besitzer Licht und Farben beschert hatten, war nun braune fruchtbare Erde. Doch trotzdem hatte Sophia den Eindruck angeschaut zu werden. So friedvoll, keine Spur der Sorgen und des Leids, die jedes Leben in unterschiedlichen Ausprägungen erfüllen. Nachdem Milliarden von Kleinstlebewesen sich an den Weichteilen Toter bedient haben und somit den Kreislauf von Leben und Tod aufs neue starten, bleibt das Grundgerüst des Homo sapiens zurück. Es ruht bei günstigster Bodenbeschaffenheit ohne nennenswerte Veränderung Jahrhunderte oder gar Tausende von Jahren in der Erde. Und während die Erde sich weiter dreht und das Leben und Streben fortlaufend vermeintlich neues Glück und Leid erzeugt, liegt das Skelett friedlich in seiner dunklen Ruhestätte, ohne sich um den Lauf der Geschichte mit ihren nie enden wollenden Machtkämpfen der Menschen zu kümmern. Den Kriegen und der einhergehenden Zerstörung. Sophia blickte dem Skelett tief in die Augenhöhlen, während in ihrem Geist Armeen aus längst vergangen Tagen in chronologischer Reihenfolge aufeinander zustürmten: Napoleons Armee von West nach Ost, die russische Armee in die andere Richtung, die deutschen Armeen in beide Richtungen und so weiter. Leise, als sei es eine vertrauliche Unterredung, fragte sie den stummen Zeugen der Geschichte: „Na, was von all dem hast du miterlebt und einfach geschehen lassen?“

Soweit das Licht in der schätzungsweise knapp über einen Meter tiefen Grube es erkennen ließ, waren der Schädel und die freigelegten Schlüsselbeinknochen dunkel verfärbt, was den Schluss zuließ, dass das Skelett schon längere Zeit hier lag. Aber Genaues konnte man erst nach der Analyse im Labor sagen. Der Boden war durchsetzt mit Steinen, wie es in dieser Gegend üblich war. Sophia seufzte zufrieden, bevor sie aus der Hocke aufstand und zu den beiden kriminaltechnischen Assistenten schritt, die vor ihrer Ankunft mit den Vorbereitungen der, vor ihnen liegenden, Exhumierung begonnen hatten, aber nun auf weitere Anweisung der Gerichtsmedizinerin warteten. Als sie das weiße Zelt erreichte, blickte sie die beiden jungen Mitarbeiter freundlich an. Paul Timmermann und Verena Müller hatten alles bestens arrangiert. Die Transportbehälter für die Knochenteile und etwaigen anderen Gegenstände standen geordnet in einer Reihe auf einem langen Klapptisch und daneben lagen die Instrumente und Werkzeuge wie Zinnsoldaten nebeneinander aufgereiht. Beide trugen ihre weißen Overalls, saßen jeder mit einem Pott Kaffee in der Hand auf einer Sitzbank an einem anderen Tisch und schauten entspannt und freundlich zu ihr auf.

„Ihr wart ja schon fleißig. Habt Ihr noch irgendwas anderes gefunden?“

Paul hatte ein Studium in Informatik absolviert, und war als Quereinsteiger zur Polizei gekommen. Mit seinen dunkelbraunen Haaren und seiner Brille mit dicken schwarzen Rändern sah er ein wenig wie ein Nerd aus. Doch ihn in diese Schublade zu stecken wäre zu simpel gewesen. Tatsächlich war er ein Genie in allen technischen Themen und bei dem, was er tat, äußerst sorgfältig. Darüber hinaus hatte er einige Qualitäten, die nicht unbedingt zu denen eines Nerds passen würden. Zum Beispiel verfügte er über eine ausgeprägte Höflichkeit. Er befüllte einen Pott Kaffee aus einer übermäßig großen Thermoskanne und reichte ihn zu Sophia herüber, „Zucker?, Milch?“

„Nur Milch bitte, danke“, sagte Sophia knapp, während sie sich zu den beiden an den Tisch setzte.

Verena antwortete ihr, „Nein nichts, noch nicht. Außer das hier,“ und hielt ihr einen durchsichtigen Kunststoffbeutel mit Zipp-Verschluss entgegen, darin ein messingfarbener Knopf. Verena schaute mit ihren großen dunklen Augen und lebhaften Blick aus ihrem Overall heraus. Am Rand der Kapuze war eine Strähne ihrer türkisgefärbten Haare zu sehen, und fügte keck hinzu:

„Aber das war gar nicht unser Verdienst, sondern der des Baggerführers.“

Sophia lächelte kurz. Irgendetwas an Verena gefiel ihr. Diese gutgelaunte und wache Art, mit der sie anderen begegnete, erinnerte sie an jemanden, den sie jeden Morgen im Spiegel betrachtete. Nur, dass Verena jünger und unerfahrener war. Verena hatte zuerst eine Beamtenlaufbahn bei der Polizei eingeschlagen. Ihr Interesse an Chemie und Biologie brachte sie schließlich dazu, eine polizeiinterne Ausbildung zum kriminaltechnischen Dienst zu absolvieren. Und jeder, der mit ihr zusammen arbeitete, konnte merken, dass diese Entscheidung die Richtige gewesen war. Verena war hellwach bei dem, was sie tat, wissbegierig und strahlte stets eine positive Grundstimmung aus, wie es wahrscheinlich nur Menschen tun, die in ihrem Beruf ihrer Berufung gefolgt sind.

„Baggerführer? Gibt es jetzt Baggerführer bei der KTU?“

Paul prustete vor Lachen seinen Schluck Kaffee zurück in den Pott, um gleich darauf mit der Erklärung anzuschließen, „Nein, nein. Soweit ich es mitbekommen habe, wollen die Eigentümer hier einen Schwimmteich anlegen. Heute Morgen hat ein beauftragtes Unternehmen mit den Arbeiten für den Aushub begonnen. Na, und der hat es auf seiner kleinen Baggerschaufel glänzen sehen. Und, weil er wohl dachte, einen Schatz zu entdecken, hat er mit den Händen weiter gegraben. Bis er das gefunden hat“, berichtete Paul und zeigte dabei mit dem Daumen in Richtung Grube. „Er war es auch, der die Polizei gerufen hat. Hat der Kommissar uns gesagt.“

Sophia wog den Beutel mit dem ungefähr zehn bis elf mm großen Knopf in ihrer Hand. „Scheint aus Messing zu sein. Sicher kein Zufall, dass der Knopf in der gleichen Erdschicht lag. Habt Ihr den Metalldetektor dabei?“

„Ja klar“, sagte Verena. „Ist im Auto! Sollen wir damit nach der Exhumierung nochmal den ganzen Bereich scannen?“ Verena war erst seit Anfang des Jahres bei ihnen, und schon jetzt hatte Sophia den Eindruck gewonnen, dass sie damit ihrer beruflichen Leidenschaft folgen würde. Das hatte ihr Paul, der seit der Gründung der Außenstelle dabei war, bestätigt. Sowieso hielt Paul wohl sehr viel von Verena, nicht nur in beruflicher Hinsicht.

„Exakt, ja. Würde mich nicht wundern, wenn da noch mehr liegt!“

Sie besprachen noch einige Details der fachgerechten Exhumierung. Für die beiden jungen Assistenten hatte es etwas von einer Vorlesung. Sophia war der Überzeugung, dass es ihre Pflicht war, ihre Erfahrungen und ihr Wissen weiterzugeben und dabei die Motivation der individuellen Vorgehensweise zu erklären. Eine Generation zuvor herrschte noch die Sitte vor, dass Vorgesetzte ihr Wissen oder Nichtwissen für sich behielten. Im gleichen Maß wie sie es damals bei Ihren Vorgesetzten verabscheut hatte, war es heute für sie eine bewusste Verhaltensweise, möglichst viel weiterzugeben. Auch ihr persönlicher Umgang entsprach sicher nicht so manch altem Muster, weil sie sich als Teil des Teams ansah. Trotzdem war Sophia sich ihrer Führungsrolle bewusst. Für sie war es kein Widerspruch und sie erntete dafür alltäglich die Bestätigung. Trotz des lockeren Umgangs, Scherzens und persönlichem Austauschs folgten ihr Verena und Paul, sobald es um fachliche Belange ging. Teamerfolg ist die Frucht des guten Vorbildes, niemals der falschen Autorität, war Sophias Überzeugung.

„Für eine etwaige Rekonstruktion des Tathergangs ist die Kenntnis der Liegedauer der menschlichen Überreste extrem wichtig. Offensichtlich haben wir hier nicht das, was man einen frühen postmortalen Zustand nennt, denn die Weichteile sind möglicherweise bereits schon vollständig zersetzt. Aber das bedeutet nicht, dass wir keine mehr finden. Bitte geht also besonders sorgsam vor. Das kleinste Gewebeteil, das kleinste Haar kann entscheidend für die Bestimmung der Liegedauer sein.“

„Und was, wenn wir keine Weichteile finden?“, wollte Verena wissen.

„Dann geht's an die Knochen!“, erwiderte Sophia lächelnd. „Mit einem vollständigen Verschwinden der Weichteile im Erdreich kann frühestens nach drei bis vier Jahren gerechnet werden. Je nach Masse des Körpers und den chemischen und physikalischen Umgebungsbedingungen auch länger. Wenn keine Weichteile mehr da sind, sprechen wir über eine Liegezeit größer vier Jahre, eher mehr. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass niemand chemisch oder physikalisch nachgeholfen hat. Nach weiteren fünf bis sechs Jahren, wenn auch das Fett und Gewebe aus dem Inneren der Knochenstruktur aufgelöst sind, ist eine Bestimmung der Liegezeit äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. - Aber lasst uns erst mal schauen, was uns erwartet, bevor wir alle möglichen Fälle durchspielen. Auf jeden Fall sollten wir auch Bodenproben von verschiedenen Stellen zur chemischen Analyse und zur pH-Wert-Bestimmung nehmen. Aber lasst uns klassisch vorgehen, bevor wir die einzelnen Knochen entnehmen, sollten wir eine partielle Freilegung durchführen, sodass wir die Lage des Skeletts erkennen können. Alles klar soweit?“

Paul und Verena nickten zustimmend und Paul ergänzte: „Und ich mach wieder den Fotografen, ja?“

Sophia stimmte ihm zu, während sie aufstand und einen der weißen Overalls anzog. Paul war der Techniker im Team, und er konnte geschickt mit der Kamera umgehen. Auch unter widrigen Lichtverhältnissen schuf er scharfe Detailbilder und verlor dabei nicht den Sinn für den Gesamtzusammenhang. Denn ohne jeden Kontext sind Details oft wertlos. Daher gehörte es zu seinen Aufgaben, an signifikanten Stellen kleine Schilder mit Nummern zu platzieren, um in späteren Texten Bezug auf wichtige Gegenstände und deren Anordnung nehmen zu können. Außerdem erledigte er die Standardaufgaben, notierte Temperatur und Luftfeuchtigkeit und protokollierte die Arbeitsschritte.

Nach dieser ausführlichen Besprechung stiegen Sophia und Verena in die Grube, ausgerüstet mit kleinen Eimern, Bürsten, Pinseln und Schabern. Wenngleich die eigenhändige Durchführung von Exhumierungen nicht in ihrer Stellenbeschreibung als Leiterin der Forensik stand, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um Verena wertvolle Hinweise in der praktischen Umsetzung zu geben.

Sie kamen gut voran und nach einiger Zeit war das Skelett in voller Größe freigelegt, aber wunschgemäß so, dass jeder Knochen noch durch das Erdreich in seiner Position gehalten wurde. Das Skelett lag in kerzengerader Haltung auf dem Rücken, Arme und Beine alle hübsch parallel zueinander ausgerichtet. Links und rechts des Sternums hatten sie in regelmäßigen Abständen jeweils sieben Knöpfe aus Messing, mit einem Durchmesser von ungefähr 15 mm, gefunden. Neben den Handwurzelknochen fanden sie insgesamt drei weitere Knöpfe, in der gleichen Größe wie der, den der Baggerführer gefunden hatte. Das deutete auf eine Bekleidung des Toten hin. Vom Stoff des Kleidungsstückes selbst war nichts übriggeblieben. Wenn man davon ausging, dass es sich um natürliche organische Materialien handelte, war dies nach wenigen Jahren keine Besonderheit, Naturtextilien waren eine Leibspeise von Kleinstlebewesen. An der linken Seite in Höhe des Beckens fanden sie etwas, das aussah wie ein ungefähr 80 cm langes Schwert. Als sie diesen Zustand erreicht hatten, betrachteten sie zunächst das Arrangement, und Paul machte unzählige Aufnahmen.

Sophia wollte gerade eine erste Beurteilung abgeben und zum Fehlen der drei äußeren Fingerknochen der rechten Hand etwas sagen, da klingelte ihr Handy. Sofort nahm sie den Anruf an. Offensichtlich war der Anrufer ohne jede Floskel direkt zum Thema gekommen, denn Sophia hörte nur zu, um schließlich das Gespräch mit einer kurzen Bestätigung zu beenden: „Gut, ich kann in 90 Minuten dort sein.“

Dann drehte sie sich kurz zu Verena und Paul um. „So, jetzt müsst ihr ohne mich auskommen, man verlangt nach mir! – Ihr macht weiter wie besprochen und schafft dann alles zusammen in die Obduktion. Ok?“ Beide stimmten im Chor zu. Daraufhin zog sie den Overall aus, warf ihn in eine dafür bereitstehende Box und machte sich auf den Weg.

Auf halber Strecke des Rasenstücks, das zum Haus führte, kam ihr eine Frau entgegen, wahrscheinlich die Hausherrin, die einen großen Teller, vollgepackt mit Apfelkuchen, vor sich her trug. Die Dame begrüßte Sophia mit den Worten:

„Ihr Kollege ist schon vor einiger Zeit gefahren, da wollte ich Ihnen doch eine Stärkung bringen.“

„Ah, das wäre aber nicht nötig gewesen, Frau …?“

„Ach, entschuldigen Sie, Recksiepe, Brigitte Recksiepe.“

„Sehr angenehm, Sophia Jäger, ich bin die leitende Rechtsmedizinerin. Ich bin leider etwas in Eile, aber meine Mitarbeiter freuen sich sicher über eine Stärkung. Auf Wiedersehen!“

„Ja, auf Wiedersehen!“, erwiderte Frau Recksiepe freundlich und ging weiter Richtung Zelt. Sophia in die andere Richtung.

Die Evolution hat dem Menschen eine visuelle Sinneswahrnehmung geschenkt, die unseren Vorfahren sicher unzählige Male das Leben gerettet und damit überhaupt die Perfektionierung und Weitergabe dieser Eigenschaft ermöglicht hat. In jeder Sekunde empfängt das Auge mehr als zehn Millionen Lichtreize, Informationseinheiten, die im komplexen Zusammenwirken von Filter- und Bewertungsalgorithmen in unserem Gehirn unterscheiden zwischen unwichtig und wichtig. Eine dieser bewundernswerten Fähigkeiten ist es, dass wir bewegte Objekte im unscharfen Seitenbereich des Sichtfeldes wahrnehmen und als mögliche Gefahr einstufen. Automatisch wird das Objekt durch eine schnelle Pupillendrehung angepeilt, durch die Linse fokussiert und somit dem Gehirn innerhalb eines Bruchteiles einer Sekunde ein verwertbares Bild geliefert. Oft stellt sich heraus, dass es eben nicht der gefürchtete Tiger ist, aber einmal nicht hingeschaut kann sofort tot bedeuten. So funktioniert Evolution.

Genau dieser Mechanismus wirkte bei Sophia, als sie weiter über den Rasen lief. In einem winzigen Moment nahm sie wahr, dass sich die Gardine an einem der Fenster im obersten Stockwerk des herrschaftlichen Hauses bewegte.

Das Grab des Franzosen

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