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Kapitel 4

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Ausgeruht und voller Tatendrang erschien Sophia am nächsten Morgen im Labor der Rechtsmedizin. Verena und Paul waren äußerst produktiv gewesen, denn zu ihrer Überraschung lag das exhumierte Skelett, einschließlich der gefundenen Gegenstände, bereits in anatomisch korrekter Anordnung auf einem der Obduktionstische.

In ihrem Büro fand sie auf der Computer-Tastatur das Protokoll der Exhumierung, versehen mit einem kleinen Post-it auf dem stand „Wurde spät, kommen morgen etwas später. Viele Grüße Paul ☺.“ Sophia überflog kurz das Protokoll. Demnach wurden außer den ihr bereits bekannten Gegenständen keine weiteren Objekte gefunden. Haare oder Weichteile der verstorbenen Person gab es anscheinend nicht.

Sophia wollte vor der Fallbesprechung die Obduktion erledigt haben und zog sich dafür um. Eine Obduktion dient der Feststellung der Todesursache und der Rekonstruktion des Sterbevorgangs sowie der Geschlechts- und Identitätsbestimmung. Da der Sterbevorgang kausal mit dem Tathergang verbunden ist, ist außerdem der Todeszeitpunkt von Interesse. Üblicherweise werden bei Leichenfunden bereits am Fundort wichtige Erkenntnisse zum Todeszeitpunkt gewonnen, wie zum Beispiel die Körpertemperatur, Madenbefall, Verfärbung der Leiche und eine Vielzahl anderer Merkmale. Da keinerlei Weichteile vorhanden waren, war die Liegezeit des Skeletts eine wichtige Information zur Festlegung der weiteren Vorgehensweise. Wie Sophia es am Vortag bereits ihren beiden Assistenten im Ansatz erklärt hatte, war allerdings die Klärung der Liegezeit bei Skelettfunden sehr schwierig.

Mit der C14-Datierung hatte die Wissenschaft der Archäologie zwar ein starkes Werkzeug an die Hand gegeben, doch für eine Datierung in rechtlich relevanten Fällen hatte diese Methode eine zu geringe Aussagekraft. C14 zerfällt mit einer Halbwertszeit von ungefähr 5.730 Jahren. Bei großen Zeitabständen kommen damit wertvolle Ergebnisse zustande. Selbst die natürliche Ungenauigkeit von mindestens plus/minus 40 Jahren fällt bei Betrachtungen solcher Zeiträume nicht ins Gewicht. Jedoch sind bei Annahme eines kürzeren Zeitraumes 40 Jahre mehr oder weniger schon beachtlich. Sophia kam zu dem Schluss, dass in dem vorliegenden Fall andere Hinweise zu beachten seien. Den zusammen mit dem Skelett gefundenen Gegenständen und deren Datierung würde man eine besondere Aufmerksamkeit schenken müssen.

Sophia begann damit, das Skelett auf Vollständigkeit zu untersuchen, und betrachtete, die lateinischen Namen der einzelnen Knochen dabei aufzusagen, als schöne Übung. Das Skelett war vollständig, bis auf die fehlenden Finger der rechten Hand. Sie sprach in ihr Diktiergerät: „Fehlende Phalanx media und Phalanx distalis an III, IV und V. Keine Schäden durch äußere Einwirkung an den verbleibenden Phalanx proximalis erkennbar.“ Das könnte ein Hinweis dafür sein, dass ihr Besitzer sie zu Lebzeiten verloren hatte. Denn bei einer Amputation im Bereich der Finger wird gerne das nächste Gelenk als Trennstelle gewählt. Bei einer zum Zeitpunkt des Tathergangs herbeigeführten Abtrennung war nicht ein so sauberes Ergebnis zu erwarten. Auch Tierfraß konnte nicht ausgeschlossen werden, denn nicht selten verschleppten Tiere Teile des Körpers. Dies wäre ein Indiz, dass der Leichnam vor der Bestattung eine gewisse Zeit oberirdisch gelegen hätte. Doch sie glaubte nicht an eine Amputation durch Tierfraß, wusste jedoch, dass sie es in ihrem Bericht nicht ausschließen durfte. Dies könnte die Ermittlungen unter Umständen auf eine falsche Spur bringen, und eine Interpretation war nicht Bestandteil der Obduktion.

Um mögliche Gewalteinwirkungen festzustellen, untersuchte sie auch die anderen Knochen auf Schnittverletzungen. Insbesondere den Stellen, an denen häufig Stich- und Schlagverletzungen zu finden waren, wie z.B. den Rippenbögen, der Wirbelsäule und dem Schädel, widmete sie ihre besondere Aufmerksamkeit. An keiner Stelle konnte sie die geringste Spur einer Gewalteinwirkung finden. Auch Frakturen im Bereich der Halswirbel waren nicht feststellbar. Jeder Hinweis auf eine mögliche Todesursache fehlte. Was allerdings nicht bedeutete, dass die Person eines natürlichen Todes gestorben war.

Zur kriminalistischen Aufklärung waren außerdem die Identität, Alter, Geschlecht und Herkunft von besonderem Interesse. Sophia fiel es nicht schwer, das Alter zum Zeitpunkt des Todes anhand des Zahnstatus, der Verknöcherungen der Wachstumsfuge an den Gelenkenden der langen Röhrenknochen und der Schädelnähte zu taxieren. Sie kam zu einem Ergebnis zwischen 35 und 55 Jahren. Sie gewährte sich selbst einen großen Spielraum bei der Taxierung, da ihr starke Anzeichen einer Mangelernährung auffielen. Offensichtlich hatte der Tote in seinen letzten Lebensjahren nicht die beste Nahrung erhalten. Auch der allgemeine Zustand der Zähne war nicht sehr gut. Sie hatte einmal gelesen, dass besonders die Soldaten der französischen Armee aufgrund der expansiven Kriegsbewegungen, mit denen Napoleon seine Grande Armée durch Europa befehligt hatte, unter langen Entbehrungen hatten leiden müssen.

Doch da sie mitten in der Obduktion war, schob sie den Gedanken beiseite, um ihre Wachsamkeit bei der weiteren Untersuchung nicht zu verlieren.

Für die Geschlechtsbestimmung eines Skelettes sind in der Regel eindeutige Unterscheidungsmerkmale von Schädel- und Beckenknochen ausschlaggebend. Das Becken der Frau ist den biologischen Funktionen von Schwangerschaft und Geburt angepasst. Der typische Schädel eines Mannes hat eine im stärkeren Maße fliehende Stirn als der einer Frau. Außerdem ist der männliche Schädel insgesamt größer und hat stark ausgeprägte Augenwülste. In dem vorliegenden Fall kam Sophia zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte.

Zur Identitäts- und der Herkunftsfeststellung würde sie einen der besten im Kiefer vorhandenen Zähne auswählen, um eine DNA- und Strontium-Analyse durchführen zu lassen. Letztere war zwar auf Grund der globalen Verteilung von Nahrungsmitteln bei Todesfällen in der neueren Zeit sinnlos, doch je länger die Liegezeit war, umso zweckdienlicher würde diese Methode sein.

Damit war Sophia wieder bei der Liegezeit. Dazu wollte sie abschließend eine Untersuchung anstellen, deren Methode zufällig Bestandteil ihrer Doktorarbeit gewesen war. Ein Knochen, der zu Lebzeiten einen hohen Anteil an innerem Weichgewebe hatte, wird dabei in einem sterilen Wasserbad so weit erwärmt, dass die möglicherweise noch vorhandenen Fettanteile sich aus dem Knochen lösen und ins Wasser übergehen. In einem zweiten Schritt wird die Flüssigkeit einer Destillation unterzogen und das gewonnene Konzentrat mit einem Refraktometer betrachtet. Dadurch lässt sich die Veränderung des Brechungsindex feststellen und ein Rückschluss auf den Fettgehalt des Knochens gewinnen. Sie wählte einen der Oberschenkelknochen aus, legte ihn in die dafür vorhandene Apparatur im Labor, füllte den Behälter mit destilliertem Wasser und startete den Prozess.

Zur Bestimmung der Körpergröße vermaß Sophia einen Oberschenkelknochen und ein Schienbein und berechnete anhand von Regressionsformeln eine Körperlänge von 182 cm (plus/minus vier Zentimeter).

Da sie nun mit ihrer Obduktion fertig war, betrachtete sie die gefundenen Gegenstände etwas genauer. Sie war keine Expertin für Artefakte, aber ihr erschien der Zustand der Objekte als auffällig gut erhalten. Die Klinge war aus Stahl, wies aber nur minimale Korrosionserscheinungen auf. Sie würde einen Experten auf dem Fachgebiet hinzuziehen müssen. Gedanklich nahm sie diesen Punkt mit in die Agenda für die heutige Fallbesprechung auf.

Paul und Verena erschienen, begrüßten sie freundlich und erklärten, dass sie bis nach Mitternacht gearbeitet hatten, Verena erklärte mit strahlendem Antlitz:

„Wir waren so gut im Flow, da hat mich der Ehrgeiz gepackt und ich wollte unbedingt das Skelett arrangieren. – Ich hoffe, ich hab alles richtig gemacht.“

Sophia nickte lächelnd. „Auf dem ersten Blick sah alles gut aus. Kompliment! – Habt ihr noch weitere Gegenstände gefunden?“

„Nein, gar nichts“ erwiderte Paul kopfschüttelnd. „Selbst bei höchster Empfindlichkeit des Metallsuchgerätes gab es keinen Ausschlag.“

„Ok. Vielen Dank für euren Einsatz. Habt ihr überhaupt noch Zeit gehabt, etwas zu essen?“

„Ja, ja, sicher. Wir haben dann noch zusammen bei Meiers am Bahnhof eine Pizza gegessen.“

Verena blickte Paul dabei von der Seite an, was Sophia vermuten ließ, dass danach der Abend für die beiden noch nicht zu Ende gewesen war.

Sophia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Eins noch! Könntet Ihr nochmal zum Fundort fahren und nach den Fingerknochen suchen? Vielleicht sind sie im Aushub. Und stellt vorher bitte einen Gipsabdruck vom Gebiss her, ja? - Ach ja, ich habe die Fettdestillation gestartet. Wenn sie fertig ist, bestimmt den Fettgehalt und schickt mir das Ergebnis per Mail, ich müsste dann im Präsidium sein.“

Sophia ließ sie alleine. Bevor sie zum Polizeipräsidium fuhr, hatte sie noch einiges in ihrem Büro zu erledigen.

Sie startete ihren PC und widmete sich zunächst ihrem Kalender. Neben der Einladung zur Fallbesprechung sah sie, dass sie ab morgen bis zum Wochenende ein zweitägiges Seminar in Münster gebucht hatte. Das hatte sie gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Das Thema interessierte sie, hieß aber, dass sie noch einiges mehr zu erledigen hatte. In dem aktuellen Fall konnte sie ja schon mal ein vorläufiges Gutachten abgeben, dann hatte sie danach um so mehr Ruhe, um die endgültige Version zu erstellen. Außerdem stand für den heutigen Abend ‚Kai, Abendessen‘ in ihrem Kalender.

Ihr Telefon klingelte und sie hob ab. Da ihr die Rufnummer im Display nicht bekannt vorkam, meldete sie sich mit:

„Rechtsmedizin Hagen, Dr. Jäger.“

„Guten Tag Frau Jäger, Uwe Volkerts hier. Sie erinnern sich sicher. Wir waren gestern auf der Pressekonferenz.“

Intuitiv antwortete Sophia nicht. Eine Bestätigung käme bereits einer Annäherung gleich. Sie bevorzugte aber die Distanz.

Er fuhr fort: „Ich wollte mal fragen, wie wir das jetzt praktisch organisieren mit der Überführung des Skeletts.“

„Na, Sie haben es aber eilig. Wir wissen ja noch gar nicht, von wann das Skelett ist!“

„Nicht?“, entgegnete Volkerts erstaunt.

Das schon wieder! Hätte ich doch bloß den Mund gehalten! Sie merkte, wie ihre Halsschlagader anfing zu pochen. Was immer geschah, wenn Wut in ihr aufstieg. Aber ohne mich! Ich werde mich nicht in eine Ecke stellen lassen.

„Ja, was denken Sie denn?“, platzte es aus ihr heraus. „Dass wir das Skelett einfach fragen, und schwuppdiwupp sagt es: Ich bin seit x Jahren in der Erde.“

„Nein, aber gestern haben Sie doch gesagt ...“

„Nichts habe ich gesagt!“, donnerte Sophia zurück.

Volkerts war wenig beeindruckt und fragte: „Ja, lesen Sie denn keine Zeitung?“

„Nein, lese ich nicht. Und ich wüsste auch nicht, wie mir das helfen sollte!“ Natürlich las Sophia Zeitung, sofern es ihre Zeit zuließ, doch sie verspürte keine Lust, sich mit Herrn Volkerts auf eine Diskussion über ihre Arbeitsweise einzulassen.

Sophia war in Fahrt. Was bildete sich dieser Fatzke ein? „Wissen sie was? Sie können mich mal ...“, im letzten Moment drosselte sie sich und vollendete den Satz „... nächste Woche wieder anrufen!“, und legte auf.

Kurz vor ein Uhr betrat Sophia das Gebäude des Polizeipräsidiums. Drei Minuten später betrat sie den kleinen Konferenzraum direkt neben Walthers Büro. Erwin saß bereits dort und startete gerade das Datenbankprogramm zum Zugriff auf alle Ermittlungsakten, die seit einiger Zeit nur noch elektronisch geführt wurden. Es war die gleiche Anwendung, die auch die Rechtsmedizin zur Ablage ihrer Daten nutzte, und somit waren sämtliche Dokumente, Protokolle, Bildaufnahmen zentral für jeden, der entsprechende Zugriffsrechte besaß, verfügbar.

Sie setzte sich an den ovalen Tisch, so dass sie gut, ohne sich verrenken zu müssen, den großen Monitor an der Wand und Erwin sehen konnte, während der Kriminalkommissar ihr eine Bildzeitung rüberschob.

„Hey Sophia, jetzt bist du berühmt!“

Sophia starrte auf die Titelseite und es verschlug ihr zunächst die Sprache. Sie sah eine Aufnahme eines Skelettes in einer Erdgrube. Es war nicht das ihres Falls, aber in der rechten linken Ecke war eine Aufnahme von ihr, darüber stand in übergroßen fetten Lettern:

„Sensationsfund!!! 200 Jahre altes Skelett aus der französischen Besatzungszeit!“

In ihr brodelte es vor Ärger, doch in Anbetracht des Titels der Zeitung beruhigte sie sich und meinte nur:

„Na und? Was in der Bildzeitung steht ...“

„... ist die Wahrheit!“, beendete Erwin den Satz, „… und gesagt hat das mal irgendein Chefredakteur von denen“, dabei zwinkerte er ihr mit einem Auge zu. „Vielleicht vereinfacht das die ganze Sache nur. Lass uns mal sehen, was wir haben.“

Mittlerweile hatte er den Fallordner geöffnet und auf dem Monitor sah man eine Vielzahl von Registern mit Beschriftungen wie Opfer, Motiv, Tatbeschreibung, Fundort. Er öffnete den Ordner Fundort, der bereits mit den Fotos, die Paul hochgeladen hatte, gut gefüllt war. Außerdem gab es ein Unterverzeichnis ‚Protokolle‘. Dieses öffnete er auch. „Schau, wir waren auch schon fleißig. Wir haben die Recksiepes und die nächsten Nachbarn befragt. Wir könnten sie ja alle durchgehen, aber das ist langweilig. Es gibt nicht den geringsten Verdacht auf ein Gewaltverbrechen in den letzten Jahren.“

„Wer sind denn die Recksiepes?“, unterbrach ihn Sophia.

„Brigitte und Dieter Recksiepe! Ihn hast du gestern ja kennenlernen dürfen. Sie sind die Eigentümer des Grundstücks, auf dem wir das Skelett gefunden haben.“, antwortete Erwin knapp.

„Ach, ja. Stimmt.“

Erwin fuhr fort: „Die Recksiepes haben keine Kinder. Sie und ihre Nachbarn dort oben wohnen schon seit Jahrzehnten da, und niemand kann sich an besondere Vorfälle erinnern. Es scheint, als sei dort noch nie eine Briefmarke verloren gegangen. Alles anständige Leute ... – Wie sieht es denn bei dir aus? Hast du schon konkrete Hinweise gefunden, Sophia?“

Sophia zählte die Fakten auf: „Männlich, Alter zum Zeitpunkt des Todes 35 bis 55 Jahre, Körperlänge ca. 182 cm, die Liegezeit lässt sich nicht ...“ Es machte ‚Pling‘. Sophia sah kurz auf ihr Handy und las: „Nichts, nicht die geringste Menge Fett nachweisbar, VG Paul“, dann fuhr sie fort „... genau bestimmen, liegt aber sicher über zehn Jahre. Das Skelett ist vollständig bis auf drei Finger der rechten Hand. Abtrennung und Verheilung zu Lebzeiten kann nicht ausgeschlossen werden. Ich konnte keine Spuren äußerlicher Gewalteinwirkung feststellen. Was fehlt, ist noch eine DNA-Analyse und die Datierung der Gegenstände.“

„Na also! Auch nichts! Lass uns die Akte schließen“, gab Erwin daraufhin von sich.

Sophia wägte kurz die Fakten ab, nickte und sagte dann aber: „Stimmt soweit ja alles, aber was wir bisher wissen, beweist nur, was wir ausschließen können, nicht, was wir noch nicht wissen. Und meiner Meinung nach gibt es einige seltsame Indizien. Öffne doch bitte mal den Ordner mit den Fotos vom Fundort.“

Erwin tat wie gewünscht, scrollte dann langsam durch die Bilder und fragte: „Welches möchtest du?“

„Da, dieses dort zum Beispiel!“ Sie zeigte auf die Gesamtansicht nach der partiellen Freilegung,

„Und?“, wollte Erwin von ihr wissen.

„Das Ganze wirkt so eigenartig auf mich. Einerseits ist es so ordentlich, als wäre es würdevoll bestattet worden. Aber andererseits ist es irgendwie unvollständig.“

Erwin konnte ihr offensichtlich nicht folgen, „Ja, und was schließt du daraus?“

„Der Fundort passt nicht zum Gesamtbild. Wir sind hier nicht auf einem Friedhof. Wenn jemand so würdevoll bestattet wird, dann doch nicht im Wald. Und wenn man schon ein Schwert als Grabbeilage dazu legt, lässt man dann den Gürtel weg?“

„In der Nähe des Waldes!“, wurde sie korrigiert.

„Ok, in der Nähe. Aber selbst wenn der Ort vielleicht nur ungewöhnlich ist, dann ist das Arrangement dennoch unvollständig. Ich habe zwar nicht in der Zeit gelebt, aber ich nehme an, dass eine würdevolle Bestattung eines Soldaten im vollen Ornat stattgefunden hat. Erwin, das passt alles nicht!“

Erwin schien das alles zu weit zu gehen.„Sophia, ich schätze dich und deine Kenntnisse, aber das sind alles Annahmen und Vermutungen. Was sollen wir denn damit anfangen?“

„Es geht auch um meine Reputation! Mit so wenigen Fakten einen Fall zu schließen, ist nur eine halbe Sache!“, erwiderte Sophia aufgebracht.

Schweigen. „Ok, schreib dein Gutachten und wir sammeln alles. Aber ich glaube damit werden der Oberbürgermeister und der Museumsdirektor sich nicht zufriedengeben. Die wollen ihren historischen Fund!“, dabei zeigte er auf die Zeitung.

Damit war die Unterredung beendet. Sophia fuhr zurück ins Büro und machte sich sofort ans Werk, um ihr vorläufiges Gutachten zu schreiben und es auf den Server zu laden.

Gegen sechs Uhr war sie damit fertig und zehn Minuten später zu Hause. Sehr gut! Sie hatte noch genügend Zeit, ihren Trolley für die nächsten Tage zu packen und ein kleines Abendessen vorzubereiten. Viel hatte sie nicht im Kühlschrank, aber für Pasta mit einer schmackhaften Soße, verfeinert mit frischen Kräutern aus dem Garten, reichte es. Sie deckte schon mal den Tisch und stellte das Wasser für die Nudeln an.

Es klingelte. Mit einem kurzen Blick auf die Uhr wusste Sophia, dass es Kai war, denn dieser liebte Pünktlichkeit. Eine Eigenschaft, die sie sehr an ihm schätzte. Sie öffnete die Tür und zeitgleich sagte sie lachend:

„Wie immer! Pünktlich auf die Minute.“

Der junge Mann vor der Tür trug Jeans, ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und darüber ein geöffnetes Jeanshemd. Er sah mit seinen 35 Jahren aus wie ein auf geheimnisvollerweise jung gebliebener Student.

„Ich kann nicht anders“, sagte Kai mit seiner weichen Stimme und charmantem Lächeln. Die großen dunklen Augen, die wilde Frisur seiner dunkelbraunen Haarpracht und der Dreitagebart verfehlten nicht ihre Wirkung. Sophia umarmte und küsste ihn.

Als sie von ihm abließ, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Schön, dass du da bist. Ich bin aber noch nicht mit dem Essen fertig.“

„Das macht nichts, dann machen wir es zusammen. Ich habe auch noch einen guten Tropfen mitgebracht“, flüsterte Kai zurück, und hob die rechte Hand.

Sophia drehte den Kopf kurz nach links und sah eine Flasche Rotwein in Kais sonnengebräunter Hand.

„Ah gibt’s was zu feiern?“, hauchte sie ihm ins Ohr.

Sophia selbst hätte einen Grund zum Feiern gekannt. Sie hatte vor einigen Tagen einen Schlüssel ihres Hauses nachmachen lassen, der – mit einer roten Schleife versehen, auf ihrem Schrank im Wohnzimmer lag und darauf wartete an den neuen Besitzer übergeben zu werden. Doch vielleicht gab es ja noch einen weiteren Grund.

„Ja, kann man so sagen“, antwortete Kai ihr mit einem verschmitzten Lächeln. „Aber lass uns doch erst mal reingehen, oder?“

Sophia lachte und stimmte ihm zu: „Ja, sicher. Und dann lass uns erst mal das Essen fertig kochen. Das Wasser für die Pasta müsste schon heiß sein.“

Sie gingen in die Küche und sofort, ohne dass es einer weiteren Abstimmung bedurfte, fingen sie an, das Mahl zu bereiten.

Kai nahm die Olivenölflasche aus dem Regal, und fragte sicherheitshalber: „Es ist doch ok, wenn ich einen Schuss davon ins Wasser tue, oder? Dann kleben die Spaghetti nicht so aneinander.“

„Unbedingt!“, erwiderte Sophia, während sie damit begann die Kräuter klein zu hacken. Diese gemeinsame Tätigkeit erfüllte Sophia mit Freude, gerade an Tagen wie diesen.

Sie scherzten und lachten, und nach kurzer Zeit stand das Essen auf dem Tisch. Es schmeckte beiden köstlich und Kai ging es offensichtlich sehr gut. Er war bester Laune. Sophia gefiel das und irgendwann fragte sie: „Du bist mir ja noch eine Antwort schuldig. Was gibt es denn zu feiern?“

„Ja stell dir vor, wegen dieses Skeletts wird mein Boss einiges an Mitteln bekommen. Er hat mir heute gesagt, dass dann mein Vertrag verlängert wird. Ist das nicht klasse?“

Sophia stutzte kurz und sagte: „Verteilt das Fell des Bären nicht, bevor ihr es habt!“

Kai wollte sich in seiner Freude nicht beeinträchtigen lassen und meinte lapidar: „Na komm, das ist ja wohl nur noch eine Formsache, oder?“

In seiner Freude entging es ihm, dass die Stimmung bedrohlich kippte. Sophia hatte in den letzten beiden Tagen zu viele Konflikte aufgrund dieses Falls austragen müssen und war daher etwas dünnhäutig:

„Keineswegs! - Denn ob das so ist, wie die meisten es darstellen, ist noch nicht bewiesen! Was wenn sich herausstellt, dass der Tote Opfer eines Mordes war? Stellt ihr ihn dann auch aus?“

Kai fühlte sich seiner Chance auf eine unbefristete Stelle beraubt. Doch statt seine Angst zu benennen, was sicher ehrlicher und in der Kommunikation förderlicher gewesen wäre, sagte er trotzig: „Du stellst Dich an! Tot ist tot, und Skelett ist Skelett! Ist doch prima, wenn wir hier mal was Tolles zeigen können. Und geschichtlich können wir es auch gut darstellen!“

Es war einer der Momente, in denen Sophia deutlich das Gefühl hatte, dass jemand in ihren Gewässern, im Bereich der Rechtsmedizin, fischte. Sie fühlte sich nicht wahrgenommen in ihrer Arbeit und sie kochte innerlich. Es reichte!

„Es ist besser, du gehst jetzt!“

Er schaute sie einen Moment verdutzt an und wollte gerade noch was sagen, als Sophia bekräftigte:

„Sofort!“

Kai stand auf und verließ wortlos die Wohnung.

Sophia hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Dann war es still und sie war mit ihren Gedanken alleine. Hatte sie überreagiert? Womöglich. Gut möglich, dass das Skelett ein historischer Fund war, und es in einer Glasvitrine seine letzte Ruhe finden würde. Aber sie hatte ein immenses Problem damit, dass ständig andere meinten, ihre Arbeit erledigen zu müssen, besser noch, ohne jede Kompetenz die Arroganz besaßen, schon zu wissen glaubten, zu welchem Ergebnis ihre Untersuchungen führen würden.

Sophia sah den Schlüssel mit der roten Schleife, den sie Kai heute Abend eigentlich hatte überreichen wollen. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte es getan.

Zum Glück würde das Seminar sie auf andere Gedanken bringen. Etwas Abstand tat ihr sicher gut.

Das Grab des Franzosen

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