Читать книгу Der Mann, der einmal einen Wal gewann - Ole Engelhardt - Страница 7
E一
ОглавлениеEine Firmenweihnachtsfeier ist immer wieder wie ein erstes Date. Die Firma zieht ihr bestes Zwirn an, nimmt sich vor auch bei noch so viel Sodbrennen nicht aufzustoßen und die Sache mit links und rechts beim Essen genau zu beachten. Man möchte beeindrucken. Die neuen Angestellten sollen sehen, dass sie alles richtig gemacht haben, die hohen ppas sollen zeigen, dass ihr Pferd immer noch am schnellsten reitet und die mittendrin, die dürfen auch mit mampfen. Ich bin allergisch gegen Pferde, aber trotzdem konnte ich bei allem in mir schlummerndem natürlichen Pessimismus wenig Schlechtes gegen diese Feier finden. Ein hochtrabendes Essen in Hafennähe, das vielleicht ein wenig zu posh, aber immer noch genießbar war. Gefolgt von einem Theaterstück auf der Reeperbahn. Die „Heiße Ecke“ sollte uns zeigen, wie das Leben auf St. Pauli aussieht und ließ dabei gnadenlos keines der klischeehaften Ps aus, Puffs, Pommes und Pinneberg. Ich saß neben dem Chef und versuchte nach jedem Witz so synchron mit ihm wie möglich meine Schenkel zu penetrieren. Nach 10 Minuten taten mir sowohl meine Schenkel als auch meine Backen derart weh, dass ich mich kurz „entschuldigte“ Die Tür mit dem nackten Zeichenmännchen klar vor Augen kehrte ich kurz vorher doch noch nach rechts, um mir ein weiteres Bier auf Firmenkosten zu gönnen. Nach zwei weiteren fühlte ich mich viel glücklicher als gerade eben noch, als ich nach jedem Glücksgefühl den externen Druck verspürte meine Schenkel drangsalieren zu müssen. Sowieso ein einziger Zufall, dass ausgerechnet ich neben dem Chef saß. Auf der anderen Seite saß natürlich der Kanzler, keine Frage, König und Prinzlein oder so. Aber, da mache ich mir nichts vor, ich bin der Miesepeter, warum saß ich neben ihm? Keine Ahnung. Ich entschied mich hier zu bleiben und meinen leeren Sitzplatz später mit akuten Bauchschmerzen oder nicht stoppen wollenden Hustenanfällen zu erklären.
Nach dem Stück ging es nicht nur sinnbildlich sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes noch weiter nach oben. „Ausklingen“ war angesagt, in der integrierten Rooftop – bar unseres Etablissements. Für mich änderte sich nicht viel. Ich trank weiter Bier, nur dass nun auf einmal viel mehr Menschen um mich herum standen, die dasselbe taten und keine Nebenbeschäftigung wie dämliches Theater oder ähnliches zur Verfügung stand. Herr Sauselhaar hielt standesgemäß eine kurze Ansprache über das vergangene Jahr, deren rhetorisches Charakteristikum es zu sein schien, an so vielen Stellen wie möglich wie auch immer geartetes Vokabular zu verwenden zur Anspielungen darauf, dass nun ein „echter Kanzler“ mit von der Partie, „oder soll ich sagen PartEI“ war. „ Denken Sie immer daran, wie viele Wettbewerber sich Ihnen auch in den Weg stellen, wir haben nun die Kanzlermehrheit“. Sein jeder Pointe folgendes anschließendes Augenzwinkern wusste der Kanzler lässig an die Bar gelehnt mit einem gehobenen Glas zu kontern. Wir, der Pöbel, ahmten die gleiche Geste in Richtung Kanzler nach. Nachdem ich mit einem Blick nach oben feststellte, dass sein durchaus sportliches Pointentempo durch mein Trinktempo noch bei weitem übertroffen wurde, schaltete ich auch auf Zuzwinkern um und ließ meine ständig wechselnden Getränke lieber beschämt in kognito neben mir stehen. Dem Chef folgte, wie sollte es in diesem Jahr anders sein, ein Imitationskünstler, der natürlich keinen anderen als „unseren lieben Kanzler“ imitierte. Seine Verkleidung war dabei ein Nadelstreifenanzug, weißes Hemd und rote Krawatte, er unterschied sich damit keinen Deut von uns, bildete sich jedoch trotzdem ein, einen Geniestreich gelandet zu haben. Die ganze Zeit redete er einem komischen Akzent, der dem Kanzler nicht im Geringsten ähnelte und phasenweise schien es als wäre sein einziges Parodietool seine Sätze stets mit „meine lieben Mitbürger und Mitbürgerinnen“ beginnen zu lassen. Sein größter Brüller war es unseren chinesisch Kollegen Li Shuming als „Schlitz…äääh äähh auge“ zu bezeichnen, während des anhaltenden Lachflashs der Meute, schoss er mit einer imaginären Pistole auf den Kanzler und schien zu flüstern, „komm schon, ist doch lange vorbei“. Doch der Kanzler lachte nicht wirklich. Also er lachte schon, aber man merkte, dass das nur so ein Lachen ist, dass man von sich gibt, wenn man sich grad als Oliver Geissen oder so Ausschnitte aus Switch Reloaded ansieht. Eigentlich findet man es scheiße, doch Selbsthumor ist nun mal angesagter als Selbstachtung. Ich frage mich sowieso immer, was das Witzige an der Wiedergabe etwas Bestehenden ist. Warum ist es witzig genauso zu reden wie eine andere Person und das doch noch ein wenig überzustrapazieren. Ist eine Kopie per se witzig? Wäre es demnach auch witzig, wenn ich dem am Boden liegenden Verletzten auch noch eine mitgebe, genauso wie es der wegrennende Schläger doch auch gemacht hat, nur eben noch doller wegen der Überspitzung. Erika, die ich das nach dem Auftritt an der Bar fragte, schüttelte mit dem Kopf und murmelte beim Weggehen so etwas wie „der nun wieder“.
Irgendwann saß ich in einem dieser übertrieben gemütlichen Couches und um mich herum waren mehr Leute, als ich jemals in unserer Firma gesehen zu haben geglaubt habe. Neben mir lümmelte sich der Kanzler. Ich beobachtete ihn genau, so genau, dass ich einen leichten Haaransatz in seinem Ohr bemerkte und kurz angewidert weggucken musste. Doch dann wieder hin. Wie fertig er aussah, wie unglücklich er aussah. Alle redeten, alles war laut und das schlimmste war, alle redeten mit ihm. Oder eher auf ihn ein. Verbale Schläge in die Fresse, kein Wunder, dass er so fertig aussieht. Nicht, dass sie Gemeinheiten äußerten, meine Kollegen, allein das schiere Volumen dieser Geräusche raffte das anfängliche Lächeln des Kanzlers schnell hinfort. Es war ein einziger Krach, ein Summen von Bienen, deren Sprache ich nicht sprach. Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Ich sah genau, wie er einfach nur seine Ruhe haben wollte und wie ihm diese keiner gönnte. Wollen wir tauschen Herr Kanzler, wollen Sie ihre Ruhe haben? Keine Ahnung, warum ich auf einmal nett zu ihm sein wollte, wahrscheinlich war er doch politisch so fein geschult, dass er Menschen wie mich in einer einzigen Sekunde für sich einnehmen konnte. Also, Plätze tauschen. Es war wirklich tierisch laut, noch viel lauter als auf meinem Platz ein paar Zentimeter weiter links. Ein Krach voller Stimmen, von denen ich lediglich das einzige, immer wiederkehrende Schlagwort „Kanzler“ erkennen konnte und mir daraus erschloss, dass es wie immer nur darum und nicht um mich ging. Dicke Frauen, dünne Männer, große Brillen auf kleinen Gesichtern, Karohemden, denen die Ärmel zu fehlen schienen, Alkoholfahnen und aufreizend getragene Abendkleider mit weniger dahinter, blubberten vor mir ihre Visionen von der Demokratie Deutschlands. Sie wollten mir ihre Vorstellung vom Kanzlerdasein skizzieren. Und alle waren sich sicher, dass sie ins Schwarze getroffen hätten.
Eine Melange aus Wörtern, die alle in einer Stimme, der Stimme des Volkes, des Souverän verschwammen, prasselten auf mich ein und jeder Beitrag traf mich mehr als ein Vodka – O ohne O.
- Schiedsrichter, das ist für mich die Allegorie des Kanzlers.
- Eigentlich ist der Kanzler doch sowas wie ein unbeliebter Promi, und das ist doch eigentlich das schlimmste, was man sein kann oder nicht?
- Ich habe im Kanzler immer meinen alten Schulleiter gesehen, noch so mit strengen Hosenträgern und so.
- Mit Trillerpfeife, deren schriller Klang uns sagen soll, wann wir zu weit gegangen sind. Wann wir die Artikel überdehnt haben und uns die gelbe Karte erwartet.
- Und der nur ungern auf die lange verbotene Prügelstrafe verzichtet. Der es aber anderen, seinen Verbündeten mit einem augezwinkernden Nachsehen vergibt, wenn sie doch nicht widerstehen können den Taliban, also ich meine den Schülern, ihre Gräueltaten mit Linealen aus dem Hintern zu pfeffern.
- So ein bisschen wie Ralf Schumacher. Eigentlich hast du ja gar nicht so viel zu sagen, du bist ja eigentlich nur da und jeder kennt dich. Und wenn es falsch läuft, bist du scheiße und wenn es gut läufst, dann bist du halt Ralf Schumacher.
-- Und wenn du richtig pfeifst, dann mag dich trotzdem keiner. Dann wirst du nur noch viel öfter eingesetzt und darfst zur UNO- WM und zur EU- EM und dann wird noch mehr auf dich geachtet und im Zweifel noch mehr geschimpft und getadelt.
Und auf einmal saß dann mein Vater neben mir, der unmenschlich viel schwitzte, unter diesem Dauergerauche, was in Angie’s Bar nun einmal Gang und Gebe war. Ich hatte ihn einmal gesehen, den Kanzlervater, in irgendeiner spätausgestrahlten Doku im Dritten. Er war nicht da, als der Kanzler Kanzler wurde. „Der Kanzler ohne Vater“ oder so hieß die Doku dann folgerichtig auch. Aber das stimmt ja gar nicht. Hier war er doch, der Vater. Der mich dann anstupste und ohne mir in die Augen zu schauen sagte, dass es ja schon gar nicht soooo schlecht sei, Kanzler zu sein. Aber US – Präsident, oder KP- Chef, das, das muss man sagen mein Junge, ist dann doch schon eine andere Hausnummer.“
Mir wurde es zu bunt, zu viel Rauch, zu viele Allegorien, zu viel Schweiß in der Halbglatze meines Vaters, zu viel freier Alkohol in meinen Venen. Ich sprang auf, blickte irre um mich, wusste kurz nicht, ob Ralf nun der Große oder der Kleine ist, stellte dann fest, dass diese Frage nicht zu den Schumachers, sondern zu den Klitschkos gehörte und lief dann raus, nachdem ich noch laut schrie: „Man Vater ey, im Dritten bist du doch schon tot eigentlich!“
Ich musste raus, raus aus dieser Q&A – Session, zu deren zweiten Buchstaben ich heute nicht mehr imstande wäre. Frische Luft und ein Bier waren wie immer die für geeignet befundenen Lösungen für ein verknotetes Hirn. Das magere Etetpetete – Essen hatte es wieder einmal verfehlt mir eine geeignete Grundlage zu verschaffen und so merkte ich langsam, wie sich ein gewisser Grad an Trunkenheit den Weg bahnte. Draussen auf der Terasse war es dunkel, es schien leer zu sein. Ich wollte nicht leer sein in dem Moment, ich brauchte Leute. Ich ging auf die Straße, lief den Kiez hoch und runter. Aß fettiges Essen und las T-Shirts Slogan wie „Live is too short“ vor dem Hintergrund einer karikaturhaften E- Gitarre. Ich fragte mich, ob das ein Schreibfehler war oder ob dieser hässliche Typ mit halbverhunztem Vokuhila das ernst meinte. Dass seine Message irgendwie sowas war, wie „Livekonzerte sind zu kurz, man muss sie filmen, um immer und immer und immer wieder etwas von ihnen zu haben.“ Es war schon ziemlich spät. Die ersten Imbisse packten ihre Brote ein. Ich liebe diese Zeit. Ich stelle mich dann immer vor den Imbiss und warte darauf, bis diese gierigen verwahrlosten Mitvierziger – Alkoholleichen angeschlürft kommen und mit gierigem Fett in den Augen nur noch diesen obergeilen Fettburger im Gehirn haben. Und bevor sie dann ihren Mund öffnen, aus dem noch die Pommes rot-weiß Reste von nebenan kleben, kriegen sie dann völlig emotionslos dieses immigrierte türkisch-deutsche „leider schon gschlossen heut“ an den Kopf gehauen. Und dann entlädt sich ihr ganzer Frust, auf die Maloche, auf den fehlenden Fick heute Abend, auf die dicker werdende Frau und das bücherlesende Kind, all das, was eben noch in eine Flasche Bier passte, entlädt sich nun in diesem kleinen Türken, der doch nur seiner Pflicht nachkommt. Nach fünf Minuten purem Rumgeschreie gehen die beiden Herren wieder. Ich schaue zu dem netten Imbissbetreiber und sage, eigentlich gut gemeint, „in Ankara hätst das nicht gegeben, was?“ „Scheiß Nazi“ beschimpfte er mich und schlug die Tür zu. Ich trank aus und ging weiter. Wieder zurück zu Angie. Ich konnte mir selbst in meiner mir momentan ertrunkenen Phantasiewelt nicht vorstellen, dass die Party noch tanzte, doch ich wusste nicht wohin sonst mit mir. Ich überlegte, warum es mir so viel Spaß machte solche Situationen zu beobachten? Bin ich wirklich ein schlechter Mensch? Haben die Kollegen und eigentlich alle, mit denen ich zu tun habe, Recht, die in mir nichts anderes als ein miesgelauntes Arschloch sehen? In a way möchte ich das ja auch. Ich möchte nicht gutgelaunt sein, weil es dafür keinen Grund gibt. Und wenn sonst alle so tun, als gäbe es ihn doch, dann ist das für mich kein Anlass dem zu folgen. Kurz vor Angie lief mir ein Mädchen entgegen, ich kannte sie, ja, ich war mir sicher, dass es Sandra war. Die Neue. Für mich die Alte aus Schulzeiten. Sie war mir sympathisch. Wir hatten nie ein Wort gewechselt, doch das machte nichts. Ich würde ihr gerne erzählen von meinen Theorien und ihr erklären, warum ich vielleicht der netteste von allen bin, auch wenn ich nicht der dicken Maria zum Geburtstag gratuliert habe oder nie frage, ob noch jemand Kaffee möchte, wenn ich mir eine neue Tasse hole. Weil das alles nicht zählt, weil das alles im Gesamtbild solche Nuancen sind wie ein Farbklecks in hellrot oder in inkrementell hellerem rot. Sie würde es verstehen. Ich schaute sie an, sie schaute mich an. Gleich würden wir reden, doch dann lief sie einfach an mir vorbei. Sie hatte mich gesehen, da war ich mir sicher, sie hatte mich erkannt, da war ich mir sicher. Ich wusste in diesem Moment, auch für sie bin ich nichts weiter als der miesgelaunte, frustrierte Angestellte, der nicht über mehr Intellekt verfügt als seinen Welthass in ausbleibende Gutemorgenformeln zu stecken. Das machte mich traurig, ich blieb kurz stehen und sah ihr nach. Hier und da stolperte sie gegen Passanten und bei jedem blieb sie stehen und entschuldigte sich. In jedem sah sie mehr als in mir. Es ist nicht so, dass es mich wahnsinnig stört in der Firma wenig Beachtung zu finden. Es ist nur die Art und Weise, die Beweggründe, aus denen sie mich meiden. Auf eine sehr seltsame Weise, habe ich das Gefühl, werde ich sogar geduldet, und das passt mir gar nicht. Ich werde geduldet als der Quotenpessimist, den es, weil ja auch in Stromberg und sonstigen Serien, auch im wahren Leben geben muss. Ich bin niedlich, ich bin der „Depri“ und man schmunzelt über meine nachdenklichen Falten, rollt lächelnd die Augen, wenn ich mir das letzte Stück Kuchen nehme, obwohl ich doch schon drei hatte. Man findet mich irgendwie niedlich. Man missachtet mich, weil das meine Rolle ist. Dabei soll man mich missachten, weil ich anders bin und wenigstens versuche in einer höheren Ebene zu leben. In einer Ebene, in die wir doch hoffentlich alle irgendwann hineinstoßen werden. Eine Ebene, die sich mit dem Heute natürlich so gar nicht versteht und, aber ganz natürlich, aber eben auch nur deshalb, können sie mich ja auch gar nicht mögen. Ich merkte wie ich mich schon wieder hineinsteigerte in all meine Gedanken. Ich setzte mich vor Angies Bar, auf den Spielbudenplatz die Beleuchtung der Bar war aus. Die Party war aus. Die Nacht war zuende, nun hieß es wieder ein Jahr arbeiten, bevor man wieder den alkoholisierten Atem Herrn Sauselhaars riecht und während man ihn am Ende des Abends so bei 1,9 Promille zusammengerollt auf dem hintersten Stuhl des Saales kauern sieht, denken könnte, dass er ja vielleicht doch ganz nett sein kann. Der Spielbudenplatz schien leer.
Nicht ganz. Ganz hinten in der äußersten Ecke stand eine Figur, die sich nach ein paar Schritten meinerseits in dessen Richtung tatsächlich als der Kanzler herausstellte. Und da sagt noch einer, das Glück des Betrunkenen existiere nicht. Es war zu spät, nun konnte ich nicht mehr umdrehen, und meinen Abgang dabei vollkommen wertneutral erscheinen lassen. Eigentlich sollte man zwielichtigen Männern in dunklen Ecken aus dem Weg gehen, doch mein Weg war vorgezeichnet. Und vielleicht war es auch nicht schlecht, dass man mal so unter sich war. Oft erfährt man „unter sich“ mehr als unter allen. Nach mehreren kurzen Hallos und Kopfnicken und Zuprosten und meinen infirmitiven Annäherungsschritten an ihn kamen wir langsam ins Gespräch. Ich merkte, wie betrunken auch der Kanzler war. Das fand ich beruhigend. Relativ schnell kam dieser dann auch mit seinem alkoholischen Charme schnell zur Sache. „Sag mal, warum bist du eigentlich immer so scheiße? Du weißt sicher, was du für fiese Namen trägst bei den Kollegen, nicht wahr, Ekel, fieses Kapitalistenschwein und so.“
Ja, da war sie, meine Chance endlich einmal alles zu erzählen. Ich legte los und hörte mich reden. Ja, das stimmt. Ich bin ein Kapitalist, genau wie wir alle. Wir alle wollen doch immer mehr, no matter ob es Geld ist, oder Liebe oder Sport oder Musik oder Essen. Es wäre doch eigentlich möglich mit der Musik, die wir haben in peace zu leben, nicht wahr? Wir hätten gut vor hunderten von Jahren aufhören können Krach zu machen und könnten nun immer noch mit glücklicher Miene zu Beethoven und Händel abwippen. Doch wir wollen immer mehr. Wir brauchen immer noch einen Song und noch einen Song. Weil wir einfach nicht fähig sind zu genießen. Weil wir uns langweilen. Und auch wenn wir genug Kohle haben oder Brot und Marmelade, dann schauen wir uns irgendwann auf unsere fetten Bäuche und gähnen beim morgendlichen Bad durch den Groschentresor. Und dieses Gähnen ist es, was uns ausmacht. Es lässt uns neue Lieder schreiben und neue Menschen ausbeuten. Manches ist gut und manches ist schrecklich. Der Mensch ist schlecht, aber wenigstens will er geile Mukke dabei hören. Der Kanzler nickte zwar, aber vielleicht war es auch eher ein ganzkörperliches Getaumel. Keine Ahnung, ich stand ihm aber in nichts nach. Wir setzen uns hin, der Boden war irgendwie nass, keine Ahnung, ob das was ekliges oder was wolkiges war. Ich hoffe letzteres. Ich redete immer weiter, doch meine Worte kamen mir immer weiter weg vor. So lange wollte ich reden und nun da ich es konnte, liefen mir die Worte weg, sobald sie meinen Mund verließen und ich konnte kaum mehr wahrnehmen, was ich da eigentlich faselte. Ich hoffe, es war die richtige Platte. Der Kanzler nickte immer noch so ganzkörperhaft, es schien ihm zu gefallen. Vielleicht gefiel ihm aber auch einfach das Gesamtbild, der richtige hellrote Boden des Spielbudenplatzes. Das richtige Leben, das er solange nicht kannte. Das betrunkene Zusammensitzen an dreckigen Plätzen, das Versagen des Wahrnehmungszentrums, das morgendliche Aufwachen mit Schädel, die Frage, ob man sich nur an nichts mehr erinnert oder ob da gestern wirklich nichts passiert ist, was einem etwas bedeutet hat.
Am nächsten Morgen tat mir mein Schädel weh. Ich hoffte dem Kanzler erging es genauso. Ich hoffte, er hatte mir zugehört. Egal, was ich ihm erzählt haben sollte.