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Freitag, 4. November 2011

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Ich bin dann doch ans Telefon gegangen, und das hatte eine Menge Arbeit nach sich gezogen. Was macht ein Immobilienmakler den ganzen Tag? Die meiste Zeit unterhält er sich mit Menschen, die dann doch keine Wohnung mieten oder ein Haus kaufen, oder die zu einem anderen Makler gehen, der eben ein besseres Objekt im Angebot hat. Das Dumme ist nur, dass ich nie weiß, ob ich jetzt gerade einen Kunden vor mir habe, mit dem ich zum Abschluss komme, oder nicht. Gustav behauptet, dass er es wüsste, es im Verlaufe eines Gesprächs herausfinden könne. Was den Beruf des Maklers angeht, ist mein Schwiegervater mir in vielen Dingen überlegen. Es hat lange gedauert, bis ich ihm abgewöhnt hatte, immer das letzte Wort zu haben, besonders dann, wenn ich meinte, an einem interessanten Objekt dran zu sein. Mein Beruf hat also zwei Seiten. Ein Makler sucht Käufer und Mieter. Die kann er aber nur bekommen, wenn er vorher die richtigen Objekte unter Vertrag genommen hat. Unterm Strich ist es eine ständige Suche. Eine Suche nach Käufern und Mietern, die in der Regel zu einem kommen, und die Suche nach geeigneten Objekten, die im Markt erobert werden wollen.

Noch am Donnerstagabend musste ich durch halb Hamburg fahren. Gustav wartete schon auf mich. Ein renovierter Altbau, exklusive Wohnungen. Der Besitzer wollte alles im Gesamtpaket an einen Makler geben und es sollte schnell gehen, denn die Kosten mussten wieder hereinkommen. Es ging um acht Wohnungen. Gustav hatte bereits fünf mögliche Interessenten, alles Leute aus unserem Kundenstamm. Aber wir mussten erst einmal den Zuschlag bekommen. Der Abend ging dabei drauf, ich war erst um elf zu Hause. Hier hatte ich Bruckner nicht die Wahrheit über mein neues Leben gesagt. Die Nacharbeiten des Deals dauerten dann sogar noch den gesamten Freitagvormittag, mit dem Erfolg, dass um 13:00 Uhr bereits sieben der acht Wohnungen vermietet waren. Ich möchte hier lieber nicht erzählen, was wir an der Sache verdient haben. Hierüber zu schweigen ist nämlich ein Grundprinzip unseres Berufes.

Ich arbeitete bis kurz vor zwei Uhr im Büro, als mir wieder Bruckners Besuch vom Vortag einfiel. Die Unterlagen zu dem Fall befanden sich noch in der Studentenbude. Mir war gestern schon ein Name in den Sinn gekommen, Dr. Herz, ein typisch russischer Name. Dr. Ivan Herz war im Februar aus Berlin nach Hamburg gezogen. Er hatte eine Hals-Nasen-Ohren-Praxis übernommen und seine Familie im Mai nachkommen lassen. Ich hatte seinerzeit ein sehr schönes Objekt im Grünen für ihn ausfindig gemacht und konnte es ihm sogar recht günstig vermitteln. An Dr. Herz musste ich jetzt wieder denken. Ich glaube, er stammte ursprünglich aus Kasachstan, ebenfalls ein ehemaliger Mitgliedsstaat der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Seine Telefonnummer hatte ich sogar noch im Kopf, die Nummer der Praxis. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass Dr. Herz auch am Freitagnachmittag Patienten empfing und sofort einwilligte, mich mit meinem Anliegen vorzulassen. Ich brauchte fünfzehn Minuten, um die Unterlagen aus der Studentenbude zu holen und weitere fünfzehn, um nach Stellingen zu kommen. Die Arzthelferin befand sich bereits im Mantel. Ohne weitere Erklärungen wurde ich von ihr sofort durchgewunken. Dr. Herz räumte ebenfalls schon fürs Wochenende auf, als ich das Sprechzimmer betrat.

»Setzen Sie sich!«, begrüßte er mich. Er reichte mir so überschwänglich die Hand, dass ich im ersten Moment glaubte, er würde mich auch noch umarmen. Er tat es nicht, setzte sich stattdessen mir gegenüber auf den zweiten Patientenstuhl.

»Danke, dass Sie gleich Zeit hatten. Wie gesagt, will ich Sie nicht als Patienten konsultieren. Es gibt einen anderen Grund, weswegen ich Ihre Meinung hören möchte. Meine Vergangenheit hat mich eingeholt.«

Ich glaube, ich hatte Dr. Herz irgendwann einmal von meinem früheren Job in Amerika erzählt. Jetzt berichtete ich ihm von Bruckners Besuch, davon, dass mich die Hamburger Polizei um Beratung in einem ungeklärten Todesfall gebeten hatte. Ich verwendete bewusst nicht den Begriff Mord, obwohl dies Dr. Herz ganz sicher auch nicht überrascht hätte. Ich legte ihm schließlich die Fotografien vor.

Ich deutete auf die Oberarme des Toten. »Was sind das hier für Narben?«

Dr. Herz rückte seine Brille zurecht, blickte konzentriert auf die Bildausschnitte und sah mich dann an. »Konnte Ihnen das der Pathologe nicht sagen?«

»Doch, aber ich will es gerne von Ihnen hören, zur Bestätigung.«

Dr. Herz lächelte mich an. »Sie waren tatsächlich einmal Polizist, wie ich merke.« Er beugte sich noch einmal über die Fotografien. »Die stammen von einer Impfung, beide Narben. Sind gut ausgeheilt, das heißt, der Patient wurde im Kindesalter geimpft.« Er schaute mich wieder an. »Das ist nichts Besonderes, kein besonderes Merkmal, es gibt Millionen von Menschen, die solche Narben an den Oberarmen tragen.«

»Auch hier in Deutschland?«

Dr. Herz zögerte. »Natürlich, obwohl eine Häufung eher in Ostdeutschland bei den Vierzig- bis Fünfzigjährigen auftritt.«

»Ostdeutschland?«, wiederholte ich.

Daran hatte ich gestern gar nicht gedacht, als ich Bruckner meine Theorie mit dem ehemaligen Sowjetbürger angeboten hatte. Dr. Herz konzentrierte sich wieder auf die Fotografien. Er nahm sie in die Hand, erhob sich von seinem Stuhl und ging um seinen Schreibtisch herum. Er setzte sich in seinen Ledersessel, klappte den Deckel seines Notebooks auf und beugte sich über die Tastatur. Ich hatte den Rechner gar nicht bemerkt, der sich mattschwarz in der Oberfläche des Mahagonischreibtisches verlor.

»Ich will da mal was googeln«, sagte er, während er mit den Zeigefingern kräftig in die Tasten hackte.

Ich wartete, Schweigen, etwa zwei, drei Minuten. Ich sah mich in dem Sprechzimmer um. Die meisten Ärzte, die ich kannte, bevorzugten weiße Möbel oder doch zumindest welche aus hellem Holz. Dr. Herz hatte eine Vorliebe für Mahagoni und die Farbe Schwarz. Das Hacken hörte auf. Der Doktor drehte das Notebook in meine Richtung, sodass ich auf den Bildschirm blicken konnte.

»Der Text ist nicht so wichtig, oder können Sie kyrillische Buchstaben lesen?«

»Ich kann ein bisschen Russisch, ist aber lange her.«

Er nickte, beugte sich über den Rand des Monitors und tippte auf ein Bild.

»Erkennen Sie das hier?«

Er legte mir auch eine meiner Fotografien neben das Notebook. Mein Blick wanderte zweimal vom Foto zum Bildschirm, dann war ich mir sicher, dass die Narben eine gewisse Ähnlichkeit hatten.

»Sie haben Glück. Ich hatte da so eine Vermutung. Diphtherie! Es war eine Impfung gegen Diphtherie. Das Bild darunter zeigt die Impfpistole, die für die charakteristische Impfnarbe verantwortlich ist. Die SOJET 13 war sehr verbreitet und wurde in den Jahren 1953 bis 1979 eingesetzt, allerdings ausschließlich für die Diphtherie-Vorbeugung. Das ist aber noch nicht alles. Wollen Sie mehr hören?«

»Natürlich!« Ich sah ihn jetzt wieder an und spürte, dass er Freude an dieser kleinen Recherche hatte.

»Also, nach dem was hier steht können wir die DDR nicht ausschließen. Im gesamten Ostblock, im gesamten ehemaligen Ostblock wurden diese Impfungen durchgeführt.«

»Wie viele?«, fragte ich.

Dr. Herz drehte das Notebook wieder zu sich, scrollte auf dem Bildschirm und las dann den Text. »Fünfunddreißig Millionen!«, sagte er schließlich.

»Der Tote kann also auch Deutscher gewesen sein, ein ehemaliger DDR-Bürger.«

Dr. Herz nickte. »Der Wahrscheinlichkeit nach war er aber kein Deutscher, denn unter den fünfunddreißig Millionen Impfpatienten waren die meisten Sowjetbürger.«

»Aber eben nicht alle«, sagte ich. »Ich hatte die Vorstellung, dass der Tote vielleicht Spätaussiedler gewesen sein könnte.«

»So wie ich«, meinte Dr. Herz und überlegte. »Bisher haben Sie mir ja nicht viel gezeigt, aber es könnte doch sein, dass ich den Toten kenne.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind doch erst dieses Jahr aus Berlin zugezogen. Der Mann ist vor acht Jahren hier in Hamburg gestorben.«

»Es wäre aber dennoch möglich, dass ich ihn kenne. Ich war vor mehr als zwanzig Jahren auch einmal für fast zwei Wochen in Friedland.«

»Friedland?« Ich wusste im ersten Moment nicht, was Dr. Herz meinte.

»Friedland ist eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, meinetwegen ist es auch eine Art Lager. Ich habe dort einige Leute kennengelernt, man hatte ja nichts anderes zu tun, bis alles geklärt war.«

Ich nickte und sah in den Umschlag. Ich suchte erst nach einer weiteren Fotografie, dann überlegte ich es mir aber anders und ließ den gesamten Inhalt auf Dr. Herz’ Mahagonischreibtisch gleiten. Er zog sich sofort einige der Fotografien heran, schüttelte dann aber gleich den Kopf.

»Ich kann nicht mal sagen, ob der Mann wie ein Russe aussieht«, kommentierte er.

»Wie sieht denn ein Russe aus?«, fragte ich gleich.

Dr. Herz sah mich an und musste lachen. Er schüttelte erneut den Kopf und sortierte die Fotografien.

»So sehen also Polizeifotos aus.«

»Es sind nicht alles Polizeifotos, die meisten Aufnahmen, die das Opfer zeigen stammen aus der Pathologie.«

Ich tippte auf zwei, drei Aufnahmen. Dr. Herz nahm eine davon in die Hand.

»Was ist das?«

Ich sah mir das Foto an. Es war die Aufnahme von der Brandnarbe. »Alle Merkmale des Körpers werden dokumentiert«, erklärte ich. »Alles, was zur Identifikation des Toten dienlich sein kann.«

»Ja, ja, das weiß ich. Was ich meine ist diese Form des Narbengewebes. Hatte der Mann sonst noch irgendwelche Tätowierungen?«

Bevor ich antworten konnte, suchte Dr. Herz in den Fotografien. Ich schüttelte den Kopf. Er sah mich an.

»Da hat jemand eine Tätowierung loswerden wollen«, sagte er mit aufgeregter Stimme. Er erhob sich sofort und ging an einen Schrank. Er öffnete eine schwarze Mahagonitür und glitt mit dem Finger über die Rücken der Bücher, die gleich auf dem obersten Regalboard standen. Es waren dicke Wälzer, Ledereinbände. Er fand, wo nach er gesucht hatte und zog ein eher schmales Buch hervor, brachte es zum Schreibtisch und schlug es sofort auf. Er blätterte konzentriert. Ich hielt die Luft an.

»Heraldik ist ein kleines Hobby von mir«, erklärte Dr. Herz ohne aufzusehen. »Dieses Buch hatte ich einem meiner Patienten geliehen und es noch nicht wieder mit nach Hause genommen.«

Ich atmete wieder und beobachtete weiter, wie Dr. Herz eine Seite nach der anderen umblätterte.

»Hier!«, sagte er schließlich. »Der Doppeladler!« Er drehte das Buch zu mir und tippte auf eine Abbildung. »Der zaristische Doppeladler, ein monarchistisches Symbol«, erklärte er. »Im Kommunismus gab es viele Leute, die sich den Zaren zurückgewünscht haben. Das gab es zu jeder Zeit, auch noch Jahrzehnte nach der Oktoberrevolution und in jeder Generation.«

Während Dr. Herz sprach, sah ich mir die Abbildung genauer an. Ich kannte den russischen Doppeladler von anderen Darstellungen. Hier war er nicht so detailliert gezeichnet, nicht so fein. Es waren eher die Umrisse des Wappens. Ich nahm mir die Fotografie, die Dr. Herz so aufgeregt hatte, und die die Innenseite des rechten Oberarms unseres Toten zeigte. Bei eingehender Betrachtung konnte man in den Umrissen der Brandnarbe durchaus das Wappen erkennen. Dr. Herz beobachtete, wie ich die Bilder verglich.

»Ich habe das schon öfters gesehen. Es war in der Sowjetunion nicht immer vorteilhaft, den Doppeladler als Hautschmuck zu tragen. Wer sich wieder davon trennen wollte, aus welchem Grund auch immer, der hat sich mit einem glühenden Eisen Stück für Stück die Tätowierung entfernt oder besser überdeckt.«

»Und Sie meinen, unter der Brandnarbe befindet sich eine solche Tätowierung?« Ich tippte auf die Buchseite.

»Medizinisch gesehen ist sie nicht mehr darunter, denn die Farbe wird zum größten Teil ausgebrannt sein. Das Ganze ist recht schmerzhaft und die Narbe kann sich natürlich auch entzünden.«

»Was schätzen Sie, wie alt ist diese Brandnarbe, wie lange vor seinem Tod hat der Mann sich die Tätowierung entfernt oder entfernen lassen?«

»Sie meinen, ob der Tod dieses Mannes etwas mit dem zaristischen Doppeladler zu tun hat?« Dr. Herz schüttelte den Kopf. »Die Narbe ist alt. Obwohl ich das Gewebe nicht ertasten kann, würde ich doch sagen, dass die Narbe schon mehrere Jahre alt war, als dieses Foto entstanden ist. Sie können es auch daran erkennen, dass die gesamte Narbenfläche gleichmäßig hell ist.«

»Dennoch könnte den Mann seine Vergangenheit eingeholt haben«, mutmaßte ich.

Dr. Herz zuckte mit den Schultern. »Wer sollte sich in der heutigen Zeit noch am zaristischen Doppeladler oder an den russischen Monarchisten stören.«

Ich konnte nicht urteilen, ob Dr. Herz mit seiner Einschätzung über den russischen Zarismus recht hatte, eines war jetzt jedoch wieder in den Fokus gerückt. Der Tote aus dem Zimmer Nummer 411 des Hotels Euroham konnte durchaus ein ehemaliger Sowjetbürger sein.

»Darf ich kurz an ihr Notebook, ich möchte mir den Artikel über die Diphtherie-Impfung auf mein Telefon mailen.«

Dr. Herz nickte. Ich brauchte eine Minute, wartete eine weitere Minute, bis die Mail mit dem Artikel auf meinem Smartphone eingetroffen war. Dann benutzte ich mein Telefon noch als Kamera und fotografierte den zaristischen Doppeladler aus Dr. Herz’ Buch ab. Ich sammelte Bruckners Unterlagen wieder ein. Dr. Herz brachte mich noch bis zur Tür. Die Praxis war mittlerweile verlassen. Der späte Freitagnachmittag läutete das Wochenende ein. Als ich wieder in meinem Century Beetle saß, musste ich noch eine Sache erledigen. Ich suchte Bruckners Visitenkarte und tippte seine Mobilenummer in mein Telefon. Ich rief ihn natürlich nicht an, ich hatte keine Lust auf Erklärungen. Ich sammelte die Bilder vom zaristischen Doppeladler und den Internetlink über die sowjetische Diphtherie-Impfkampagne und verpackte alles in eine MMS. Bruckner konnte sich am Wochenende damit beschäftigen oder auch nicht.

Alles in Blut

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