Читать книгу Alles in Blut - Ole R. Börgdahl - Страница 6

Montag, 7. November 2011

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Es war natürlich klar, dass ich diesen Zug immer zur selben Zeit erwischte, vier Minuten vor acht. Als ich den Gang herausnahm und von der Kupplung stieg, ließ die Start-Stopp-Automatik meines Centurys den Motor verstummen. Hinter mir kam quietschend ein roter Lieferwagen zum Halten. Ich bin lieber hinten in einer Schlange, dann kann ich die Leute beobachten, die vor mir stehen. Die Motorhaube des Lieferwagens nahm mir jetzt sogar komplett die Sicht durch den Rückspiegel und durch die beiden Seitenspiegel. Vor mir war es auch nicht interessanter, denn dort lag nur der Schlagbaum, der noch eine Zeit lang zitternd vibrierte.

Mir fiel plötzlich eine komische Rechnung ein. Es sind genau vierundsechzig Stunden von Freitag 16:00 Uhr bis Montag 8:00 Uhr. Ein Wochenende dauert also vierundsechzig Stunden. Ich überlegte, was ich in den letzten vierundsechzig Stunden gemacht hatte. Am Samstagvormittag waren wir einkaufen. In Fredericksburg haben wir immer nur an jedem zweiten Donnerstag eingekauft, und zwar in solchen Mengen, dass ich es mir fast gar nicht mehr vorstellen kann.

Ich reckte mich etwas übers Lenkrad, vom Zug war noch nichts zu sehen. Wenn ich Pech hatte, würde es wieder einer dieser langsamen Güterzüge sein, einer mit unendlich vielen Wagons. Ich stellte das Radio leiser und ließ die Seitenscheibe ein Stück herunter. Draußen war nichts zu hören. Ich lehnte mich wieder in meinen Sitz zurück.

Wir waren am Samstagvormittag also einkaufen und am Nachmittag bin ich in den Garten gegangen. Es ist noch einiges zu tun, bevor es endgültig in die Winterpause geht und ich bin noch nicht einmal ganz fertig geworden. Ich habe den Ehrgeiz, alles alleine zu machen. Rasenmähen ist dabei keine große Sache, aber die Beete über den Sommer in Schuss zu halten und den Hecken Einhalt zu gebieten, fordert mich. Eine schöne Arbeit, eine Abwechslung. Ich habe mittlerweile sehr große Freude daran. In New York hatten wir überhaupt keinen Garten und in Fredericksburg war es unmöglich, selbst etwas zu machen, man hatte eben einen Gärtner. Als wir nach Hamburg gezogen sind, habe ich mir diese Frage gar nicht erst gestellt und vom ersten Tag an alles Selbst gemacht, was vielleicht daran lag, dass mit Haus und Grund auch ein richtiger Rasentraktor in unseren Besitz übergegangen ist. Das Rasenmähen gehört daher auch zu meiner liebsten Beschäftigung. An diesem Sonnabend blieb der Traktor allerdings im Schuppen. Dafür habe ich reichlich an den Bäumen und Sträuchern geschnitten. Ich weiß bis heute nicht, ob man so etwas im Herbst macht oder doch besser im Frühjahr.

Die Nachrichten begannen, Punkt acht. Ich drehte das Autoradio wieder etwas lauter. So lange hatte der Zug noch nie gebraucht. Gestern waren wir zweimal ohne Stopp über genau diesen Bahnübergang gefahren, sowohl auf dem Hinweg nach Ottensen als auch auf dem Weg zurück nach Osdorf. Vielleicht verkehren sonntags keine Züge auf dieser Strecke, was natürlich Unsinn ist. Ich streckte mich und in diesem Moment startete ein schwerer Diesel weit hinter mir. Da musste jemand etwas gesehen haben und schon donnerte ein Reisezug in weniger als einer halben Minute über den Bahndamm. Als gerade der Schlagbaum den Weg freigab und mein Motor wieder ansprang, meldete sich das Telefon. Ich wollte schon über die Freisprechanlage abnehmen, doch es war nur ein kurzes Signal, eine E-Mail oder SMS, also nicht so wichtig, dachte ich sofort. Dann fiel mir Bruckner wieder ein. Ich zügelte meine Neugier, fuhr erst einmal weiter. Ich hatte das ganze Wochenende nicht an ihn und an den unbekannten Toten gedacht. Es ist einfach nicht gut, seine Fälle mit nach Hause zu nehmen, die Familie und überhaupt das Privatleben damit zu belasten. Es ist eine Überlebensstrategie, die ich mir aus meinem früheren Beruf bewahrt habe. Am Wochenende oder nach Feierabend gibt es kein Büro mehr und auch keine Kunden, keine Immobilien, kein Geschäft. Ich überlegte. In New York hatte ich die letzten Jahre zumeist in zweiter Reihe gearbeitet. Die Tatorte wurden von den Spezialisten der Spurensicherung aufgenommen. Wir haben dann das Material, die Ergebnisse, bekommen und alles ausgewertet, die Schlussfolgerungen gezogen, dem Verbrechen ein Profil gegeben. Bruckner suchte auch ein Profil und ich war dabei, ihm zu helfen.

Ich kam an eine Tankstelle, blinkte, fuhr auf den Hof und parkte neben der Staubsaugerstation. Das Display meines Smartphones blinkte. Ich dachte zwei Sekunden nach, dann öffnete ich Bruckners SMS. Ich las den Text. Er ging gar nicht auf das ein, was ich ihm am Freitag geschickt hatte. Er wollte mich einfach nur treffen. Ich rief meinen Terminkalender auf, klickte wieder auf Bruckners SMS und schrieb ihm eine Antwort.

Als ich schon wieder auf der Straße fuhr, wählte ich über die Telefontasten des Lenkrades meine Büronummer. Es klingelte zweimal, bis Frau Sievers abnahm.

»Hallo, Tillman hier, guten Morgen! Habe ich am Vormittag irgendwelche Termine, von denen ich noch nichts weiß?«

»Guten Morgen Herr Halls! Ich müsste nachsehen. Was verstehen Sie unter Vormittag?«

»Ich schaffe es erst um zehn ins Büro«, erklärte ich.

»Warten Sie!« Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis sie sich wieder meldete. »Bis zehn könnten Sie im Büro sein?«

»Ja!«

»So weit ich sehen kann«, sagte sie in ihrer ruhigen Art, »steht heute Morgen gar nichts für Sie an.«

»Um so besser«, sagte ich, bedankte mich und legte sofort wieder auf.

An der nächsten Ampel fuhr ich links und machte mich auf den Weg Richtung Altona. Bruckner kannte unseren Treffpunkt ja bereits, die Studentenbude. Ich hatte ihn für halb neun bestellt. Ich schaltete mein Telefon aus. Es würde jetzt an ihm liegen, pünktlich zu sein, oder überhaupt zu erscheinen. Ich wollte meine Zeit nicht verschwenden, wenn er kein richtiges Interesse an einer Zusammenarbeit hatte, oder wenn er mir nicht vertraute.

Ich parkte um fünf Minuten nach halb vor dem Mietshaus, stieg aus dem Wagen, ging gleich hinein und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Als sich die Türen öffneten, war es wie ein Déjà-vu. Bruckner wartete bereits auf mich.

*

Das Notebook war mit einem UMTS-Stick ausgerüstet. Bruckner hatte alle Unterlagen digitalisiert, die Fotos, die Berichte, die gesamte Akte. Wir hatten darüber hinaus Zugriff auf die polizeilichen Datenbanken und sogar auf das Informationssystem von Europol.

»Und so eine Leitung ist sicher?«, fragte ich ihn.

»Auf jeden Fall sicherer als über Ihre LAN-Verbindung.« Er deutete auf die Buchse in der Wand hinter uns. »Anfragen sind immer möglich«, erklärte er, »wenn die Antwort irgendwie kritisch ist, wird sie vom Polizeiserver entweder gar nicht verschickt oder auf meinem Büroaccount abgelegt.« Er überlegte. »Ich denke wir werden hier schon alles bekommen, es sei denn, wir stoßen auf den Staatsfeind Nummer eins. Bei Ihnen drüben ist die Vernetzung doch wohl noch viel weiter als bei uns, man sieht im Fernsehen immer wie die Officers im Polizeiwagen ein Notebook benutzen?«

»Das ist ja Standard«, antwortete ich. »Da werden aber nur Zulassungskennzeichen abgefragt oder ob eine aufgegriffene Person zur Fahndung ausgeschrieben wurde.«

Bruckner nickte. »So etwas gibt es bei uns nur über Funk.«

»Die computerhakenden Cops findet man aber bei Weitem nicht in jedem Staat. Natürlich in New York und den anderen Metropolen, aber in der Provinz, läuft auch alles über Funk und über das Sheriffoffice.«

Das Notebook gab zwei kurze Pieptöne von sich. Bruckner blickte auf den Bildschirm.

»So, jetzt sind wir online auf der großen Datenbank.« Er sah mich wieder an. »Wir haben hier in Deutschland natürlich auch jede Menge Einwanderer.«

Er tippte etwas in den Computer ein und der Browser öffnete eine neue Seite.

»Das hier ist die Datenbank des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, eine Art Einwanderungsbehörde.«

Ich rückte näher an Bruckner heran und sah auf den Monitor. Die Seite zeigte oben links das typische Behördenlogo mit dem Bundesadler als Bildsymbol und dem obligatorischen Schwarz-Rot-Gold im Hintergrund. Bruckner klickte die Seite weg und öffnete einen Dateiordner.

»Ihre Bilder vom Freitag und die Fingerabdruckdatei des Opfers«, kommentierte Bruckner. »Einen Gebissstatus haben wir ja leider nicht. Der würde uns aber beim Bundesamt für Migration auch nichts nützen, die machen nur Fotos und nehmen Fingerabdrücke und das könnte unsere Chance sein und darum bekommen die auch ein Portrait der Leiche. Ist zwar nicht schön, aber vielleicht hilft es uns ja.«

Bruckner sah mich an und ich nickte.

»Ich werde Ihre Bilder von den Impfnarben und dem Brandmal und auch von diesem russischen Doppeladler mitschicken«, fuhr er fort. »Vielleicht haben wir Glück und wir treffen auf einen pfiffigen Sachbearbeiter.« Bruckner überlegte. »Ist aber recht unwahrscheinlich, dass sich noch jemand an unseren Toten erinnert, er könnte ja schon vor zwanzig Jahren nach Deutschland eingewandert sein.«

»Wenn er überhaupt eingewandert ist«, gab ich zu bedenken. »Der Mann kann auch nur zu Besuch in Hamburg gewesen sein.«

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Wir können seine Unterlagen ja nicht gleich den Russen schicken.«

»Das nicht, aber Interpol oder zumindest Europol«, schlug ich vor.

»Das ist richtig, aber das kommt später. Erst müssen wir sehen, ob der Mann nicht doch über Friedland eingewandert ist.«

»Mein Informand, den ich wegen der Impfnarben zurate gezogen habe, war vor zwanzig Jahren selbst im Lager Friedland.«

»Es ist ein Übergangslager«, korrigierte mich Bruckner. »Der Begriff Lager ist wirklich etwas unglücklich, aber irgendwo müssen die Leute ja unterkommen, bevor sie Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland werden und dann natürlich hingehen können, wo sie wollen.« Bruckner sah mich wieder an und zögerte kurz. »Haben Sie eigentlich die Deutsche Staatsbürgerschaft?«

»Ist beantragt«, antwortete ich. »Meine Frau und die Kinder sind natürlich beides, Amis und Deutsche. Das haben wir gleich aus den Staaten mitgebracht. Bei mir kämpfe ich noch mit einem Sachbearbeiter, der darauf besteht, dass es in Deutschland offiziell keine Doppelstaatsangehörigkeit geben darf. Ich versuche gerade klar zu machen, dass ich meine Heimat liebe und Amerikaner bleiben möchte.«

»Und Deutscher werden wollen«, kommentierte Bruckner.

»Ist eben praktischer, auch für die Geschäfte.«

Bruckner nickte, wandte sich dann wieder dem Notebook zu und überlegte kurz.

»So, wo waren wir?«

Er holte die Webseite des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus der Taskleiste hervor, durchsuchte mit dem Mauszeiger das Menü und öffnete eine Login-Seite. Seine Finger glitten geübt über die Tastatur, während er seinen Benutzernamen eintippte. Dann hielt er inne.

»Scheiß Passwörter! Entschuldigung!«

Er zögerte noch einmal, tippte den Code dann aber ein und bestätigte den Login mit einem kräftigen Schlag auf die Entertaste. Die Sanduhr lief ein paar Sekunden, bis sich eine neue Seite öffnete, die den Titel Kontaktanfrage trug.

»Das ist jetzt nur für die offizielle Anfrage und um die Unterlagen zu übermitteln. Ich werde nachher mit jemandem von der Behörde telefonieren.«

Bruckner wechselte noch einmal das Fenster, rief die Bild- und Textdateien auf, kopierte alle Files und fügte sie in das Anfrageformular des Bundesamtes ein. Dann verfasste er ein kurzes Anschreiben und verschickte alles mit der Senden-Taste des Formulars.

»So, das ist die deutsche Gründlichkeit.« Bruckner sah auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es fünf vor neun. Nach der Frühstückspause werden die es hoffentlich gleich öffnen.« Er grinste.

»Und was schlagen Sie jetzt vor?«, fragte ich.

»Ja, ich habe den Rechner nicht umsonst mitgebracht«, sagte er. »Die Anfrage eben hätte ich auch vom Büro aus machen können.«

Ich nickte und konnte mir schon denken, worauf er hinauswollte. Er wischte mit dem Finger über das Touchpad des Notebooks, schloss alle geöffneten Fenster und führte den Mauszeiger auf ein Icon, das er mit einem Doppelklick öffnete. Das Logo des Polizeipräsidiums der Freien und Hansestadt Hamburg erschien auf dem Monitor. Bruckner lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Und jetzt?«, fragte er mich.

Ich brauchte nicht lange zu überlegen. »Wie sieht es mit dieser Expertendatenbank aus, kann ich die mal sehen?«

Bruckner nickte und beugte sich wieder über die Tastatur. Er füllte ein Suchfeld aus und bestätigte den Eintrag mit der Entertaste. Nach wenigen Sekunden erschien eine Liste. Bruckner suchte einen Eintrag aus, wieder ein Doppelklick und die ESPE, die Experten- und Spezialistendatei erschien ziemlich unspektakulär auf dem Monitor. Es war ein älteres Programm, eine sogenannte Hostmodulation.

»Was wollen Sie sehen?«

»Mich!«, sagte ich schnell. »Ich will mein Profil sehen und löschen.«

Bruckner lächelte, klickte zu einer Suchmaske und schob mir das Notebook hin. »Kennen Sie Ihren Zugang noch?«

In diesen Dingen war ich sehr genau, auch wenn ich beinahe vergessen hatte, dass ich überhaupt in der Expertendatenbank registriert war. Als Benutzer tippte ich meinen vollständigen Vor- und Nachnamen ein. Das Passwort war einfach: NYPD0511. Am 30. November 2005 hatte ich meinen letzten Arbeitstag beim New York City Police Department. Zum 1. Januar 2006 hatte ich dann in Quantico angefangen. Ein solches Datum vergisst man nicht und eignet sich daher sehr gut für ein Passwort. Ich drückte die Entertaste. Wir mussten eine Zeit lang warten. Als meine Daten schließlich erschienen, brauchte ich nicht lange, um das Programm zu verstehen. Ich unterschrieb virtuell eine Erklärung, dass ich über die im Bundesdienst erhaltenen Informationen schweigen bewahre, oder so ähnlich. Nach zwei weiteren Klicks schloss sich die Datenbank. Ich erhielt noch die Information, dass ich in den nächsten sechs Monaten meinen Account wieder aktivieren könne, danach war eine Neuregistrierung notwendig. Ich schob das Notebook wieder auf Bruckners Seite des Tisches. Er hatte mir die ganze Zeit zugeschaut.

»Aber diesen Fall beenden wir doch noch gemeinsam, oder?«

»Sie sind also überzeugt, dass es eine Lösung gibt?«, fragte ich im Gegenzug.

»Ich habe jetzt so ein Gefühl, das war vorher anders.«

Ich nickte. »Na dann zeigen Sie mir mal, was Sie so zu bieten haben.«

Bruckner bediente wieder das Mousepad, führte ein paar Klicks aus und präsentierte mir das Ergebnis.

»In Ihrer MMS haben Sie geschrieben, dass ich unsere Datenbanken warmlaufen lassen soll. Das können wir jetzt gleich hier erledigen, wie schon mit der Anfrage an die Einwanderungsbehörde.« Bruckner deutete auf den Monitor. »Bei der Auswertung von Verbrechens- und Tatprofilen sind unsere stärksten Waffen die CRIME-Datenbank und das ViCLAS-System. Beide Programme kommen natürlich aus dem Angloamerikanischen. CRIME steht für Criminal Research Investigation Management Software und ViCLAS für Violent Crime Linkage Analysis System. Sind Ihnen die Datenbanken bekannt?«

Ich nickte. »Sie sagen es ja selbst, angloamerikanisch, wobei ViCLAS in Kanada programmiert wurde.«

»Ach wirklich, das wusste ich gar nicht«, erwiderte Bruckner. »Die Programme wurden jedenfalls auf die Bedürfnisse der Deutschen Polizei angepasst.«

»Das mag sein.« Ich überlegte. »Wurden die Datenbanken denn im Zusammenhang mit unserem Todesfall schon einmal befragt, ich meine damals, während der ersten Ermittlung?«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Vor acht Jahren war das alles noch nicht so etabliert und außerdem gibt es zum Beispiel bei der CRIME-Abfrage detaillierte Protokolle als Datenfile und immer auch als Ausdruck für die Akte. Bei den Unterlagen zu dem Fall habe ich aber nichts von all dem gefunden.« Bruckner zögerte. »Ich darf ehrlich sein, aber so schön die neue Technik auch ist, bezweifle ich, dass sie uns in diesem Fall weiterhilft. Es ist ja keine Serientat, es ging nicht um Drogen, es gab keine Zeugen ...«

»... und keine richtigen Spuren, die zu Spuren aus anderen Fällen führen könnten«, ergänzte ich. »Aber das ist es ja gerade, wenn wir nichts sehen, dann sieht es vielleicht der Computer.«

»Sie meinen, dass man selbst zu subjektiv vorgeht und zu emotional und womöglich Zusammenhänge übersieht, die der Computer nur wegen der objektiven Daten anzeigt, ohne darüber nachzudenken, dass es nach menschlichem Verständnis überhaupt möglich sein kann?«

»Ja, in etwa so. Ich bin auch technikverliebt, gebe ich gerne zu und lasse mich unvoreingenommen überraschen, was der Computer aus einer Sache macht.« Ich deutete auf das Notebook. »Und darum sollten wir jetzt einfach loslegen, ich bin gespannt, was Ihre Programme ausspucken.«

Bruckner lächelte und beugte sich über die Tastatur. Er klickte auf das ViCLAS-Icon und die Startmaske öffnete sich. Nach der Anmeldung auf dem System brauchte das Programm einige Zeit, bis die Autorisierung erfolgte. Ein Bildschirmmenü erschien und Bruckner klickte auf das Icon Erweiterte Suche. Während sich die Eingabemaske öffnete, wandte er sich zu mir.

»Jetzt legen Sie doch mal los.«

Ich schaute über die Eingabefelder, versuchte mich zu orientieren. Es gab acht Rubriken. Es begann mit dem Tatort. Die Eingabe erfolgte über Freitextfelder. Bruckner bemerkte mein Zögern.

»Das ist neu«, erklärte er. »Es werden nicht mehr so viele Fragen gestellt, es geht jetzt um Stichworte, die über eine sogenannte intelligente Volltextsuche verarbeitet werden. Das Programm prüft dann die Logik und schmeißt verifizierte und plausible Ergebnisse zu den einzelnen Bereichsfakten aus.«

Ich sah Bruckner an. »Sie haben wohl alle Computerkurse bei der Polizei besucht und mit Bravour bestanden, was?«

»War das zu kompliziert?«

»Nein, nein, schon klar, Volltextsuche.«

»Mit Eingabekorrektur«, erklärte Bruckner, »das heißt, wenn die Orthografie eines Wortes nicht ...«

»Schon gut, ich habe ja verstanden«, unterbrach ich ihn. »Ich denke nicht so sehr über die Software nach, sondern wie weit wir die Umgebung des Tatortes ausweiten sollten. In welchem Bezirk liegt das Hotel?«

»Wandsbek!«

Ich zog mir das Notebook ganz herüber, schrieb Bruckners Antwort in das erste freie Feld.

»Und welcher Stadtteil?«

»Bramfeld! Sie können es ins gleiche Feld schreiben und durch ein Semikolon trennen. Mit dem Semikolon werden beide Einträge für die Suche berücksichtigt. Wenn Sie die Begriffe mit einem Plus verbinden, erhalten Sie nur Treffer, in denen beides vertreten ist.«

»Dann reicht aber der Stadtteil«, folgerte ich, »weil er ja eine Untermenge des Bezirks ist.«

Bruckner überlegte kurz und nickte dann.

Ich löschte den Namen des Bezirks wieder, klickte mit dem Mauszeiger auf die Schaltfläche Suchen und wandte mich zu Bruckner.

»So! Wollen mal sehen, was in dem Stadtteil so los war.«

Bruckner sah mich an. »Sie haben nur den Stadtteil als Suchbegriff eingegeben.« Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Küchenecke. »Das kann jetzt dauern, da bleibt Zeit für einen Kaffee. Wollen Sie auch?«

»Moment! Ist Bramfeld ein Schwerpunktgebiet für Gewalttaten?«, fragte ich.

Bruckner legte zwei Kaffeepads in die Senseo ein, startete die Maschine und drehte sich zu mir um.

»Über unser ViCLAS bekommen Sie alles, jeden Scheißverkehrsunfall, jeden Taschendiebstahl, der zur Anzeige gebracht wurde oder bei dem eben die Polizei eingeschaltet wurde. Das liegt daran, dass wir ViCLAS jetzt mit der CRIME-Datenbank verknüpft haben. Da muss man aufpassen, wie man die Suchparameter setzt, ansonsten wird man mit Fällen überschüttet.«

»Also, das ist doch nicht das Prinzip von ViCLAS, nicht so, wie ich es kenne. ViCLAS steht für Gewaltverbrechen, Mord, Totschlag, Mordversuch, Vergewaltigung, Körperverletzung und so weiter.«

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Unser ViCLAS ist über Schnittstellen zu anderen Datenbanken verknüpft worden und dazu gehört eben nicht nur CRIME. Die Schnittstellen gleichen alle vierundzwanzig Stunden die Register ab.«

Ich schaute auf den Computermonitor. Ein Balken in der Maske zeigte den Suchfortschritt an, der erst bei sieben Prozent lag. Eine Minute später war der Kaffee fertig und der Balken lag bei neunundzwanzig Prozent.

»Wollen Sie Milch und Zucker?«, fragte Bruckner.

Ich erhob mich und ging zu ihm. »Habe ich immer noch nicht hier, weder Milch noch Zucker. Warum sind Verkehrsdelikte in ViCLAS? Warum hat man die nicht wenigstens rausgelassen?«

»Ganz einfach«, erklärte Bruckner, »um die ViCLAS-relevanten Verbrechen zu erfassen, musste man ursprünglich fast dreihundert Fragen beantworten. Das hat Anfangs sehr lange gedauert, und weil man die Auswertemöglichkeiten zeigen wollte, kam jemand auf die Idee, irgendwelche Daten maschinell einzulesen.«

Ich nickte, obwohl ich eigentlich den Kopf schütteln wollte. Wir gingen beide zurück zum Tisch und setzten uns. Mein Blick fiel sofort wieder auf den Balken, dreiundsechzig Prozent. Zehn Minuten später war es endlich geschafft. Die Ergebnisliste kündigte 9.654 Treffer an.

»Wollen Sie die Liste behalten?«, fragte Bruckner.

Ich antwortete nicht und er klickte sofort auf Löschen. Dann begann er selbst, die Suchfelder auszufüllen. Ich sah ihm dabei zu. Den Stadtteil nahm er heraus und trug dafür ganz Hamburg als Stadt ein. Über ein weiteres Feld konnte ein Umkreisradius festgelegt werden. Bruckner trug dreihundert Kilometer ein. Bei der Verbrechensart legte er die Auswahl auf Todesopfer und Schwere Körperverletzung fest. Die Angaben zur Täter-Opfer-Beziehung ließ er offen.

»Wenn wir hier angeben, dass es keine Beziehung zwischen Opfer und Täter gab, dann schränken wir das Ergebnis zu sehr ein.« Bruckner sah mich an. »Die meisten Tötungsdelikte sind und bleiben Beziehungstaten.«

Ich nickte. »Das ist in den Staaten nicht anders.«

Bruckner füllte die Suchmaske weiter aus. Verletzungen beim Opfer und Todesursache: keine Angaben. Vorgehensweise bei der Tatbegehung: keine Angaben. Art der verwendeten Waffen und Gegenstände: keine Angaben. Er sah mich wieder an.

»Wir können die Angaben noch konkretisieren, zum Beispiel Herzinfarkt als Todesursache vorgeben.«

»Das ist schon gut, erst einmal keine Todesursache. Ich möchte sehen, wer hier wie gestorben ist.«

Bruckner überlegte noch einmal. »Moment, ich lasse das Ergebnis kategorisieren.«

»Was heißt das?«

»Morde werden unter Morden und Körperverletzungen unter Körperverletzungen zusammengefasst und in der Trefferliste separat dargestellt.«

Das hatte ich verstanden und nickte. Bruckner löste die Suche aus. Wieder erschien der Balken, der aber schnell anwuchs, zwanzig Prozent, vierzig, siebzig Prozent und in weniger als einer Minute auf hundert Prozent ging. Es gab aber immer noch 1.486 Treffer. Bruckner reagierte sofort. Er speicherte das Ergebnis und nahm für eine zweite Suche den Umgebungswert heraus, sodass sich die Recherche auf das Stadtgebiet von Hamburg beschränkte. Es blieb bei einer Minute Laufzeit, die Treffer reduzierten sich aber auf fünfhunderteinundachtzig.

»Soll ich noch auf Bezirk oder Stadtteil gehen?«

»Nein, lassen Sie erst einmal sehen.«

Bruckner speicherte die Liste und öffnete sie dann in einem zweiten Fenster.

»Das ist jetzt wie ein Verzeichnisbaum«, erklärte er. »Auf der obersten Ebene stehen die Delikte, darunter die Rubriken mit bekanntem und unbekanntem Täter, oder eben ohne Täter, wenn es ein Unfall mit Todesfolge ohne Fremdverschulden war.«

Bruckner öffnete die Ordner, klickte sich auf die dritte Ebene durch, um mir das Prinzip zu zeigen.

»Bei fast sechshundert Treffern sollten wir zunächst Stichproben machen«, schlug ich vor.

»Was wollen Sie sehen?«

»Die Morde!«

Bruckner öffnete einen Ordner. »Klingt fast harmlos: Tod durch Fremdverschulden.«

»Sind das die Morde?«

»Mal sehen!«

Eine weitere Liste erschien auf dem Monitor. Vor jedem Eintrag stand eine siebenstellige Nummer. Bruckner studierte die Treffer, scrollte die Liste weiter nach unten.

»Die letzten drei Ziffern identifizieren den Tatbestand«, erklärte er und scrollte weiter. »Hier geht es los, 303 steht für Mord.«

Ich zählte mit einem Blick, es waren vier Zeilen. »Ist das alles?«, fragte ich. »Ein bisschen wenig für Hamburg, oder.«

Bruckner stutzte. »Verdammt, wir haben den Zeitraum gar nicht eingegrenzt. Die Voreinstellung liegt bei drei Monaten.«

»Also vier Morde in Hamburg in den letzten drei Monaten. Dafür ist aber wieder die Gesamtzahl der Todesfälle recht hoch. Sechshundert gewaltsame Todesfälle in drei Monaten. Ist das wirklich so viel?«

Bruckner war jetzt doch verunsichert. Er überlegte, klickte sich in den Listen und Ordnern zurück auf die Eingabemaske des ViCLAS und überprüfte die eingestellten Parameter. Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und sah auf die Uhr. Es war mittlerweile halb zehn. Bruckner spürte, was ich dachte. Er wandte sich zu mir um.

»Wie sieht es mit Ihrer Zeit aus?«

Es sah natürlich nicht so gut aus. Ich bemühte den Kalender auf meinem Smartphone. Frau Sievers hatte mir vorhin doch noch einen Termin übermittelt. In einer Stunde sollte ich mir ein neues Objekt ansehen. Ein älteres Ehepaar plante den Umzug vom Reihenhaus in eine Stadtwohnung, wir sollten den Verkauf der alten Immobilie und den Erwerb der Neuen managen. Alte Leute haben Zeit, dachte ich. Die Telefonnummer stand bei der Adresse, zu der ich kommen sollte. Ich brauchte zwei Minuten, um den Termin auf den Nachmittag zu verschieben. Bruckner wollte gerade etwas sagen, aber ich hatte das Telefon schon wieder am Ohr.

»Ich bin’s. Wir haben vielleicht einen Interessenten für die Studentenbude ... Nein, ich bin schon vor Ort, ich warte hier ... Nein ich schaffe es natürlich nicht bis zehn ins Büro ... Ja, habe ich schon angerufen, wir haben es auf den Nachmittag verschoben ... Mit Dr. Wegner um drei? Nein, verschieben Sie es bitte auf halb vier ... Ja, danke.«

Ein bisschen Flunkerei ist ja wohl erlaubt, dachte ich mir. Als ich mich wieder umdrehte, sah mich Bruckner interessiert an.

»Das geht ja schnell bei Ihnen.«

»Denken Sie nicht, ich würde alle meine Termine so machen. Wenn es wirklich wichtige Sachen gewesen wären, hätten wir hier jetzt abgebrochen.«

»Gut zu wissen, dann sollten wir die Zeit nutzen. Welchen Zeitraum soll ich einstellen?«

»Der Tote wurde vor acht Jahren gefunden. Geben wir noch fünf Jahre drauf.«

»ViCLAS hat aber nur einen Horizont von zehn Jahren«, klärte Bruckner mich auf.

»Gut, dann nutzen Sie aber den ganzen Zeitraum aus.«

Bruckner füllte die Suchmaske neu aus. »Den Start setze ich auf den 1. Oktober 2001, sonst lasse ich alle Parameter gleich.«

Zehn Jahre waren aus kriminalistischer Sicht für eine Großstadt wie Hamburg viel, sehr viel Zeit für Verbrechen. Hunderteinundachtzig Todesfälle mit Fremdverschulden, davon neunundfünfzig Morde. Bruckner scrollte durch die Liste.

»Ist unser Mann auch dabei?«, fragte ich, während wir die Zeilen durchgingen.

»Ja, seit gestern. Ich habe ihn gestern aufgenommen hat mich drei Stunden gekostet, es waren hundertsiebzig Fragen zu beantworten, hundertsiebzig Merkmale zur Fallbeschreibung. Die meisten konnte ich natürlich nicht konkretisieren.«

»Seit gestern, gut, dann machen wir einen Quercheck, aber ich will diese Liste trotzdem noch einmal durchgehen, also praktisch unabhängig von unserem Fall. Was wir da jetzt sehen, was sind das für Daten, also welches Format?«

»Das ist was Spezielles.« Bruckner überlegte. »Aber ich kann es in ein PDF-Dokument formatieren ...«

»Das ist gut, ich brauche etwas, wo ich immer mal wieder hineinschauen kann, man kann nicht immer sofort alles sehen. Sie können mir die Liste schicken«, schlug ich vor. »Ich habe eine separate E-Mail-Adresse für mein Smartphone.«

»Das kann ich natürlich machen«, sagte Bruckner. »Warten Sie.«

Er klickte ein paar Mal mit der Maus über den Monitor, verschob einen Ordner und öffnete sein Mailprogramm.

»Und, Ihre Adresse?«

»Ganz einfach: ttt.hhh@googlemail.com.«

»Abgeschickt!«, kommentierte Bruckner seinen letzten Klick, bevor er das Mailprogramm wieder schloss. »Und jetzt zum Quervergleich.«

»Haben Sie das noch nicht gemacht?«

Bruckner zögerte. »Doch habe ich, aber es gibt noch ein paar Varianten, die ich mit Ihnen durchsprechen wollte. Mein erster Versuch ist mir gewissermaßen misslungen.«

*

Die alten Herrschaften konnten nicht verstehen, dass ich ihren Namen nicht kannte. Ich hätte nur sagen können, dass er wohl holländisch klang, van Veen, Klaus und Ingrid van Veen. Es sollte einen Musiker geben, der ebenfalls van Veen hieß. Bei van Gogh hätte ich eher gewusst, worum es ging. Die beiden alten Leute verziehen es mir. Ich hatte mir alles angesehen, Notizen gemacht und in meinen Unterlagen die Grundstück- und Immobilienpreise der Gegend nachgesehen. Ein Reihenendhaus aus den Sechzigerjahren. Der Garten recht groß, was wohl auch das Problem darstellte. Klaus van Veen ging am Stock, ließ einen Nachbarjungen den Rasen mähen. Die Treppen im Haus waren auch nicht einfach, für beide nicht, wie mir Ingrid van Veen erklärte. Sie hatten den Dachboden ausgebaut, einen Hobbyraum eingerichtet, der aber lange nicht mehr genutzt worden war. Es war einfacher, wenn sich alles auf einer Wohnebene abspielte. Sie wollten ein Apartment, nicht größer als siebzig Quadratmeter, mit Balkon und einer Aussicht. Ich hatte noch keine richtigen Angebote für sie dabei. Aber wir konnten anhand ihres wahrscheinlichen Budgets schon einmal klären, wie nah wir mit der neuen Wohnung ans Zentrum kamen. Ein-, zweimal fiel die Vorstellung von einem Alsterblick, aber ich gab zu bedenken, dass solche Objekte in fester Hand waren und höchstens zu mieten seien und nur sehr selten zum Kauf angeboten wurden. Ich versicherte den beiden, dass wir etwas Anständiges finden würden und dass wir auch das Reihenhaus gut unterbringen könnten. Es war kurz nach drei, als ich wieder in meinen Century stieg. Ich stellte den Klingelton meines Smartphones laut und prüfte die eingegangenen Nachrichten. Es war tatsächlich schon etwas von Bruckner dabei. Nachdem wir fast drei Stunden zusammen über ViCLAS gesessen hatten, war Bruckner noch in der Wohnung geblieben, um eine Zusammenfassung der Ergebnisse zu erstellen. Es waren einfach zu viele Informationen über jeden Tatsachverhalt, aber ViCLAS ermöglichte eine Auswertung nach vorgegebenen Kriterien, wie dem Tatvorgehen, der Tatzeit, der Art der Gewaltanwendung und bei den gelösten Fällen, die Beziehung der Täter zum Tatmotiv oder direkt zum Opfer. Die Todesfälle im Stadtteil Bramfeld hatten wir uns natürlich sofort angesehen. Es waren weniger als ein Dutzend und das in den letzten fünfzehn Jahren. Mithilfe einer weiteren Datenbank hatten wir die Suche auf die letzten fünfzehn Jahre ausgedehnt. Zwei Jahre vor dem Tod unseres Opfers gab es einen Mord vor einer Kneipe. Ein dreiundvierzigjähriger Mann wurde mit einem Pflasterstein erschlagen. Laut der ViCLAS-Recherche lag die Übereinstimmung mit unserem Fall beim Alter der Opfer und bei der Geographie. Die Kneipe lag nur ein paar Querstraßen von der Barkstraße entfernt, ein Fußweg von etwa zweihundert Metern. Ein weiteres angebliches Übereinstimmungsmuster lieferte ViCLAS mit einem Todesfall aus Rahlstedt im Osten von Wandsbek. Also, Punkt eins: im selben Bezirk. Punkt zwei: artverwandte Todesart. Punkt drei: Opfer männlich. Und Punkt vier: in der gleichen Lebensaltersspanne. Der Tote aus Duvenstedt war vor vier Jahren verstorben. Zunächst wurde trotz Erstickungstod vermutet, dass kein Fremdverschulden vorlag. Der Mann wurde mit dem Gesicht nach unten in einer Matschkuhle gefunden. Ein Betrunkener, der unglücklich gestürzt und in einer anschließenden Bewusstlosigkeit im Dreck erstickt war. Das Opfer hatte aber nicht getrunken, wie die Blutwerte später ergaben. Zudem konnte der Pathologe eine Quetschung des Kehlkopfes feststellen. Es war also doch Mord. Der Mörder wurde ein Jahr später gefasst, was nicht ganz richtig war, denn der Bruder des Opfers hatte sich selbst gestellt. Es war wieder diese typische Beziehungstat. Wenn wir in diesem Fall ViCLAS etwas genauer gefüttert hätten, wären die beiden Tathergänge nicht als ähnlich eingestuft worden.

Bruckner hatte sich daraufhin vorgenommen, die Parameter zu überprüfen und besser einzustellen. Der Begriff Parameter zeigte auch, worum es bei Verwendung von ViCLAS oder CRIME ging, es wurden Daten verglichen, emotionslos, denn die Bits und Bytes kennen keine Emotion, keine Intuition und auch keinen Spürsinn. Aber diese drei Dinge können für einen Ermittler auch zum Fluch werden, wenn er die Objektivität zu verlieren droht. So hatte es Bruckner formuliert und ich stimmte ihm zu. Es musste also noch an den Daten gearbeitet werden und das hatte der Herr Kriminaloberkommissar übernommen. Das Ergebnis lag jetzt in meinen Händen und sollte gesichtet werden. Mit der Anzeige des Smartphones komme ich sonst hervorragend zu recht, bei kurzen Texten, bei Nachrichten. Für längere Beiträge muss man zu viel scrollen und schieben, was sehr unpraktisch ist. Ich hatte mich jetzt den ganzen Tag nicht in meinem Büro blicken lassen und so startete ich meinen Century und fuhr los. Ich dachte noch einmal darüber nach, wie ich Bruckner helfen konnte, welche Bedeutung dieser Cold Case überhaupt hatte. Natürlich muss ein Täter bestraft werden, wenn es einen Täter gibt, ansonsten muss man beweisen, dass es eben keinen Täter gab und dass die Gesellschaft beruhigt sein kann. Wenn man aber die Geständnisse der Mörder hört, dann ist es erschreckend, wie schnell sie getötet haben. Es geschieht in einer einzigen Bewegung, sekundenschnell, ein Schlag, ein Stich. Vielleicht dauert es auch Minuten, wenn das Opfer erwürgt, stranguliert wird. Minuten für die Tat, das zehntausend-, ja hunderttausendfache, um den Täter zu überführen. Ich habe das bei einigen Fällen ausgerechnet und es dann bleiben lassen, weil es wenig motivierend ist, bei den meisten Taten zumindest. Ein Cold Case führt eine solche Liste natürlich ganz oben an.

Ich blinkte und fuhr auf unseren kleinen Parkplatz. Frau Sievers hatte bereits Feierabend gemacht, ihr Civic stand nicht mehr da oder sie war heute mit dem Taxi gekommen. Kein Taxi, ich musste zweimal schließen, um ins Foyer zu kommen. Frau Sievers hatte es mir bestimmt gesagt, dass sie früher gehen wollte und Gustav nahm sich seit zwei Jahren den Montag frei, arbeitete nur noch von Dienstag 7:00 Uhr bis Freitag 12:00 Uhr.

Ich schaltete meinen Desktoprechner an und stöpselte den Bluetooth-Stick ein. Zwei Minuten später übertrug ich Bruckners Dokument vom Smartphone auf meinen Rechner. Die Thermoskanne auf meinem Schreibtisch war voll. Frau Sievers hatte wenigstens an meine Rückkehr gedacht. Der Kaffee dampfte noch. Ich gönnte mir eine Tasse und machte mich dann an die Arbeit.

PDF-Dateien haben den großen Vorteil, dass man sie nicht ohne Weiteres ändern kann, aber dennoch eine Volltextsuche über den Inhalt möglich ist. Ich hatte mir einige Stichworte notiert, als Bruckner und ich die ViCLAS-Auswertung heute Vormittag laufen ließen. Ich brauchte jetzt gar nicht nachzusehen, denn der wichtigste Begriff war das Wort tot, so makaber es auch klang. In jedem Dokument, das über ein Tötungsdelikt berichtet, kommt irgendwo der Begriff tot vor. Dabei ist es unwichtig, ob dieses Tötungsdelikt nun mit oder ohne Fremdverschulden vonstattengegangen ist. Ich beschrieb das Suchfeld und ließ den Begriff tot über das PDF-Dokument laufen. Die große Anzahl der Treffer störte mich nicht. Ich sprang von einem Treffer zum nächsten, brauchte immer nur ein paar Zeilen zu lesen, um einen interessanten von einem uninteressanten Fall zu unterscheiden. Das galt natürlich nur für das erste Sichten. Ich setzte Lesezeichen, ein weiterer Vorteil bei PDF-Dokumenten, und arbeitete mich so durch die Verbrechen der letzten fünfzehn Jahre im Bezirk Hamburg-Wandsbek. Nach gut anderthalb Stunden hatte ich einen recht aufschlussreichen Überblick.

Bei Tötungsdelikten an Frauen steht der Täter in einem sehr hohen Prozentsatz in einer Beziehung zu dem Opfer. Frauen sind in den ersten drei Monaten nach der Trennung von ihrem Lebenspartner am gefährdetsten. Ähnliche Statistiken finden sich auch in den Staaten und sicherlich überall auf der Welt. Beziehungstaten mit Todesfolge sind aber auch zwischen Kindern und Eltern, zwischen Geschwistern oder generell zwischen Verwandten nicht selten. Erst vor zwei Monaten wurde in der Presse über den Mord an einer Fünfunddreißigjährigen berichtet. Es dauerte fast drei Wochen, bis der getrenntlebende Ehemann als Täter überführt wurde. Solche Verbrechen gab es selbstverständlich auch in Wandsbek, siehe den Mann, der in einer Matschkuhle erstickt war und dessen Bruder der Mörder war. Ich las mir jeweils den Tathergang, die Tötungsmethode und die allgemeinen Umstände der Tat durch. In keinem Fall gab es Ähnlichkeiten zu dem Toten aus dem Hotel Euroham. Einmal hatte der Täter den eigenen Vater mit Benzin übergossen und angezündet. Bei einer anderen Tat hatte eine Frau ihren Schwiegersohn mit einer präparierten Gaspistole lebensgefährlich verletzt. Es sollte vor der Polizei als Unfall durchgehen, aber das Opfer hatte vor seinem Tod noch genügend Hinweise geben können. Ein Vorsatz ließ sich dann eindeutig nachweisen und wurde auch durch das Geständnis der Frau bestätigt. Mir fiel auf, dass in allen Todesfällen, die ich mir angesehen hatte, nicht einmal eine Schwiegermutter das Opfer war. Dafür gab es aber jede Menge Delikte ohne familiären Hintergrund, bei denen sich das Opfer und der Täter dennoch kannten. Es ging mit den Wirtshausschlägereien los. Unter starkem Alkoholeinfluss von Täter und Opfer kam es zu Todschlagshandlungen. In zwei Fällen konnte sogar von heimtückischem Mord gesprochen werden. Einmal ging es um ein Grundstück in Eilbek. Es gab in gewisser Weise zwei Täter, den Mörder und den Mordauftraggeber. Ein dreiundfünfzigjähriger Mann ließ seinen achtundsiebzigjährigen, alleinstehenden Onkel von einem Bekannten ermorden. Aus dem Erbe des Onkels sollte der Mörder mit dem Grundstück bezahlt werden. Die Ermittler brauchten genau fünf Tage, bis der Mörder ermittelt war. Das Geständnis brachte dann die Zusammenhänge der Tat ans Licht. Bei diesem Verbrechen handelte es sich natürlich auch um eine Beziehungstat. Es war schon sehr interessant, über diese Kriminalfälle zu lesen. Durch die Aufbereitung in der ViCLAS-Datenbank waren die Fakten verdichtet und die Profile der Täter und die Tatabläufe schärfer herausgearbeitet. Ich musste mich das eine oder andere Mal disziplinieren, dass ich nicht zu sehr abtauchte. Ich wollte ja Ähnlichkeiten zu unserem Fall finden, was mir abschließend aber nicht gelang. Ich sah mir daher auch die anderen Todesfälle an, die bei der ViCLAS-Auswertung mit herausgespült wurden. Hierzu gehörten die Fälle der Unfalltoten. Der Straßenverkehr forderte dabei oft weniger Opfer, als Unachtsamkeit oder unglückliche Umstände bei der Hausarbeit oder bei der handwerklichen Arbeit im privaten Umfeld, wie es umschrieben wurde. Absturz aus großer Höhe stand ganz oben, noch vor dem elektrischen Schlag. Es gab aber auch tödliche Unfälle mit Arbeits- oder Baumaschinen. Ein Vierundvierzigjähriger aus Volksdorf wurde von einem Kleinbagger zerquetscht. Das Opfer war gerade dabei, auf dem eigenen Grundstück einen Teich auszuheben, als der Bagger umkippte. Der Mann wollte offenbar noch abspringen, hatte es aber nicht mehr ganz geschafft. Wäre er in der Kanzel geblieben, hätte er vielleicht überlebt.

Ich sah auf die Uhr. Ich hatte mich jetzt lange genug mit Bruckners Arbeit beschäftigt. Eine Sache hatte ich allerdings noch nicht überprüft. Ich scrollte wieder an den Anfang des PDF-Dokuments, tippte den Namen des Hotels in das Suchfeld und drückte die Entertaste. Der Fortschrittsbalken zeigte die durchlaufenen Seiten an. Am Ende gab es nur einen Treffer für das Euroham. Es war Bruckners Cold Case. Ich wollte das Dokument schon schließen, als mir einfiel, dass ich es auch mit der Anschrift des Hotels versuchen konnte, oder zumindest mit dem Straßennamen. Ich tippte die Baekstraße ein, und als die Suche schon begann, bemerkte ich meinen Tippfehler. Das e und das r lagen auf der Tastatur nebeneinander. Ich wollte die Suche gerade abbrechen, als das Dokument einen Treffer meldete. Ich ließ es weiterlaufen, es blieb aber bei nur diesem einen Treffer. Ich überschrieb das Suchfeld jetzt mit dem richtigen Namen, Barkstraße. Die Suche lief wieder über den Text, die nach dreißig Sekunden mit dem einen mir bekannten Treffer endete. In der Barkstraße direkt gab es also in den letzten fünfzehn Jahren nur einen einzigen Todesfall und das Opfer war der Unbekannte aus Zimmer Nummer 411. Ich hatte das PDF-Dokument bereits geschlossen, denn es war wirklich schon spät, als mir noch einmal die Baekstraße einfiel. Ich öffnete Google-Maps. In ganz Hamburg gab es keine Baekstraße, nicht einmal in Deutschland.

Alles in Blut

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