Читать книгу Blut und Scherben - Ole R. Börgdahl - Страница 4
Mittwoch - 29. Juli 2015
ОглавлениеDas Klackern der Farbdose hallte zwischen den Baumstämmen wieder. Der Förster hielt inne und überprüfte noch einmal seine Baumansprechung. Dann setzte er einen fast perfekten gelben Kreis auf die hellbraune Rinde der Fichte. Er sah sich um und nahm gleich den nächsten Baum ins Visier. Der Wald stand in diesem Gebiet besonders dicht. Es waren die Versäumnisse der vergangenen zwanzig Jahre, so dass vornehmlich junge Bäume markiert werden mussten, um Licht zu schaffen, um die Zukunft des Waldes zu sichern. Der Forstertrag konnte dabei in keinem Fall üppig ausfallen. Die Holzfäller mussten zudem vorsichtig arbeiten, einen gezielten Einschlag verrichten und würden für die knapp zweihundert Bäume, die der Förster in den letzten Tagen markiert hatte, gut zwei Wochen benötigen.
Der Förster hatte auch die Schichtplätze bereits markiert. Er arbeitete sich aus dem Dickicht, legte zwei Finger in den Mund und gab einen kurzen Pfiff ab. Der junge Münsterländer hatte sich in den letzten zwei Stunden diszipliniert in der Nähe seines Herrn aufgehalten, doch jetzt brach das Leben im Wald durch. Im Revier gab es mehrere Wildschweinrotten. Das Rotwild trat am späten Nachmittag auf die Lichtungen. Der Hund musste einer Fährte erlegen oder einem Geräusch gefolgt sein. Der Förster gab einen zweiten Pfiff ab. Im dichten Wald war nichts auszumachen. Beim dritten Pfiff meldete sich das Tier endlich. Zunächst ein fernes Bellen, das untypisch für den Hund war. Der Förster sah sich um, konnte keine Richtung ausmachen.
Einen guten Kilometer entfernt stand sein Dienstwagen. Auf dem Weg dorthin würde sich der Münsterländer wieder einfinden. Die grasbewachsene Forsttrasse schlängelte sich durch den Wald. Der Pfad war für motorisierte Fahrzeuge zu eng. Seit einigen Jahren wurden ohnehin wieder Lastpferde eingesetzt, um den Holzschlag zu bergen. An diesem Abend war der Boden an einigen Stellen noch weich. In der Nacht und am Morgen waren Gewitter über die Region gezogen. Der Förster musste sich daher auf den Weg konzentrieren, schritt vorsichtig über einige schlammige Bereiche hinweg. Plötzlich stand der Hund vor ihm, senkte den Kopf und legte etwas zu Boden. Es sah nach einem Stück Aas aus, ein kleiner dunkler Knochen, an dem sich Fleischreste erahnen ließen. Es konnte die Beute eines Fuchses sein oder sogar eines Wolfes. Der Wolf war nach Brandenburg zurückgekehrt, aber im Revier bislang noch nicht gesichtet worden.
Der Hund wandte sich abrupt um und wollte zurück in den Wald springen. Mit einem scharfen Pfiff hielt ihn der Förster zurück. Er zog die Leine aus der Jackentasche, beugte sich nach unten und ließ den Karabinerhaken im Halsband des Münsterländers einrasten. Das Tier zog sofort daran. Der Förster gab ein wenig nach, aber nur um sich das Aas näher anzusehen, das der Hund aufgebracht hatte. Er beugte sich tief nach unten, wollte den Knochen aufnehmen, zögerte aber in der Bewegung. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Förster wusste, was dort vor ihm auf dem Boden lag. Der Hund zerrte wieder an der Leine, zog seinen Herrn mit, der jetzt bereitwillig folgte.
Es ging ins Unterholz, durch ein kurzes Stück Wald und auf eine schmale Lichtung. Hier war die Erde durchwühlt. Der geübte Blick des Försters sah sofort die Suhlstelle einer Rotte. Die Klauenspuren der Tiere, die Abdrücke ihrer Körper und verstreute Kothaufen. Der Münsterländer wollte den direkten Weg gehen, der Förster zwang ihn aber, die Lichtung zu umrunden. Das Ziel war sofort ausgemacht. Eine Vertiefung etwas abseits der großen Suhle. Hier hatten die Tiere ebenfalls gewühlt und ein Stück Stoff ausgerissen und nach oben befördert. Der Förster nahm die Leine kürzer. Der Münsterländer machte Platz und hechelte mit Blick auf die durchwühlte Grube, aus der ein süßlicher Geruch aufstieg. Es kam vor, dass Dachse ihre Beute tief vergruben und nicht mehr zu ihrem Aas zurückkehrten. Das, worauf der Förster jetzt blickte, war nicht die Beute eines Dachses. Der Verwesungsgeruch wurde schnell unerträglich, nur dem Hund schien es nichts auszumachen.
*
Es war der siebte Ballen Steinwolle, den Marek Quint die Treppe hinaufschleppte. Es staubte, als er die Schutzfolie aufschnitt und der Ballen sich ausrollte. Er hatte vergessen, den Mundschutz aufzusetzen, holte es sofort nach, konnte aber einen Hustenanfall nicht mehr vermeiden. Er ging zum offenen Fenster und atmete einmal tief durch. Dann ging es wieder. Im Radio wurde gerade ein Song gespielt, den er nicht mochte. Er bückte sich zu dem Apparat und stellte einen anderen Sender ein. »Don’t Stop Me Now« von Queen fand seine absolute Zustimmung. Er suchte nach dem Zollstock und dem breiten Messer. Er fand beides, auch den Schleifstein, mit dem er dem Messer noch einmal Schärfe gab, bevor er mit der Arbeit begann.
Die nächsten drei Maße hatte er im Kopf. Er begann mit dem ersten Schnitt, der so glatt und perfekt war, dass er für die nächsten Schnitte das Radio lauter drehte. Freddie Mercury feuerte ihn an. Er nahm die vorbereitete Bahn und drückte sie zwischen die Balken. Er korrigierte den Sitz noch einmal, dann nahm er die zweite Bahn. Wenn er in diesem Tempo weiterarbeitete, würde er bis zehn Uhr das ganze Zimmer isoliert haben. Er bückte sich und spürte dadurch erst jetzt die Vibration seines Handys, das er in die Gesäßtasche seines Overalls gesteckt hatte. Er richtete sich wieder auf, streifte die Gummihandschuhe ab und fischte das Telefon aus der Tasche. Er sah aufs Display. Es war eine Festnetznummer, die er nicht kannte.
»Hallo?«, sagte er zögerlich.
»Marek? Ich bin es Mia.«
»Mia? Schön, dass du dich meldest. Warte, das Radio.« Er reckte sich zu dem Apparat und drehte die Lautstärke ganz herunter. Adele, die für Freddie Mercury übernommen hatte, verstummte. »So, da bin ich wieder.«
»Was machst du gerade?«, fragte Mia.
»Ich werke ein bisschen am Haus.«
»Störe ich dich?«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, sagte er schnell.
»Na gut, ich muss dir ein kleines Geständnis machen.« Mia zögerte. »Ich bin in Berlin.«
»Ja, seit wann? Wo bist du?« Marek musste sich bremsen, um nicht zu euphorisch zu klingen. »Du solltest dich doch melden, dann kannst du dir das Hotel sparen. Oder bist du nur für einen Tag da?«
»Ich bin nicht im Hotel. Ich habe eine Wohnung hier.« Mia zögerte erneut. »Ich arbeite bereits seit Anfang des Monats in der Verwaltung beim Landeskriminalamt.«
»Seit Anfang des Monats«, wiederholte Marek. »Aber du hattest doch eine Absage.«
»Das ist ja auch richtig«, erklärte Mia. »Das habe ich ja auch geglaubt, aber dann ist jemand abgesprungen, wenn ich das richtig verstanden habe, und man hat mich noch einmal eingeladen.«
»Wann?«
»Ganz kurzfristig. Ich habe natürlich zugesagt. Es hat alles gepasst. Ich konnte sofort anfangen.«
»Sofort anfangen?« Mareks Stimme klang gedämpft.
»Ja, das ging alles so schnell.« Mia räusperte sich. »Ich war so in Action, die Kündigung in Münster ging auch nicht so glatt. Dann der Umzug nach Berlin ...«
»Aber da hätte ich dir doch helfen können«, unterbrach Marek sie.
»Ja schon, aber ich wollte dich auch nicht belästigen. Es musste wirklich ganz schnell gehen. Ich hatte eine Spedition für den Umzug. Da hättest du mir auch nicht viel helfen können.«
»Aber warum hast du mir denn nichts gesagt?«
»Aber ich sage es dir doch jetzt.« Mia schluckte. »Hallo Marek, ich arbeite jetzt in Berlin.«
»Willkommen in der Stadt«, sagte Marek spöttisch.
»Marek, bitte!«, rief Mia. »Ich entschuldige mich ja auch dafür. Es war nicht richtig, dir nichts zu sagen, aber ich bin einfach darüber hinweggekommen. Glaube mir das doch bitte.«
Sie schwiegen einige Sekunden. »Und nun?«, fragte Marek schließlich.
»Ich will es wieder gut machen. Ich lade dich ein. Du hast mir immerhin den Tipp mit der Stelle gegeben.«
»Heute Abend geht es nicht«, sagte Marek schnell. »Ich habe hier noch zu tun und ...«
»Ich dachte nicht an heute Abend«, sagte sie. »Ich fahre morgen noch einmal nach Münster und bleibe übers Wochenende. Wie sieht es nächste Woche bei dir aus. Was ist mit Mittwoch?«
»Mittwoch? Ich weiß nicht.«
»Marek, bitte sei mir nicht mehr böse. Mittwoch, ich lade dich Mittwochabend ins do Brasil ein.«
»Ins do Brasil?« Marek überlegte. »In der Dudenstraße? Gut, das kenne ich.«
»Ja genau. Wir treffen uns gleich nach der Arbeit um sechs oder halbsieben. Du bist mir doch nicht mehr böse, oder?«
Marek biss sich auf die Unterlippe.
»Hallo Marek, was ist denn?«, fragte Mia flehend.
»Nein, ich bin dir nicht mehr böse, bin ich nie gewesen.«
»Oh, danke.« Mia atmete schwer ins Telefon. »Ich rufe noch einmal an, dann machen wir die genaue Uhrzeit aus, ja?«
»Ja.«, antwortet Marek tonlos.
Mia verabschiedete sich. Sie legte auf. Marek starrte das Telefon an. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Er war immer noch verärgert. Und dann fragte er sich, was er denn überhaupt von Mia erwartete. Mia war also in Berlin. Es war das, wozu er sie während ihrer Beziehung in Münster nie überreden konnte. Es war ein eigenartiges Gefühl. Mittwoch, er würde sie am Mittwoch wiedersehen. Er dachte noch einen Moment darüber nach, dann sah er sich auf seiner Baustelle um. Das kleine Zimmer, in dem er heute isolierte, wäre ein gutes Kinderzimmer mit Blick in den Garten.
Er sah zum Fenster und schüttelte den Kopf. Er hatte den Raum schon längst anders verplant. Er wollte ein Arbeitszimmer einrichten, den Eichenschreibtisch aus dem Wohnzimmer heraufschaffen, selbstgemachte Regale montieren, um dort seine Bücher und Zeitschriften unterzubringen. In der Ecke mit der Dachschräge sollte ein Lesesessel stehen, daneben ein Sideboard mit einer Kaffeemaschine. Marek legte das Telefon auf den Stuhl neben der Tür, drehte das Radio auf, lauter als zuvor, und streifte sich die Gummihandschuhe wieder über.
Mike Rosenberg sang »Let Her Go«. Und während Marek die nächsten Zuschnitte vorbereitete, achtete er genau auf den Text des Songs. Der Sender spielte einen guten Mix. Nach drei weiteren Rock- und Pop-Titel kamen die Neun-Uhr-Nachrichten, die Marek allerdings verpasste, weil er Nachschub brauchte. Die Steinwolle lagerte er in seiner kleinen Garage, die nach dem Umbau zwar abgerissen werden sollte, aber derzeit als Materiallager noch unersetzlich war. Er hatte die ersten Partien Steinwolle verbraucht und musste einen Holzstapel umräumen, um an die restlichen Ballen heranzukommen. Es staubte, als ein Bündel Dachlatten, das er innen an die Garagenwand gelehnt hatte, umfiel. Marek fluchte.
»Soll ich dir helfen?«
Marek zuckte zusammen. Er kam aus der Hocke wieder hoch und drehte sich um. Dr. Kerstin Sander stand vor ihm in der Garage.
»Danke«, sagte er lachend, »aber das ist alleine schon schwer genug.«
»Das ist ja sehr motivierend«, sagte sie und lachte ebenfalls. »Wo hast du den Spruch denn her?«
»Weiß ich nicht mehr, ist mir spontan eingefallen. Aber du kannst mir wirklich helfen. Vielleicht kannst du da reingreifen und den Ballen etwas vorziehen, dann brauche ich das ganze Holz nicht wieder aufstapeln und kann oben weiterarbeiten.«
»Das ist nicht gut«, sagte Kerstin. »Auf einer Baustelle muss Ordnung herrschen.«
»Das sagen aber bestimmt nicht die Bauarbeiter«, warf Marek ein.
»Gerade die sagen das. Ich kenne mich aus. Aber egal, lass mal sehen.«
Sie schob sich an Marek vorbei, ging in die Hocke und kroch sogar zwischen dem Holz und einer Palette mit Mörtelsäcken ein Stück in den hinteren Teil der Garage. Sie bekam den Ballen Steinwolle zufassen und zog ihn soweit vor, dass Marek ihn greifen konnte.
»Danke! Du kannst ja alles«, sagte er.
»Du wirst lachen, das stimmt sogar. Isolierst du den Dachstuhl?«
Marek nickte. »Aber ich glaube, für heute mache ich doch lieber Schluss, auch wenn ich dank deines Einsatzes jetzt wieder Nachschub habe. Soll ich dir das Haus zeigen?«
»Gerne, aber ich wollte dich nicht von der Arbeit abhalten. Ich war gerade auf einem kleinen Spaziergang, da fiel mir ein, dass du ja in dieser Straße hier wohnst. Das sind wirklich nur zehn Minuten von meiner Wohnung.«
»Dann bin ich aber traurig, dass du mich nicht schon früher besucht hast.«
Sie lachten und verließen die Garage. Sie machten einen Rundgang durch den Garten. Das Haus stand von der Straße aus etwas nach hinten versetzt. Der Vorgarten war gepflegt. Eine brusthohe Ligusterhecke, dahinter dichte Flieder- und Yasminbäume in einem unkrautfreien Beet. Haus und Beet waren durch ein kurzes Stück Rasen getrennt. Kerstin staunte anerkennend.
»Hier sieht es jedenfalls nicht nach Baustelle aus«, sagt sie.
Marek schüttelte den Kopf. »Das ist nur Fassade. Hinten herrscht das blanke Chaos.«
Marek führte Kerstin durch einen schmalen Gang an der Garage vorbei. Der Garten öffnete sich vor ihnen. Auf der Rückseite des Hauses gab es eine kleine Terrasse, die über der ausgedehnten Rasenfläche thronte. Das Grundstück wurde hinten durch einen mannshohen Holzzaun begrenzt, der gleichzeitig das Außenlager von Mareks Baustelle umschloss. Neben einer wackeligen Gartenhütte türmte sich ein Schuttberg auf. Daneben lagen Holzstapel, von Planen geschützt, und mehrere Paletten mit Kalksandsteinen. Sie überquerten den Rasen. Marek trat neben die Gestelle, auf denen die alten Fenster gestapelt waren. Kerstin hob eine Plane an und prüfte das Holz.
»Warum hast du die nicht gelassen?«, fragte sie.
»Zu viel Arbeit. Das Haus hat ja meinen Großeltern gehört und als Jugendlicher habe ich mir mit dem Streichen der Fenster mein Taschengeld aufgebessert. Malen ist allerdings nicht so mein Ding.«
»Und was machst du jetzt mit denen?«
»Vielleicht setze ich sie ins Internet. Die Verglasung ist noch in Ordnung.«
Kerstin nickte und sah sich weiter um. »Es wäre klüger gewesen, den Schutt vorne zu sammeln. Du bekommst ja lange Arme, wenn du später mal einen Container an der Straße stehen hast und alles mit der Schubkarre hinbringen musst.«
»Der kommt so schnell nicht weg, fürchte ich. Und der wird auch noch wachsen. Vorne würde mich das nur stören.«
Kerstin nickte und nahm sich einen der Kalksandsteine von den Paletten, die neben dem Schuttberg standen. »Verwendest du nur die oder hast du es auch mal mit Porenbetonsteinen versucht?«
Marek schüttelte den Kopf. »Kommt mir nicht ins Haus.«
Kerstin grinste. »Der Spruch könnte von meinem Vater stammen.« Sie legte den Stein zurück und wandte sich dem Haus zu. »Und jetzt möchte ich mal sehen, was du immer so bastelst.«
Sie gingen zurück, stiegen über die kleine Außentreppe auf die Terrasse und durch die Hintertür ins Haus. Marek führte Kerstin herum. Die Durchbrüche, die aus mehreren kleinen Räumen ein großzügiges Wohnzimmer gemacht hatten, waren bereits verputzt. Der Küchenboden war zwar gefliest, an den Wänden fehlte aber noch der Küchenspiegel. Marek erklärte, dass er sich erst zum Schluss eine nagelneue Küche leisten wollte und bis dahin mit den zusammengewürfelten Möbeln und Geräten gut leben konnte. Kühlschrank und Elektroherd standen einsam an einer Wand. In der Mitte des Raumes gab es einen kleinen Esstisch mit zwei Küchenstühlen und an einer anderen Wand mehrere Sideboards für das Geschirr, aber keine Hängeschränke. Das Gäste-WC mit Dusche war schon komplett fertig. Die größte Baustelle war im Obergeschoss zu finden. Die Raumaufteilung war noch ungünstig, wie Kerstin feststellte, aber Marek hatte schon begonnen die eine oder andere Leichtbauwand einzureißen. Ein Zimmer sollte von seiner Größe her so bleiben, wie es war, und hier hatte Marek auch seine Arbeit unterbrochen. Kerstin sah sich alles genau an, stellte Fragen, die Marek nicht erwartet hätte. Sie kannte sich mit Trockenbau aus, wie sie es selbst bezeichnete, und diskutierte mit ihm über den Vorteil von Alufolie gegenüber Kunststoff als Feuchtigkeitssperre für die Dachisolierung.
»Willst Du etwas trinken?«
Sie hatten das Haus wieder verlassen. Marek rückte die beiden Gartenstühle zurecht, die er auf seiner Terrasse stehen hatte.
»Vielleicht einen Wein?«, fragte er. »Ich habe Weißwein da.«
Kerstin nickte. »Weißwein wäre prima.«
Sie setzte sich, während Marek wieder im Haus verschwand. Er kam aber sofort zurück, stellte zwei Gläser, die Weinflasche und eine Schale mit gewürfeltem Käse auf den Gartentisch. Er schenkte ihnen ein und setzte sich ebenfalls. Kerstin nahm sich ein Stück Käse und nippte dann an ihrem Wein.
»Der ist gut«, sagte sie.
»Das freut mich.« Marek lächelte. »Dann musst du mir jetzt aber auch erzählen, woher du so viel vom Bau verstehst.«
»Hattest du den Eindruck?«, fragte Kerstin. Sie zögerte kurz. »Mein Vater hat in Dortmund eine kleine Baufirma. Drei, vier Angestellte, im Sommer ein paar mehr. Ich bin auf dem Bau großgeworden.«
»Großgeworden?«, wiederholte Marek. »Kannst du auch eine anständige Mauer hochziehen?«
»Was verstehst du unter anständig?«
»Naja, nicht so wie es bei mir hinterher aussehen würde.« Marek deutete zum Haus. »Wie du gesehen hast, habe ich bisher nur gerissen, aber wenn ich neue Innenwände ziehen muss, werde ich wohl vor einer ziemlichen Herausforderung stehen.«
»Ich könnte es dir zeigen«, schlug Kerstin vor. Sie lächelte und holte ihren Autoschlüssel hervor. Sie deutete auf den Schlüsselanhänger. »Den bekommt man nur, wenn man eine anständige Mauer hochziehen kann.« Sie grinste wieder.
Marek beugte sich vor und betrachtete den Anhänger. Es war eine runde Marke mit der Aufschrift »MAURER« und einer Bildgravur auf weißem Hintergrund, die einen Kelle schwingenden Maurer und eine halbfertige Ziegelsteinmauer darstellte.
»Beeindruckend«, sagt Marek schließlich. »Ist das wie ein Gesellenbrief?«
Kerstin lachte und schüttelte den Kopf. »Mein Vater hätte es sich gewünscht, wenn ich nach der Schule erst den Beruf mit Brief und Siegel erlernt hätte, aber ich hatte andere Pläne. Er hat mir zwar alles beigebracht, was ein Maurer wissen muss, aber den Schlüsselanhänger habe ich für den bestandenen Führerschein bekommen.«
»Einen Führerschein habe ich auch«, betonte Marek.
»Aber du kannst keine Mauer hochziehen«, erwiderte Kerstin und stopfte ihren Autoschlüssel wieder in die Hosentasche zurück.
»Dann musst du es mir zeigen. Oder besser, ich engagiere dich.«
Kerstin wollte gerade etwas erwidern, als es aus Mareks Overall vibrierte. Er holte das Telefon hervor und blickte grimmig auf das Display. Dann sah er Kerstin an.
»Verdammt, ich könnte jetzt sagen, dass ich schon zu viel Wein intus habe.« Er schüttelte den Kopf und nahm das Gespräch an.
Kerstin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und trank noch einen Schluck.
Marek hörte dem Anrufer zunächst zu. »Reicht es denn nicht, wenn zwei Mann vor Ort sind«, sagte er schließlich »Ich weiß ja auch, dass Ulrich nicht da ist.« Marek nickte auf das, was gesprochen wurde. »Was, Tremmel besteht darauf, dass ein Verantwortlicher des Erkennungsdienstes dabei ist. Das ist ja dusselig. Was mischt der sich in unsere Arbeit ein.« Marek hörte wieder zu. »Gut, gut, ich habe auch keine Lust mit Tremmel zu diskutieren. Ich komme.«
Marek legte auf und sah Kerstin resigniert an.
»Was gibt es?«, fragte sie.
»Leichenfund. Ein Grab im Wald. Ich weiß auch nicht wo genau. Ich treffe Torsten und Hans am Tempelhofer Damm und dann fahren wir gemeinsam hin.«
»Ein Grab im Wald?«, wiederholte Kerstin. Sie überlegte. »Pohlmann hat Bereitschaft.«
Marek hatte sich bereits erhoben. »Du kannst doch noch bleiben, trink deinen Wein in Ruhe aus. Sorry, ich hätte gerne noch ...« er unterbrach sich kurz. »Oder willst du mitkommen?«
Kerstin schüttelte den Kopf. »Ich habe heute frei, außerdem Pohlmann ...« Sie schüttelte noch einmal den Kopf. »Wenn ich da aufkreuze, wird es ihm ganz bestimmt nicht gefallen.« Sie erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl. »Ich kann hier noch aufräumen, wenn es dir recht ist.«
Marek lächelte. »Aber mit der Mauer beginnst du erst, wenn ich wieder zurück bin.«
*
Marek hatte die Vorschläge seines Navis ausgiebig studiert und dann mit Torsten Regener und Hans Schauer telefonisch vereinbart, dass sie sich zunächst im Industriepark Ludwigsfelde treffen wollten. Marek brauchte von Frohnau aus fast eine Stunde bis dorthin. Als er schließlich auf einem kleinen Parkplatz neben dem wartenden Einsatzfahrzeug des Tatorterkennungsdienstes zum Stehen kam, gab Torsten sofort Zeichen, direkt weiterzufahren. Marek folgte dem Transporter. Sie verließen das Industriegebiet, fuhren auf der Bundesstraße Richtung Nuthetal und nach wenigen Kilometern auf kleineren Straßen in ein dichtes Waldgebiet hinein. An einer Polizeiabsperrung vor einem Forstweg mussten sie endgültig anhalten.
Sie streiften sich ihre weißen Overalls über, nahmen die Koffer mit ihrer Ausrüstung und folgten zwei uniformierten Kollegen. Nach ein paar Hundert Metern deutete ein rot-weißes Absperrband an, wo sie den Forstweg verlassen mussten. Hans beschwerte sich bereits, aber einer der Uniformierten versicherte, dass sie den Leichenfundort gleich erreicht hätten. Als sie schließlich am Rand der kleinen Lichtung standen, atmete Hans hörbar aus, und ließ seine beiden Koffer auf den feuchten Waldboden fallen. Der Leichenfundort war ebenfalls mit dem rot-weißem Absperrband markiert worden. Marek hatte den Sack mit den Gummistiefeln getragen und verteilte je ein Paar an Torsten und Hans.
»Das wird dann ja wohl eine Schlammschlacht«, sagte Hans, während er sich in seinen rechten Gummistiefel quälte.
Marek wandte sich an einen der Streifenpolizisten, der sie geführt hatte. »Sind die Ermittler schon da?«
Der Mann nickte. »Tremmel und Arnold waren hier, sind dann aber wieder weg. Der Förster, der den Fund gemeldet hat, konnte natürlich nicht so lange warten. Die sind jetzt zu dem hin.«
»Und was ist mit KOK Leidtner?«, fragte Marek.
»Kenne ich nicht, ist der auch bei Tremmel?«
Marek nickte. Seit zwei Monaten war die Einheit Kowalski, wie Ulrich Roose sie immer bezeichnete, vorübergehend aufgelöst. Marek hatte man eine sogenannte Karriereversetzung angeboten. Er sollte unter Ulrich Rooses Führung die Methoden und Arbeitspraktiken des Tatorterkennungsdienstes aus nächster Nähe kennenlernen, und zwar als Ulrich Rooses Stellvertreter. Es sollte eine befristete berufliche Neuorientierung sein, so hatte sich zumindest einer der Referenten des Polizeipräsidenten ausgedrückt. Wie lange diese Befristung andauern würde, ließ der Referent allerdings offen. Marek hatte es nicht schlecht getroffen. Er war zu Beginn noch skeptisch, aber dann hatte sich Ulrich Roose als guter Chef erwiesen und Marek fand Gefallen an der neuen Arbeit und der neuen Sichtweise auf die Kriminalfälle an denen der Tatorterkennungsdienst beteiligt war.
Für Thomas Leidtner sollte sich nach dem Ende ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit eigentlich nicht so viel ändern, denn er wurde innerhalb des LKA 1, Abteilung Gewalt am Menschen, lediglich in eine andere Operative Einheit versetzt. Die Ermittlergruppe von Kriminalhauptkommissar Werner Tremmel war Mitte des Jahres durch gleich zwei Pensionierungen dezimiert worden, so dass Thomas’ Versetzung zum richtigen Zeitpunkt kam. Marek hatte von Thomas allerdings gehört, dass KHK Tremmel zwar den Zeitpunkt, aber nicht den ihm zugewiesenen Ermittler als richtig empfand, was die Zusammenarbeit nicht vereinfachte. Noch schien Thomas daran zu glauben, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und Werner Tremmel bessern könnte, zumal sich Thomas mit seinem Kollegen Patrick Arnold recht gut verstand.
Das Funkgerät des Streifenpolizisten knackte. Der Kollege am improvisierten Parkplatz kündigte einen weiteren Besucher an. Die Gerichtsmedizin war eingetroffen. Marek hörte, dass sich Dr. Pohlmann zu ihnen auf den Weg machte. Unter Mareks Gummistiefeln hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Mit einem schmatzenden Geräusch setzte er sich in Bewegung und folgte Torsten und Hans an den Rand des Leichenfundortes. Dr. Pohlmann würde noch warten müssen, bis sie die Spurenlage am Fundort gesichert hatten.
Hans verzog das Gesicht. Marek nahm ebenfalls den Verwesungsgeruch wahr, der Torsten nichts auszumachen schien. Er hatte bereits seinen Fotoapparat zur Hand und begann die ersten Bilder vom Fundort aufzunehmen.
Hans stellte sich auf seine Position. »Würde sagen, wir suchen einen inneren Radius von drei Metern ab.«
Er hatte eine kleine Hacke, mit der er über die Grasreste strich und vorsichtig den Boden bearbeitete. Er vermied es näher an den Mittelpunkt der Vertiefung heran zu gehen, den Torsten weiter abfotografierte. Er bückte sich, um einige der Wildspuren aus unmittelbarer Nähe aufzunehmen. Zum Schluss widmete sich Torsten noch dem Arm und der Hand, die aus dem Schlamm ragten.
»Dem fehlen drei Finger«, stellte er fest.
»Der Hund«, rief ihnen der Streifenpolizist vom Rande der Lichtung zu. »Wir haben auf dem Feldweg noch ein Objekt markiert. Der Hund des Försters hat dort einen Mittelfinger oder so abgelegt.«
»Mittelfinger? Woher wissen Sie das«, entgegnete Hans.
»Das sieht man doch«, rief der Streifenpolizist.
»Jedenfalls fehlen kleiner Finger, Ringfinger und Mittelfinger.« Torsten hatte sich über den schlammigen Handstumpf gebeugt. »Und zwar am rechten Arm«, ergänzte er.
»Sag ich doch, Mittelfinger.« Der Streifenpolizist räusperte sich.
Marek trat neben Torsten und beugte sich ebenfalls herunter. »Ist denn der Körper noch dran?«
Torsten kannte keine Scheu. Er hängte sich den Fotoapparat über den Rücken, griff den Arm unterhalb des Handgelenks und zog vorsichtig. »Da hängt noch jemand dran, eindeutig.«
Marek erhob sich wieder und musste zur Seite Luft holen. Der Leichengeruch stieg ihm bereits in den Kopf. Am Rande der Lichtung erschien ein weißer Overall. Dr. Pohlmann blickte sich um. Obwohl er bereits Gummistiefel trug, suchte er nach einem sicheren Weg zum Ort des Geschehens. Er achtete umständlich auf jeden Schritt und kam langsam auf die drei Erkennungsdienstler zu.
»Guten Abend«, grüßte er erst jetzt.
Es klang etwas schroff, aber Marek ignorierte Dr. Pohlmanns offenbar schlechte Laune und begann sofort mit dem Briefing.
»Wir sind auch eben erst eingetroffen und konnten daher noch nicht viel ausrichten, aber diesmal ist es wohl egal, weil sie beim Bergen der Leiche schon Hand anlegen können.«
»Ist das nicht nur ein Arm?«, fragte Dr. Pohlmann und sah an Marek vorbei in die Vertiefung.
Torsten wiederholte seine Zugprobe. Dr. Pohlmann nickte, trat einen Schritt näher und stellte ebenfalls das Fehlen der drei Finger fest.
»Einer wurde noch gefunden«, erklärte Marek und deutete hinter sich. »Der soll auf dem Feldweg liegen. Vielleicht schauen Sie sich den als erstes an. Inzwischen kann der Kollege Regener ein bisschen vorarbeiten.«
»Hätten Sie das nicht gleich sagen können.« Dr. Pohlmann schüttelte den Kopf. »Jetzt kann ich mich wieder durchs Gestrüpp quälen.«
Marek zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen um. Dr. Pohlmann folgte ihm widerwillig. Torsten und Hans sahen sich kurz an, nahmen dann aber wieder ihre Arbeit auf. Torsten verstaute den Fotoapparat in seinem Koffer und holte sich dafür einen kleinen Spaten.
Marek und Dr. Pohlmann mussten etwa fünfzig Meter über den Feldweg gehen, um die Stelle zu erreichen, an der ein Beamter das Objekt bewachte, das mit einem Fähnchen aus dem rot-weißen Absperrband markiert war. Sie gingen in die Hocke. Der Mittelfinger war eindeutig menschlich. Der Fingernagel hatte sich dunkel verfärbt, die Haut am Finger war etwas heller, sah aber schwammig aus. Am Fingerstumpf schaute der Knochen hervor, flankiert von unregelmäßig geformten Haut- und Fleischfasern.
»Den soll der Hund des Försters hier abgelegt haben«, kommentierte Marek.
Dr. Pohlmann nickte. »Man kann die Zahnabdrücke sehen.« Er deutete auf das Objekt. »Glauben Sie, dass der Hund die Leiche ausgegraben hat?«
Marek zuckte mit den Schultern. »Kollege Regener hat Fotos von der Fundstelle gemacht. So wie es aussieht ist da alles Mögliche durchgelaufen, vor allem die Wildschweine.«
»Welche Wildschweine?«, fragte Dr. Pohlmann. Er hatte einen Plastikbeutel hervorgeholt und tütete den Mittelfinger ein. Dann wandte er sich dem Beamten zu. »Können Sie das zu meinem Wagen bringen und in eine der Kühlboxen legen?«
Der Uniformierte nickte und nahm den Plastikbeutel zögernd entgegen. Dr. Pohlmann erhob sich und sah Marek wieder an.
»Also, welche Wildschweine?«
»Die Suhle. Auf der Lichtung befindet sich eine Wildschweinsuhle«, erklärte Marek. »Es liegt also nahe, dass die Wildschweine an der Leiche dran waren.«
»Machen Wildschweine so etwas?« Dr. Pohlmann runzelte die Stirn.
»Ich bin kein Biologe, aber vielleicht kann uns der Förster das erklären.«
Dr. Pohlmann schüttelte den Kopf. »Den Förster brauche ich dazu nicht. Ich lasse die Bissspuren bei der Obduktion untersuchen.«
»Na dann«, sagte Marek und wandte sich zum Gehen.
Sie kehrten zur Lichtung zurück. Torsten hatte bereits einiges der Erde abgetragen, ohne zu dicht an den im Schlamm steckenden Körper heranzugehen. Hans hatte die Erde durchsiebt, aber keine Objekte gefunden, die für die Spurenlage von Interesse waren. Die Hauptarbeit lag noch vor ihnen.
*
Kriminalhauptkommissar Werner Tremmel schnaubte verächtlich. »Was ist das denn hier für ein Volksauflauf?«
Etwa zwanzig mit orangen Warnwesten bekleidete Bereitschaftspolizisten durchstreifen den Wald links und rechts vom Feldweg.
»Das hat der Kollege Quint vom Erkennungsdienst angeordnet«, berichtete Kriminaloberkommissar Patrick Arnold seinem Chef.
»Quint? Ich will Roose sprechen. Die sollen sich um die Leiche kümmern.« Werner Tremmel fingerte nach einer Zigarette aus der halbvollen Marlboropackung und zündete sie sich an.
»Der Kollege Roose hat Urlaub«, erklärte Patrick Arnold. »Quint leitet heute den Einsatz des Erkennungsdienstes und Dr. Pohlmann untersucht die Leiche.«
»Pohlmann, das ist gut«, sagte Werner Tremmel.
Sie verließen den Feldweg und kamen nach wenigen Metern auf die Lichtung. Werner Tremmel nahm noch ein paar hastige Züge von seiner Zigarette, löschte dann die Glut und verstaute den Filter in eine kleine Metallbox, die er immer bei sich trug. Marek wurde auf die Neuankömmlinge aufmerksam. Werner Tremmel hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf.
»Wer kann mir was sagen«, begann er sofort und schob Torsten Regener zur Seite, um einen Blick auf die jetzt ausgehobene Grube zu werfen. Er verzog kurz das Gesicht und wandte sich gleich an Dr. Pohlmann.
»Männlicher Toter, zirka dreißig bis vierzig Jahre alt. Über die Todesursache kann ich noch keine Angaben machen. Es liegt allerdings eine Fraktur der Halswirbelsäule vor. Ob und wie dabei die Nervenbahnen ebenfalls betroffen sind, kann ich erst bei der Obduktion abklären. Grobe äußere Verletzungen, wie Schusswunden oder Messerstiche konnte ich bei dieser ersten Beschau noch nicht feststellen.«
»Ihm wurde also das Genick gebrochen«, unterbrach Werner Tremmel Dr. Pohlmann, der sofort die Hand hob.
»Da bitte ich die Obduktion abzuwarten. Wie gesagt, voraussichtlich keine Schusswunden oder Messerstiche, aber der Leiche fehlen drei Finger an der rechten Hand. Der Mittelfinger konnte sichergestellt werden. Kleiner Finger und Ringfinger wurden in unmittelbarer Umgebung des Leichenfundortes nicht aufgefunden. Ich vermute Wildfraß.«
Marek wusste, dass der Begriff Wildfraß etwas ganz anderes bedeutete, aber es schien Werner Tremmel nicht aufgefallen zu sein.
»Sie sprechen von Raubtieren?«, fragte Tremmel stattdessen. »In Brandenburg soll es ja neuerdings wieder Wölfe geben.«
»Oder es waren die Wildscheine.« Dr. Pohlmann deutete hinter sich auf die Lichtung.
»Schrecklicher Gedanke.« Werner Tremmel schüttelte sich demonstrativ. Er überlegte kurz, blickte dabei noch einmal auf den Körper, der mittlerweile auf einer blauen Plane neben der ausgehobenen Grube lag. »Und was können Sie mir zum Todeszeitpunkt sagen?«
»Das ist natürlich im Moment sehr schwer einzuschätzen.« Dr. Pohlmann atmete hörbar aus. »Der Körper liegt jedenfalls nicht länger als zwei Jahre in der Erde. Es kommt natürlich auch auf die Beschaffenheit des Bodens an. Da spielen bei der Verwesung mehrere Faktoren eine Rolle.«
»Zwei Jahre«, wiederholte Werner Tremmel.
»Höchstens«, betonte Dr. Pohlmann. »Ich werde mich natürlich mit Experten in unserem Institut beraten, um genauere Angaben machen zu können.«
Marek dachte sofort an Kerstin, die große Erfahrungen mit exhumierten Leichen hatte. Er sprach es allerdings nicht aus, weil ihn etwas anderes an Dr. Pohlmanns Bericht wunderte. Der Tote hatte einen Ausweis bei sich und Dr. Pohlmann kannte bereits das Geburtsdatum. KHK Werner Tremmel schien zumindest mit Dr. Pohlmanns Aussagen zufrieden zu sein und daher wandte er sich jetzt an Hans Schauer, der nach Ulrich Roose der älteste im Tatorterkennungsteam war.
»Was können uns denn die Kollegen von der Spurensicherung zum Leichenfund mitteilen?«
»Sicherlich eine ganze Menge«, antwortete Hans und deutete auf Marek.
Werner Tremmel hatte verstanden und wandte sich zu Marek um. »Wann kommt denn Kollege Roose wieder aus seinem wohlverdienten Urlaub zurück?«
»Übermorgen. Wenn sie solange warten wollen«, erwiderte Marek.
»So ein Quatsch«, zischte Werner Tremmel. »Also, KK Quint lassen Sie schon hören.«
»Sehr gerne. Das Wichtigste, der Tote hatte Papiere bei sich, Personalausweis und Führerschein. Sein Name ist Ken Börder, 36 Jahre alt, wohnhaft in Berlin.«
»Na da lagen Sie ja richtig, Herr Dr. Pohlmann«, unterbrach Werner Tremmel Mareks Ausführungen.
Dr. Pohlmann nickte nur, gab aber keine Erklärung ab. Marek wartete noch ein, zwei Sekunden und fuhr dann fort.
»Neben den Papieren haben wir in der Brieftasche des Toten noch eine erhebliche Menge Bargeld gefunden. Die Scheine sind soweit unversehrt. Es handelt sich um zweitausendeinhundertzweiunddreißig Euro und siebenundvierzig Cent.«
»Hoppla, das ist ja ein kleines Vermögen.« Werner Tremmel ließ einen Pfiff hören. »Und das Geld befand sich in der Brieftasche und nicht am Körper versteckt?«
»Alles in der Brieftasche«, bestätigte Marek. »Zwei Fünfhundert-Euro-Scheine, zehn Hunderter, zwei Fünfziger, ein Zwanziger und zwölf Euro siebenundvierzig in Münzen. Wir haben Kleidung und Körper abgesucht, aber kein weiteres Bargeld gefunden. Dafür aber einen Schlüsselanhänger in Form eines Boxhandschuhs, an dem aber nur ein einziger Schlüssel hing. Der Schlüssel könnte zu einem Haus oder einer Wohnung passen, Marke des Schlüssels ABUS ohne weitere Markierungen oder einem Adressschild.«
Werner Tremmel nickte. »So einfach macht man uns die Ermittlungen nicht, aber wir haben ja Namen und Adresse des Toten. Was haben Sie noch?«
»Der Tote trug eine Armbanduhr am linken Handgelenk. Einfaches Lederarmband, Marke der Uhr ist noch unbekannt.«
»Keine Rolex?«, fragte Werner Tremmel und lachte. »Würde ja zur Menge der Kohle passen.«
»Soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich nicht um eine Rolex«, bestätigte Marek. »Wir haben bis jetzt überhaupt keinen Markennamen auf dem Uhrenkörper gefunden. Außerdem ist die Uhr stark verschmutzt. Wir werden sie im Labor noch einmal untersuchen.«
»Wie steht es mit der Kleidung?« Werner Tremmel warf erneut einen Blick auf die Leiche.
»Blaue Jeans, schwarze Lederjacke der Marke Kendo, dunkelblaues Baumwollhemd kariert der Marke McEarl, ehemals weiße Turnschuhe von Puma, schwarze Sportsocken ebenfalls von Puma. Unterhemd weiß und Unterhose schwarz beide von Canda.«
»Canda?«, fragte Werner Tremmel.
»Das ist eine Eigenmarke des Bekleidungsunternehmens C&A Mode GmbH & Co. KG«, meldete sich Patrick Arnold.
»Ach, Brenninkmeijer«, stellte Werner Tremmel fest.
Marek ging nicht darauf ein. Er fuhr fort. »Die Kleidung, die Brieftasche, das Geld, der Ausweis, der Führerschein und die Uhr gehen zur Kriminaltechnik. Für die DNA-Analyse bekommt Dr. Pohlmann die Sachen dann aber später noch einmal zurück.«
»Was ist mit einer Kreditkarte, mit Bankkarten, Rabattkarten, war außer dem Bargeld noch etwas anderes in der Brieftasche des Toten?«
»Nein, nichts von dem, was sie aufgezählt haben«, erklärte Marek.
»Dann bedanke ich mich recht herzlich«, sagte Werner Tremmel, aber es klang nicht so, als wenn er es auch so meinte.
Marek nickte.
Dann hatte Werner Tremmel aber doch noch eine Frage. »Was ist mit dem Suchtrupp? Haben die schon etwas gefunden, vielleicht die fehlenden Finger?«
»Die Leute sind auch eben erst eingetroffen«, antwortete Marek. »Das Gebiet ist groß und die Bereitschaftspolizei konnte mir heute Abend nur zwanzig Mann zur Verfügung stellen. Außerdem wird es gleich dunkel, so dass wir die Suche morgen weiterführen müssen. Wir werden auch die Suhle und die Grube, in der die Leiche lag, noch einmal durchsieben. Sie werden natürlich über alles informiert, was wir noch finden.«
»Ich erwarte nichts anderes.« Werner Tremmel lächelte.
Dann erschienen die Sargträger am Rande der Lichtung. Marek sah Werner Tremmel an, der die Erlaubnis geben musste, die Leiche abzutransportieren. Werner Tremmel nickte schließlich und gab den Männern Zeichen. Torsten Regener und Hans Schauer packten ihre Ausrüstungen zusammen, machten den Sargträgern Platz. Werner Tremmel war Dr. Pohlmann zurück auf den Feldweg gefolgt. Patrick Arnold blieb noch auf der Lichtung, bis die Leiche eingesargt war. Marek nutzte die Gelegenheit.
»Und, hat Thomas heute dienstfrei, oder warum seid ihr nur zu zweit hier aufgekreuzt?«
Patrick zuckte mit den Schultern. »Einer muss ja die Stellung halten. Thomas macht Innendienst, könnte man so sagen.«
»Wollte der Alte ihn nicht mitnehmen?«, fragte Marek ganz direkt.
Patrick zuckte erneut mit den Schultern. »Kannst ihn ja mal fragen.«