Читать книгу Blut und Scherben - Ole R. Börgdahl - Страница 5

Donnerstag - 30. Juli 2015

Оглавление

»Die findest du nicht im PlayStore«, erklärte Patrick Arnold kopfschüttelnd. »Und auch sonst nirgends im Netz.«

»Darknet?«, fragte Thomas überrascht.

»So ähnlich. Ich habe sie von einem Kollegen aus dem Betrugsdezernat. Gib mir mal dein Handy.«

Thomas reichte es ihm und Patrick stöpselte das Smartphone an seinen Rechner und wartete, bis das Telefon erkannt wurde.

»Jetzt muss man nur noch den Schutz umgehen und die App direkt auf die Speicherkarte laden.« Patrick verschob mit einigen Klicks eine Programmdatei auf Thomas’ Handy. »Das Gute ist nun, dass die App auf dem Gegenstück nicht installiert sein muss.«

»Auf dem Gegenstück?«, fragte Thomas.

»Ja, zum Beispiel auf meinem Telefon. Ich habe die App natürlich wieder deinstalliert.«

»Natürlich«, sagt Thomas betont.

Patrick nickte grinsend, verließ den Raum, ging in das Nebenbüro, in dem gerade niemand saß, drehte dort das Radio auf und legte sein eigenes Smartphone daneben. Dann kehrte er in ihr gemeinsames Büro zurück.

»So, erst einmal habe ich mein Telefon ausgeschaltet, das kann die App nämlich auch, also Kontakt zu einem stummen Handy aufnehmen.«

Patrick nahm Thomas’ Smartphone, öffnete die App und zeigte ihm das Display. »Hier die Nummer eintippen und auf OPERATE drücken.«

Die App brauchte ein paar Sekunden, dann blinkte Patricks Handynummer im Display auf.

»Und jetzt hier nur noch das Lautsprechersymbol drücken.«

Patrick tat es und im selben Moment waren die 16:00 Uhr Nachrichten des rbb zu hören.

»Das Beste ist aber, dass man auf meinem Handy im Nebenraum jetzt gar nichts sehen kann.«

Patrick und Thomas verließen das Büro und gingen in den Nebenraum. Thomas nahm Patricks Telefon vom Tisch und konnte tatsächlich nicht erkennen, ob es aus- oder doch eingeschaltet war. Patrick schaltete die App auf Thomas’ Handy aus, da bereits eine Rückkopplung der noch laufenden Radiosendung nachhalte.

»Und was jetzt passiert, ist auch nicht schlecht«, erklärte Patrick weiter. »Mit Beenden der App wird auch mein Handy ausgeschaltet, wenn die App es vorher einschalten musste. Und während des Abhörens nimmt die App bei Bedarf natürlich alles auf.«

»Darknet sagtest du.« Thomas nickte anerkennend.

»So etwas Ähnliches wie Darknet. Die App ist jedenfalls illegal, aber das hindert ja niemanden daran, sie sich zu installieren.«

»Und was kann man dagegen tun?«, fragte Thomas.

»Es gibt ein Gegengift.«

Sie gingen zurück in ihr Büro. Patrick stöpselte diesmal sein Smartphone an den Rechner an und installierte ein Programm. Dann schaltete Thomas auf seinem Handy die Abhör-App erneut ein. Sie sahen gebannt auf Patricks Telefon, das ausgeschaltet vor ihnen lag.

»Jetzt müsste sich mein Handy ja eigentlich einschalten«, kommentierte Patrick.

»Sehen kann man jedenfalls nichts«, stellte Thomas fest.

Es dauerte ein paar Sekunden. Plötzlich erhellte sich das Display und ein Warnton schrillte durch den Raum.

»Volle Lautstärke«, sagte Thomas.

»Das hat die Gegen-App eingestellt. Du weißt jetzt, dass sich jemand aufschalten wollte, Betonung liegt auf wollte. Die Gegen-App kann aber noch mehr.« Patrick deutete auf das Display, auf dem Thomas’ Handynummer erschien. »Sie zeigt auch den vermeintlichen Feind gleich mit an.«

Thomas nickte. »Erst haben alle die Abhör-App, dann verbreitet sich die Gegen-App und der Vorteil ist dahin.«

»Aber dann gibt es irgendwann eine verbesserte Abhör-App«, skizzierte Patrick, »die natürlich eine verbesserte Gegen-App nach sich zieht, und so geht das immer weiter.«

»Muss ich die Abhör-App jetzt löschen?«, fragte Thomas.

»Selbstverständlich«, antwortete Patrick grinsend und stöpselte Thomas’ Handy erneut an den Computer an. »Jetzt gibt es aber erst einmal die Gegen-App, die ist höchst legal. Was du dann mit der Abhör-App machst, ist wahrscheinlich nicht legal, mir aber völlig egal, so lange du die Klappe hältst.«

»Das kann ich am besten.«

In diesem Moment klingelte Thomas’ Handy. Es war nicht die schrille Warnung der Gegen-App, sondern die Glocken und die ersten Takte des Songs »Hells Bells« von AC/DC, Thomas’ Klingelton. Er sah aufs Display und hob den Finger.

»Das ist mein Kontakt beim Personenerkennungsdienst.«

Thomas setzte sich an seinen Schreibtisch, Patrick zog sich einen Stuhl heran. Dann nahm Thomas das Gespräch an.

»Hallo Lars, ich stelle dich mal auf laut, der Kollege Arnold soll mithören.«

»Tag zusammen«, meldete sich Lars Meier. »Sitzt ihr am Rechner, ich schicke euch gerade eine Mail.«

Thomas berührte die Computermaus, der Bildschirm erwachte und zeigte wenige Sekunden später einen Maileingang an.

»Ja, ist angekommen«, bestätigte er.

»Also das ist nur die Zusammenfassung zum Nachlesen, aber du kannst das Dokument mal öffnen, während ich euch die Fakten über diesen Ken Börder mitteile.«

»Gut, habe es schon geöffnet. Du kannst loslegen.«

»Dann gleiche ich zuerst die persönlichen Daten ab. Geboren am 3. Mai 1979 in Würzburg, unverheiratet, keine lebenden Angehörigen ersten Grades, zuletzt wohnhaft in Berlin-Charlottenburg, in der Bunger Allee 17.«

»Stimmt, das ist unser Mann«, bestätigte Patrick.

»Ken Börder, genannt Kenny«, fuhr Lars fort. »Zwischen 1993 und 1996 einige polizeiliche Aktenvermerke, die allerdings wieder gelöscht wurden. Da hat es ein Jugendrichter gut gemeint.«

»Und woher weißt du das, wenn es wieder gelöscht wurde?«, fragte Thomas.

»Löschen ist nicht gleich löschen. Natürlich dürfen solche gelöschten Aktenvermerke in einem Gerichtsverfahren nicht verwendet werden, bleiben aber in unserer digitalen Welt erhalten. Für unseren Mann war das auch ganz gut so, also das mit dem Löschen. Nach einer Ausbildung zum Speditionshelfer hat er sich ja in den Jahren 1997 bis 2001 bei der Bundeswehr verpflichtet. Nach seinem Ausscheiden hat er aber anscheinend seinen Halt verloren und alte Muster kamen wieder durch. Jedenfalls ist Ken Börder seit 2003 endgültig vorbestraft, ohne dass noch einmal ein Richter eingegriffen hat. Danach gab es bis zum Jahr 2014 mehrere Anzeigen und Verurteilungen.«

»Was waren das für Delikte?«, fragte Thomas.

»Ich habe da eine ganze Liste unterschiedlicher Straftaten. Anfangs waren es vor allem Drogen. Schmuggel von Holland nach Deutschland hier ging es vor allem um Cannabis, in einigen Fällen aber auch um Kokain. Hieraus resultierten auch mehrere Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.«

»War Ken Börder selbst drogenabhängig?«, fragte Patrick. »Oder hatte er Alkoholprobleme?«

»Aus den Unterlagen geht nicht hervor, ob Ken Börder die geschmuggelten Drogen selbst konsumiert hat. Die Anzeigen gegen ihn beziehen sich eher auf den illegalen Verkauf. Vielleicht könnte bei den anderen Delikten Alkohol eine Rolle gespielt haben.«

»Wir hören!«, sagte Thomas.

»Ken Börder war in Berlin auch als Türsteher und Schuldeneintreiber bekannt. Er war mehrmals in Schlägereien verwickelt. Es gab Anzeigen wegen zum Teil schwerer Körperverletzung. Da hat Alkohol sicher eine Rolle gespielt, weil Ken Börder nämlich niemals zu einer Gefängnis-, sondern immer nur zu Geldstrafen verurteilt wurde. Das hat sich erst im Jahre 2009 geändert, da hat unser Mann nämlich ein mittelschweres Ding gedreht.«

»Was heißt mittelschwer?«, fragte Patrick.

»Einbruchsversuch, allerdings wurde die Tat als schwerer Einbruch gewertet, weswegen es auch zu einer Haftstrafe gekommen ist.«

»Wo hat er eingesessen?«, fragte Thomas.

»In der JVA Tegel, hat Glück gehabt, Gefangene ohne familiäre Bindungen nach Berlin werden ja oft in anderen Bundesländern inhaftiert. Nach der Haftentlassung hat sich Ken Börder aber nicht gebessert. Sein Name tauchte immer wieder im Zusammenhang mit Straftaten auf. Wieder im Spiel Körperverletzung und Drogen. Es kam aber erst 2012 erneut zu einer Verurteilung mit anschließender sechsmonatiger Haft. Ken Börder hat diese zweite Haftstrafe ebenfalls in Tegel abgesessen. Diesmal ging es um Hehlerei von Diebesgut aus Wohnungseinbrüchen. Ihm konnte zwar eine Tatbeteiligung nicht nachgewiesen werden, aber dem Richter reichte wohl die Tatsache, dass Ken Börder schon länger im Geschäft und vor allem durchweg auffällig war. Das Urteil des Richters wurde bestätigt, weil Ken Börders Name auch 2013 und 2014 nicht aus den Akten verschwand, wobei der Mann erneut Glück gehabt hat, weil es zu keiner Anklage gekommen ist. Nach 2014 ist dann allerdings die kriminelle Energie verloschen.«

»Wie Ken Börder selbst auch«, stellte Patrick fest.

»So könnte man es sagen«, bestätige Lars.

»Was ist über Komplizen von Ken Börder bekannt, oder war er Einzeltäter?«, fragte Thomas.

»Ganz und gar nicht«, sagte Lars. »Es gibt eine ganze Liste von Komplizen.«

»Hast du Namen?«

»Selbstverständlich! Söhnke Robrak, 43 Jahre alt, Thomas Abichner, 39 Jahre alt, Winfried Stollenbach, 57 Jahre alt, Ingo Bayer, 26 Jahre alt und Rainer Eckermann, 36 Jahre alt.«

»Und, sind das nur Namen oder hast du auch Hintergründe?«, fragte Thomas.

»Ein paar Hintergründe, aber nichts Detailliertes«, erklärte Lars. »Dazu müsstet ihr mir mehr Zeit geben.«

»Gut, lass trotzdem hören was du über die anderen Jungs weißt.«

»Kein Problem. Söhnke Robrak ist zwischen 2003 und 2009 mehrfach zusammen mit Ken Börder polizeilich aufgefallen. Er wurde mit unserem Kenny für den versuchten schweren Einbruch verurteilt. Ihm wurde allerdings eine zwölfmonatige Haftstrafe aufgebrummt, weil er eindeutig der Haupttäter war. Der Mann ist allerdings nach 2009, nach Verbüßen der Haftstrafe nicht mehr aktenkundig geworden.«

»Was macht dieser Robrak heute?«, fragte Patrick.

»Keine Ahnung«, musste Lars einräumen. »Ich habe nur die polizeilichen Unterlagen gesichtet und da herrschte bei Söhnke Robrak nach 2009 Funkstille.«

»2009«, wiederholte Thomas. »Dann scheidet der Mann für unseren aktuellen Fall wohl eher aus. Wer kommt dann?«

»Thomas Abichner«, fuhr Lars fort. »Abichner verbüßt derzeit eine achtzehnmonatige Haftstrafe wegen Einbruchs in eine Apotheke. Er wird allerdings bereits nächsten Monat entlassen.«

»Und hat die letzten siebzehn Monate im Gefängnis gesessen?«, fragte Patrick.

»Richtig, und zwar in der JVA Cottbus-Dissenchen«, bestätigte Lars und zögerte kurz. »Der nächste ist Winfried Stollenbach, der allerdings im Jahre 2011 an einem Herzinfarkt verstorben ist.«

»Einer ist nicht mehr kriminell, einer hat zum voraussichtlichen Todeszeitpunkt von Ken Börder im Gefängnis gesessen und der Dritte weilt schon seit Jahren selbst nicht mehr unter den Lebenden.«

»Aber wir haben ja noch zwei Leutchen«, sagte Lars. »Ingo Bayer wurde bei zwei Delikten aus den Jahren 2014 zusammen mit Ken Börder verhaftet, man konnte ihm aber keine Tatbeteiligung nachweisen. Er kam wieder auf freien Fuß. Der letzte Name ist da schon interessanter. Rainer Eckermann. Er war besonders dicht an Ken Börder dran. Es ging um eine Kneipenschlägerei im Oktober 2014. Hier ist auch noch einmal Ingo Bayers Name gefallen ...«

»Moment, Oktober 2014«, sagte Patrick. »Dann hat Ken Börder im Oktober letzten Jahres noch gelebt.«

»Gut, neun Monate sind zwar kein ganzes Jahr«, stellte Thomas fest, »aber dann hat Dr. Pohlmann den Todeszeitpunkt doch schon recht gut eingegrenzt.«

»Es war der 3. Oktober 2014, Tag der deutschen Einheit, ein Freitag«, bestätigte Lars. »Rainer Eckermann wurde an diesem Abend beschuldigt, die Theke und das Mobiliar der Kneipe beschädigt zu haben. Der Name der Kneipe lautet Zum Kalows und taucht in den Akten häufiger auf. Angeblich hat dieses Etablissement einmal Ken Börder gehört.«

»Zum Kalows? Wo liegt das?«, fragte Thomas.

»In der Gert-Kalow-Straße in Charlottenburg. Das ist ganz in der Nähe der Bunger Allee.«

»Rainer Eckermann«, wiederholte Patrick. »Das könnte ein Treffer sein.«

»Oder Ingo Bayer.« Thomas kritzelte nachdenklich auf seinem Block.

Patrick schüttelte den Kopf. »Eckermann und Börder sind im gleichen Alter, können also Kumpels gewesen sein. Wie alt ist dieser Ingo Bayer?«

»Sechsundzwanzig«, antwortete Lars sofort.

»Also zehn Jahre jünger als die anderen beiden. Rainer Eckermann, ich tippe auf Rainer Eckermann.«

»Soll ich weitere Informationen zu dem Mann recherchieren?«, fragte Lars.

»Das ist noch nicht notwendig«, sagte Patrick. »Wir müssen die Fakten zunächst mit unserem Chef durchsprechen.«

»Kein Problem. Dann meldet ihr euch wieder?«

»Ja, machen wir. Lars, danke erst einmal«, rief Thomas ins Telefon.

»Danke!«, schloss sich Patrick an.

Thomas legte auf. Patrick hatte gleich sein eigenes Telefon zur Hand und wählte.

*

Thomas las noch einmal Lars Meiers Bericht. Er konnte sich allerdings nicht auf den Inhalt konzentrieren. Patrick Arnold hatte am Telefon das Wir betont, aber KHK Werner Tremmel ließ nicht davon ab. Es gab in diesen Minuten eine Besprechung, an der Thomas nicht teilnehmen sollte. Ein Zeichen oder nur Ressourcenschonung. Thomas verstand es mehr als Zeichen. Er war der ungeliebte Sohn. Es war nicht das erste Mal, dass Werner Tremmel Thomas bei einer Ermittlungsarbeit ausgegrenzt hatte. Handlangertätigkeiten waren in Ordnung. Thomas durfte Patrick zuarbeiten, den Dreck aufräumen. An Patrick lag es nicht, aber Patrick wollte offensichtlich auch nichts riskieren, wollte Werner Tremmel nicht verärgern. Dieser sture tremmelsche Charakter. Jürgen Kowalski war da anders, und Thomas wusste auch noch, dass sich Kowalski und Tremmel nicht riechen konnten. Thomas war nicht Kowalski, aber da machte Werner Tremmel anscheinend keinen Unterschied. Es gab Gerüchte, dass Werner Tremmel Thomas’ Versetzung zunächst abgelehnt hatte. Tremmel wollte keinen von Kowalskis Leuten, auch wenn Arbeit genug da war.

Thomas atmete tief durch, als plötzlich die Bürotür aufflog. Patrick stürmte in den Raum, griff sich Jacke und war schon fast wieder zur Tür hinaus. Er stoppte.

»Ich habe ihm gesagt, dass du die Infos rangeholt hast.«

»Und?«

Patrick zuckte mit den Schultern. »Du kannst jetzt wenigstens in Ruhe Mittag machen. Wir fahren in die Bunger Allee. Der Alte will sich ein Bild machen, Zeugen finden und verhören.«

»Na dann viel Erfolg.«

Patrick nickte, zögerte noch kurz, verließ dann aber das Büro. Er schloss die Tür leise hinter sich. Die ersten Schritte ging er noch langsam den Flur entlang, dann begann er zu laufen, die Treppe hinunter und nach hinten hinaus auf Parkplatz des Präsidiums. Werner Tremmel stand mit dem Dienstwagen bereits an der Torausfahrt. Patrick öffnete die Beifahrertür und ließ sich in den Sitz fallen. Werner Tremmel gab sofort Gas. Die Fahrt nach Charlottenburg in die Bunger Allee 17 dauerte nur zwanzig Minuten. Werner Tremmel parkte auf dem Gelände einer Tankstelle gegenüber dem Appartementgebäude. Sie gingen über die belebte Straße und standen vor den Klingelschildern.

»Wie viele sind das?«, fragte Werner Tremmel. »Hundert, zweihundert?«

Patrick zuckte mit den Schultern, beugte sich vor und versuchte die Namen auf den Klingelschildern zu entziffern. Werner Tremmel überlegte nicht lange und drückte einen Knopf in der obersten Reihe.

»Der Hausmeister heißt Böhmer oder so, ist ein bisschen schlecht zu lesen.« Werner Tremmel drückte die Klingel gleich ein zweites Mal.

Der Hausmeister hieß Werner Blöhmer, hatte aber ansonsten nichts mit Werner Tremmel gemein. Er war zehn Zentimeter kleiner und bestimmt zwanzig Kilogramm schwerer, dafür aber etwa im selben Alter.

»Börder, natürlich habe ich den gekannt«, begann Werner Blöhmer. »Ich kenne nicht alle Kameraden hier, aber der Börder war so ein Typ, mit dem es immer wieder mal Ärger gab.« Werner Blöhmer zögerte. »Das darf man wohl nicht sagen, wenn einer tot ist, oder.«

»Sie brauchen sich vor uns nicht zurückzunehmen«, sagte Werner Tremmel. »Was heißt Ärger? Warum hat Herr Börder Ärger gemacht?«

Werner Blöhmer zuckte mit den Schultern. »Der Börder hat sich oft mit den anderen Mietern aus dem Haus angelegt. Es gab Beschwerden wegen Lärmbelästigung oder wenn der Börder mal wieder das Treppenhaus zugemüllt hat. Natürlich war Börder nicht der einzige, der aufgefallen ist, aber er hatte so eine Art, konnte sich nicht anpassen.«

»Was ist das hier für eine Gemeinschaft?«

»Gemeinschaft, tolle Umschreibung. Eine Gemeinschaft ist das hier bestimmt nicht. Wir haben im Haus keine Familien, da bleibt das soziale auf der Strecke. Ich habe schon in Häusern gearbeitet, da gab es Familien, da gab es zwar auch mal Streit, aber die Leutchen haben sich besser wieder vertragen. Hier wohnen ja fast nur Männer. Sozialwohnungen. Hier zahlt niemand die Miete selbst. Dafür sind die Wohnungen auch sehr klein, fünfunddreißig Quadratmeter, Küchenecke, separate Nasszelle. Vor zehn Jahren war das hier ein Studentenwohnheim.«

»Wie viele Mieter haben Sie?« Werner Tremmel sah kurz zu Patrick, der aber längst Stift und Block zur Hand hatte und eifrig notierte.

Werner Blöhmer folgte Tremmels Blick, sah dann aber wieder den Kriminalhauptkommissar an. »Zweihundertzehn Einheiten, alles belegt.«

»Nur die Wohnung von Herrn Börder steht leer?«, fragte Werner Tremmel.

»Nein, das gibt es bei uns nicht. Wenn ein Mieter raus ist, haben wir bestimmt zehn Neue, die längst Schlange stehen.«

»Das verstehe ich nicht. Warum haben Sie Herrn Börders Wohnung neuvermietet. Hat er zuletzt nicht mehr hier gewohnt?«

»Doch schon, aber dann soll er ja ins Ausland gegangen sein. Ich dachte erst, der macht Urlaub, aber nach fünf Wochen kam das Schreiben der Sozialbehörde. Die Wohnung wurde gekündigt.«

»Gekündigt?«, wiederholte Werner Tremmel. »Wer hat die Wohnung von Herrn Börder gekündigt, wissen Sie das, hat Ihnen das die Behörde mitgeteilt?«

»Nein, so etwas erfährt man von dort nicht, aber ich habe es anders herausgefunden. Hier gibt es ja den Treppenhausfunk.«

»Und, haben Sie einen Namen?«

»Und ob!«

»Dann schießen Sie mal los«, forderte Werner Tremmel.

»Das ist aber eine längere Geschichte.«

»Kein Problem.«

»Also, ich will da niemanden beschuldigen«, druckste Werner Blöhmer herum.

»Sie können frei heraus reden. Die Beschuldigungen übernehmen wir, wenn wir es für angemessen halten.«

»Das werden Sie, das werden Sie.« Werner Blöhmer atmete durch. »Der Typ heißt Rainer Eckermann. Börder hatte zwar noch zwei, drei andere Kumpels, aber dieser Eckermann war am häufigsten da. Den habe ich ständig zusammen mit Börder im Treppenhaus getroffen. Die haben nachts gefeiert, hatten laute Musik an, haben sich gestritten. Die meisten hier im Haus stört das ja nicht, dennoch hat sich immer jemand über Börder und seinen Kumpel Eckermann beschwert.«

»Sie sprechen von Streitereien?«, fragte Werner Tremmel. »Was meinen Sie genau damit?«

»Da gab es mehrere Vorfälle, aber an einen erinnere ich mich besonders gut.« Werner Blöhmer überlegte. »Das war im Februar, ja im Februar. Ich erinnere mich daran, weil ich an diesem Abend noch zum Schneeschippen raus musste. Ich war gerade so richtig am Schwitzen, da fliegt die Haustür auf. Börder stürzt heraus. Der war natürlich besoffen. Gleich hinterher ist ihm Eckermann auf den Fersen. Dann sind die Fäuste geflogen. Ich wollte natürlich dazwischen, als Börder am Boden lag, und da ist Eckermann auch auf mich losgegangen. Zum Glück hatte ich die Schippe, aber er hat mich beschimpft und bedroht, ja, bedroht hat der mich. Leider gab es keine Zeugen, außer Börder selbst. Der hatte sich inzwischen aber wieder aufgerappelt und bei Eckermann auf Kumpel gemacht. Die wollten plötzlich beide auf mich los, das können Sie mir glauben. Zum Glück mussten die sich gegenseitig stützen, so betrunken waren die. Die sind dann wieder rein ins Haus und dort verschwunden. Eine Stunde später habe ich sie aber noch weggehen sehen, da war von Streit nicht mehr viel zu merken. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Kennen Sie das?«

»Schon mal gehört.« Werner Tremmel überlegte. »Und das war in diesem Februar?«

Werner Blöhmer nickte.

»Wir hatten doch letztes Jahr im Oktober einmal diesen heftigen Schneefall«, wandte Patrick ein. »Da gab es in und um Berlin ein Wahnsinns Verkehrschaos.«

Werner Blöhmer zögerte, schüttelte dann langsam den Kopf. »Nee, nee, das mit Börder und Eckermann war im Februar oder sollte ich mich so irren? Jedenfalls habe ich danach nicht mehr viel von Börder gesehen, bis mir dann vier oder fünf Wochen später die Wohnungskündigung mitgeteilt wurde. In der Woche habe ich auch diesen Eckermann wiedergesehen. Der hat nämlich die Wohnung aufgelöst. Es gab noch Ärger wegen des Wohnungsschlüssels. Den soll Börder nämlich angeblich per Post geschickt haben, ist aber nie angekommen. Obwohl der Zweitschlüssel in der Wohnung lag, gab das eine ordentliche Rechnung, weil der Schlüssel auch für die Haustür hier unten passt. Das ging alles von der Kaution ab und die durfte natürlich die Sozialbehörde zahlen, nehme ich an.«

»Dieser Eckermann, Rainer Eckermann, hat also die Wohnung von Herrn Börder ausgeräumt?«, fragte Werner Tremmel. »Wann war das?«

»Am 30. April, die Wohnung war zum Ende des Monats gekündigt.«

»Und wer hat Ihnen das mit dem Wohnungsschlüssel erzählt?«, fragte Patrick Arnold. »Also, dass Herr Börder den per Post geschickt hat und dass er verloren ging?«

»Das hat Eckermann mir erzählt, weil ich ihm doch die Wohnung aufschließen musste. Das sah da vielleicht aus. Ich wusste ja, dass die da zuletzt gezecht hatten. Da war sogar noch dreckiges Geschirr. Dann hat mich Eckermann herausgedrängt und ich habe ihn machen lassen. Die hatten unten an der Straße einen kleinen LKW stehen, da kamen die Möbel und der Müll rein. Ich habe mir das natürlich angesehen und war hinterher auch in der leeren Wohnung. Die hatten natürlich nichts gemacht, nicht gestrichen und der Teppich war auch hin. Das habe ich selbstverständlich gemeldet. Da haben wir komplett renovieren müssen und der Kammerjäger war auch drin. Das wird dann wohl auch von der Kaution abgegangen sein.«

»Steht die ehemalige Wohnung von Herrn Börder noch leer?«

Werner Blöhmer schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, die Leute stehen Schlange. Da war die Farbe noch nicht trocken, da haben die mir schon einen Nachmieter geschickt. Mit dem gab es zum Glück bisher keine Probleme.«

Patrick notierte eifrig. Werner Tremmel nickte. »Sie sagen, Rainer Eckermann war bei der Wohnungsauflösung nicht alleine. Kannten Sie die anderen Männer, es waren doch Männer?«

»Ja, auch so Typen wie der Eckermann, aber die kannte ich nicht, habe sie nie vorher gesehen.«

»Hat Ihnen Herr Eckermann auch erzählt, warum Ken Börder seine Wohnung nicht selbst auflöst?«

Werner Blöhmer verzog das Gesicht. »Ja, das hat er wohl, aber nicht mir persönlich. Ich habe das erst ein paar Tage später erfahren, von ein paar Leuten aus dem Haus hier, mit denen Eckermann gesprochen hat. Börder musste sich angeblich ins Ausland absetzen, aber so weit ist er wohl nicht gekommen.«

»Was meinen Sie damit, dass Herr Börder nicht so weit gekommen ist?«, fragte Werner Tremmel.

»Naja, Sie haben doch gesagt, dass man ihn tot im Wald gefunden hat.«

»Stimmt, das haben wir gesagt.« Werner Tremmel nickte.

*

Hausmeister Blöhmer sah den beiden Kriminalern nach. Patrick Arnold und Werner Tremmel gingen zu ihrem Dienstwagen. Tremmel setzte sich ans Steuer. Sie fuhren in die nächste Seitenstraße und parkten dort sofort wieder, direkt neben einem riesigen Rhododendron, der jetzt Ende Juli in einem tiefen Violette blühte.

Werner Tremmel stellte den Motor ab. »Rainer Eckermann, der stand doch auch auf deiner Liste.«

Patrick nickte. »Der Kollege Leidtner hat das Umfeld unseres Opfers abklopfen lassen. In dem Bericht wurden dieser Rainer Eckermann und ein paar andere genannt. Eckermann haben wir gleich ganz oben auf die Liste gesetzt.«

»Treffer!«, sagte Werner Tremmel und lächelte. »Gute Arbeit, Patrick. Dann haben wir also unseren Tatverdächtigen. Passt doch alles zusammen. Der Streit im Februar, das fast zeitgleiche Verschwinden von Ken Börder, Rainer Eckermanns Rolle bei der Wohnungsauflösung, die Lüge, als er behauptet, dass Ken Börder sich ins Ausland abgesetzt hat. Da kommt einiges zusammen.«

»Soll ich Thomas anrufen, der hat bestimmt schon die Adresse und alles recherchiert?«

Werner Tremmel schüttelte den Kopf. »Das kannst du doch selbst ganz fix herausfinden. Ich will in diesem Fall ohne Umwege Nägel mit Köpfen machen.«

»Und das heißt?«, fragte Patrick.

»Der Chef soll beim Staatsanwalt einen Haftbefehl beantragen. Das muss jetzt schnell gehen. Du kannst dich inzwischen um die Daten von Rainer Eckermann kümmern.«

Werner Tremmel zückte sein Handy, öffnete die Fahrertür und verließ den Wagen. Er stellte sich hinter den Rhododendron und begann sein Telefonat. Patrick zögerte, dann rief er Thomas im Präsidium in der Keithstraße an und berichtete ihm von dem Gespräch mit Hausmeister Blöhmer.

»Fazit, es gibt eine Spur zu einer der Personen aus Ken Börders Umfeld«, sagte Patrick schließlich.

»Rainer Eckermann«, wiederholte Thomas. »Ich war nicht ganz untätig, obwohl Tremmel mich ja verhungern lässt ...«

»Komm, schieb das doch beiseite«, versuchte Patrick Thomas zu beschwichtigen. »Das wird sich irgendwann noch wieder ändern. Werner braucht immer etwas länger, um mit einem neuen Kollegen warm zu werden.«

»Ich will gar nicht mit ihm warm werden, ich will meine Arbeit machen.« Thomas holte Luft. »Ich habe jedenfalls weiter recherchiert. Was brauchst du?«

»Wo finden wir diesen Rainer Eckermann, oder hast du schon Kontakt aufgenommen?«

»Nein, nein, ich habe nur die Personendaten von Ingo Bayer und Rainer Eckermann abgefragt. Diesen Söhnke Robrak wollte ich mir gleich vornehmen. Dann sollten wir Lars auch noch einmal bemühen.«

»Deinen Kontakt zum Personenerkennungsdienst?«, fragte Patrick.

»Ja, Lars Meier«, bestätigte Thomas. »Natürlich müsste Tremmel sein Okay geben, wenn Lars tiefer einsteigen soll.«

»Das wird er machen. Jetzt interessiert uns erst einmal, wo wir Rainer Eckermann finden können.«

»Gut, soll ich es Tremmel schicken?«, fragte Thomas.

»Das lass mal lieber«, sagte Patrick schnell. »Verstehe das nicht falsch, aber es reicht, wenn ich die Infos habe.«

Thomas schwieg für ein paar Sekunden. »Ist raus.«, sagte er schließlich.

Patricks Handy kündigte wenig später den Eingang einer E-Mail an. Er las sich das Dossier durch, das Thomas zusammengefasst hatte. Dann näherte sich ein Schatten. Werner Tremmel öffnete die Fahrertür, setzte sich wieder in den Dienstwagen und schüttelte den Kopf.

»Scheiß Bürokratie«, fluchte er. »Natürlich sollte ich mich selbst im Büro des Staatsanwaltes melden. Wenn man einmal Rückendeckung von einem Vorgesetzten benötigt. Da sollen die sich hinterher aber nicht wundern, wenn man dann immer alles im Alleingang macht.«

»Und was sagt der Staatsanwalt?«, fragte Patrick vorsichtig.

»Nichts, der konnte nichts sagen, ich bin beim Assi gelandet, oder wie der sich schimpft. Assi oder Referent oder Bürokratenheini.« Werner Tremmel schüttelte erneut den Kopf. »Jetzt heißt es warten.«

Patrick nickte. »Aber wir können Rainer Eckermann doch schon einmal auf den Zahn fühlen.«

»Das ist nicht das Problem«, raunte Werner Tremmel. »Ich will den Mann dingfest machen, und zwar sofort. Ich habe da so ein Gefühl.«

Patrick überlegte. Er zögerte kurz. »Ich habe mir jedenfalls schon einmal die Personendaten besorgt. Rainer Eckermann wohnt in Tegel. Er ist Taxifahrer bei einem privaten Taxendienst, der seine Zentrale in Berlin-Lichtenberg, in der Nähe der Deutschen Post Zentrale in der Buchberger Straße hat. Vielleicht arbeitet er ja gerade.«

»Hast du die Nummer?«

Patrick nickte. »Soll ich mich nach ihm erkundigen?«

»Ja, aber ganz vorsichtig«, sagte Werner Tremmel. »Ich will nicht, dass irgendjemand Eckermann warnt.«

»Ich mach das schon.« Patrick tippte die Nummer des Taxidienstes in sein Smartphone ein und stellte das Telefon auf laut, während die Verbindung gewählt wurde.

»Taxiservice Lichtenberg, wo können wir Sie hinfahren?«, trällerte eine Frauenstimme.

»Guten Tag, ist Rainer Eckermann heute unterwegs?«, fragte Patrick, ohne seinen Namen zu nennen.

»Geht es um einen Krankentransport?«

»Bitte?«, fragte Patrick überrascht.

»Haben Sie ein Transportabo bei Herrn Eckermann. Wir können Ihnen auch einen anderen Fahrer vermitteln. Benötigen Sie einen liegenden Transport?«

»Oh, ich glaube das ist ein Missverständnis. Ich wollte eigentlich nur wissen, wo ich Herrn Eckermann erreichen kann, ob er gerade Taxi fährt.«

»Warten Sie, ich schaue nach.« Durch das Telefon war Tastaturklappern zu hören. Dann meldete sich die Dame des Taxidienstes nach ein paar Sekunden wieder. »So, Herr Eckermann ist diesen Monat nur nachts gefahren. Er hatte gestern frei, weil er am Freitag wieder die Tagschicht übernimmt.«

»Also ist er jetzt zu Hause?«, fragte Patrick und sah Werner Tremmel an.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wollen Sie eine Fahrt anmelden? Herr Eckermann hat morgen noch keine Terminfahrten. Wo dürfen wir Sie abholen, wann soll das Taxi bei Ihnen sein?«

»Nein, nein«, sagte Patrick schnell, »nicht nötig.«

»Herr Eckermann fährt die 533, das ist ein Großraumtaxi, ein Mercedes Vito. Das sollten Sie bitte bedenken, falls Sie Herrn Eckermann als Fahrer wünschen.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Patrick.

»Falls Sie einen liegenden Transport benötigen müssen Sie den bitte rechtzeitig vorher anmelden. Ansonsten kann Herr Eckermann eine Gruppe bis zu sieben Personen mitnehmen.«

»Ach so, nein. Sie sagten Nummer 533?«

»Ja, Wagen 533. Sie können direkt die Nummer buchen. Es ist ein Mercedes Vito, Siebensitzer für Liegendtransport umbaubar ...«

»Ja, danke für die Information.« Patrick legte einfach auf.

Werner Tremmel startete den Motor. »Wohin?«

Patrick bemühte die E-Mail, die ihm Thomas geschickt hatte. »Pavelmoor Straße. Die kenne ich sogar, die geht von der Holzhauser Allee ab. Du könntest über die A111 fahren und am Saatwinkler Damm runter.«

Werner Tremmel blinkte nicht, scherte einfach aus der Parkbucht, gab Gas und beschleunigte in der kleinen Straße. Er fuhr zunächst wieder auf die Bunger Allee und von dort über den Tegeler Weg auf die Stadtautobahn. Die Autobahn verlief am Flughafen Tegel ein kurzes Stück unterirdisch. Nach zwanzig Minuten fuhren sie auf die Holzhauser Allee und bogen von dort links in die Pavelmoor Straße ein. Zwischen Straße und Bürgersteig gab es links und rechts großzügige, mit altem Baumbestand bepflanzte Grünstreifen. Die gepflegten vier- und fünfstöckigen Häuser reihten sich auf beiden Straßenseiten wie bunte Perlen aneinander. In einigen Häusern waren im Erdgeschoss Ladenlokale eingerichtet.

»Es ist die Nummer 56«, gab Patrick an.

Werner Tremmel musste an dem Haus vorbeifahren, fand erst fast am Ende der Straße vor einer Schnellreinigung einen freien Parkplatz. Sie stiegen aus und gingen das kurze Stück zu Fuß. Die Nummer 56 war rot gestrichen. Die weißen Fenster wirkten neu.

»Er wohnt im zweiten Stock.« Patrick deutete auf das Klingelschild, auf dem feinsäuberlich der Name Rainer Eckermann stand. Der Name war nicht einfach mit der Hand eingetragen, sondern auf einem weißen Kunststoffplättchen mit schwarzen Buchstaben eingeprägt. Alle Klingelschilder waren so ausgeführt und boten damit eine gewisse Einheitlichkeit. Werner Tremmel übernahm die Initiative und drückte die Klingel. Gleichzeitig stellte er fest, dass die Tür ins Haus verschlossen war. Nach einer halben Minute klingelte er ein zweites Mal, aber es tat sich noch immer nichts.

»Sollen wir die Nachbarn fragen?«, schlug Patrick vor.

Werner Tremmel schüttelte den Kopf. »Ich will hier keine Wellen schlagen. Wir wollen ihn uns ganz vorsichtig einsacken. Keine Warnung, der soll keine Gelegenheit bekommen, abzuhauen.«

»Ich habe auch eine Telefonnummer.«

»Festnetz?«

»Handy«, antwortete Patrick. »Aber das kann uralt sein. Die Nummer wurde vor zwei Jahren bei einer Personenkontrolle festgehalten.«

»Das ist doch illegal«, sagte Werner Tremmel.

Patrick zuckte mit den Schultern. »Ist aber trotzdem irgendwie in den Akten gelandet. Soll ich?«

»Um Gotteswillen!«, raunte Werner Tremmel und drückte noch einmal die Türklingel. »Eckermann kann doch überall mit seinem Handy stecken. Eine bessere Warnung kann der sich doch gar nicht wünschen.«

Sie warteten erneut ein, zwei Minuten, bis Werner Tremmel entschied, dass ihr Auftritt bereits zu auffällig war. Er sah sich um und deutete auf das Stehcafé schräg gegenüber der Nummer 56.

»Hunger? Ich gebe einen aus.«

Sie blieben fast eine halbe Stunde und beobachteten das Haus. In der Zeit betrat oder verließ niemand die Nummer 56, lediglich der Postbote füllte einmal die Briefkästen, war aber schnell fertig. Werner Tremmel zog sich zweimal zurück, um den Staatsanwalt doch noch zu erreichen, was ihm aber nicht gelang. Die Laune des Kriminalhauptkommissars wurde immer schlechter. Sie gaben ihren Beobachtungsposten schließlich auf, fuhren zurück ins Präsidium. Unterwegs musste Patrick Arnold die Gerichtsmedizin und den Tatorterkennungsdienst anrufen. Werner Tremmel plante eine erste Besprechung zu dem neuen Fall.

*

Kerstin trocknete sich gründlich Hände und Gesicht ab, nahm das Bündel mit der benutzen Laborkleidung und brachte es in die Wäschekammer gleich neben den Toilettenräumen. Sie hatte zwei Obduktionen hinter sich und brauchte jetzt eine Kaffeepause. Im Krankenhaustrack der Ersten Gewaltschutzambulanz in der Birkenstraße gab es eine Cafeteria, die auch vom Personal des rechtsmedizinischen Instituts der Charité besucht wurde. Der Nachmittagsansturm war vorüber. An den Tischen saßen nur noch wenige Gäste, einige im Bademantel und Pantoffeln, die sich hier mit ihren Angehörigen trafen. Kerstin hatte sich am Selbstbedienungsautomaten eine Tasse Kaffee gezogen und eine Dreierpackung Kekse aus dem Tresen genommen. Sie bezahlte und trug ihr Tablett zu den Tischen. Sie steuerte auf einen freien Platz zu, sah dann aber Uwe Rand hinten in einer Ecke alleine an einem Tisch sitzen. Der Sektionsassistent nickte ihr zu und Kerstin schlug den Weg zu ihm ein.

»Ist hier noch frei, oder störe ich?« Sie lächelte Uwe an.

»Für dich doch immer, Frau Doktor.«

Er zog ihr einen Stuhl heran. Sie stellte ihr Tablett ab und setzte sich. Dann riss sie die Packung Kekse auf und bot ihm einen an. Uwe nickte und nahm sich das Gebäck.

»Das ist anständig von dir.«

»Und, viel zu tun?«, fragte Kerstin.

»Du hast die Liste doch gesehen. Es stimmt, ich bin ziemlich ausgebucht.«

»Aber nur von einem Kollegen«, deutete Kerstin an.

»Du meinst den Poli? Ja, der hält nichts von deinem Bäumchen wechsel dich.«

»So nennst du das?«

Uwe schüttelte den Kopf. »So nennt Dr. Pohlmann das. Ich fand das gleich ganz gut. So kann man mal sehen, dass jeder von euch Coronern seinen eigenen Stil hat. Die Erwartungen an einen Sektionsgehilfen sind ja auch von Kollege zu Kollege unterschiedlich.«

»Und wo liegt der Unterschied zwischen Dr. Pohlmann und mir?«, fragte Kerstin.

»Ach, das weißt du doch selbst.«

»Nein, wirklich nicht«, drängte Kerstin.

Uwe grinste, dann überlegte er. »Pohlmann redet nicht viel. Er erklärt nichts, bezieht seinen Sektionsassistenten nicht in den Teil der Obduktion mit ein, den er abarbeitet. Natürlich hat bei einer Obduktion jeder seine festgelegten Aufgaben. Er braucht mir nicht zu sagen, wie ich die Organe zu wiegen habe oder welche Instrumente er für die Körperöffnung benötigt.«

»Aber ich mache das doch auch nicht anders«, warf Kerstin ein. »Das wäre ja so, als wenn ich meinte, du würdest deinen Job nicht verstehen. Ich würde dir doch niemals vorbeten, was ich am Tisch brauche, es sei denn ich benötige etwas Bestimmtes.«

»Ja, das meine ich doch, dieses Bestimmte. Du weißt selbst, jede Obduktion ist anders. Bei Pohlmann ist jede Obduktion gleich, der gleiche Ablauf, die gleichen Ergebnisse.«

»Die gleichen Ergebnisse, das kann doch nicht sein.« Kerstin runzelte die Stirn.

»Nicht die gleichen Ergebnisse in dem Sinne«, erklärte Uwe. »Es gibt natürlich eine ganze Liste von Todesursachen oder Verletzungsmustern, aber es ist eine feste Liste, aus der sich Pohlmann meistens bedient. Er mag keine Überraschungen, er sucht auch nicht nach Überraschungen und darum findet er auch keine.«

»Das klingt aber nach grobfahrlässig«, meinte Kerstin. »Wenn das stimmt, geht das ja schon in Richtung Fehleinschätzungen. Das kann ich nicht glauben.«

»So krass ist es auch wieder nicht«, korrigierte sich Uwe sofort. »zu neunundneunzig Komma neun Prozent sind seine Gutachten ja korrekt. In der Realität sind es eben immer dieselben Todesursachen und Verletzungsmuster, aber dabei kann man schnell übersehen, wenn es mal anders kommt.«

»Und hast du ein Beispiel?«, fragte Kerstin.

Uwe zögerte. »Ja, aber ich meine was anderes, ich meine die Kommunikation während der Arbeit. Bei dir wird man einbezogen, bei Pohlmann ist man ein Außenstehender. Kaum ein Wort von dem was er mit seinen Augen sieht. Bei dir erfährt man alles, du beziehst deine Sektionsassistenten mit ein, das sagen auch andere Kollegen.«

»Das freut mich zwar, dass du mich auf diese Weise schätzt, aber bei Dr. Pohlmann müsstest du doch auch erfahren, was er denkt, was er bei der Obduktion für wichtig hält. Oder benutzt er kein Diktiergerät?«

»Doch, doch. Er hat zwar noch so ein altes Bandgerät, kein Digitales, und er benutzt es auch bei der Arbeit. Allerdings ist das Wie entscheidend. Pohlmann flüstert ins Gerät. Ich habe immer den Eindruck, er will nicht, dass man hört, was er sagt.«

»Naja, das wird er doch nicht mit Absicht machen. Du kannst es ihm doch sagen.«

»Oh nein, das macht der mit Absicht«, sagte Uwe und erhob kopfschüttelnd den Zeigefinger. »Wenn ich mal näher an den Tisch komme, wendet er sich gleich ab und spricht noch leiser.«

Kerstin musste lächeln. »So hat jeder seinen Arbeitsstil.«

»Ja, und dein Stil ist es, klar und deutlich ins Diktiergerät zu sprechen und uns hinterher noch das eine oder andere fachliche zu erklären, wenn es etwas Besonderes ist.«

»Und Dr. Pohlmann hat nie etwas Besonderes zu berichten«, folgerte Kerstin. Sie zögerte. »Du wolltest mir noch ein Beispiel nennen.«

Uwe zuckte mit den Schultern. »Ein Beispiel für was?«

»Du hast angedeutet, Dr. Pohlmann übersieht bei seinen Obduktionen Überraschungen, weil er sie nicht sehen will.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er nicht will. Er kann nicht, ich glaube, das ist nicht einmal Absicht.«

»Beispiel!«, forderte Kerstin.

Uwe biss sich auf die Unterlippe. »Pohlmann darf keine Exhumierungen machen, davon hat er meiner Meinung nach überhaupt keine Ahnung. Und noch viel schlimmer, ich glaube, er ekelt sich davor.«

»Also, wenn sich ein Gerichtsmediziner vor der Leichenöffnung ekelt, dann hat er seinen Beruf verfehlt.« Kerstin schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Dr. Pohlmann macht die Arbeit doch schon viel zu lange.«

»Diesen Ekel meine ich ja gar nicht«, sagte Uwe schnell. »Ich finde es auch nicht schön, Erdleichen zu obduzieren, aber was gemacht werden muss, macht man in diesem Job eben. Pohlmann macht es auch, aber sehr schnell und oberflächlich.«

»Ihr hattet doch gestern eine, was sagtest du, Erdleiche?«, fragte Kerstin.

Uwe nickte. »Der Tote aus dem Wald. Der war eigentlich gar nicht so schlimm. Vielleicht waren wir deshalb so schnell fertig, aber ich hatte trotzdem den Eindruck, dass Pohlmann sich nicht alles genau angesehen hat. Todesursache Denis axis und fertig. Selbst ich habe gesehen, dass die Leiche noch andere Verletzungen hatte.«

»Und die hat Dr. Pohlmann übersehen?«, fragte Kerstin.

»Nein, nein, das nicht, er hat sie nur zu schnell zu den Akten gelegt. Ich habe später den Bericht gelesen. Wie gesagt während der Obduktion erfährt man von Pohlmann ja nicht viel, wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht.«

»Und was war im Bericht, das dich gestört hat?«

»Naja, Genickbruch ist doch ein weites Feld. Sturz, Schlag auf den Kopf oder Rücken, Gewaltsame Richtungsänderung, Scherbewegung des Kopfes und dir wird sicher noch mehr einfallen. Meines Wissens gibt es noch keine Tatwaffe, Pohlmann hat aber bereits eine Keule oder Ähnliches in seinem Bericht erwähnt.«

»Das ist doch nicht verkehrt«, warf Kerstin ein. »Das hätte ich unter Umständen auch diagnostiziert.«

»Aber du hättest zehnmal so lange gebraucht, um dir das Verletzungsmuster genau anzusehen, und hättest dann noch die anderen Möglichkeiten in deinem Bericht mit einbezogen. Die Zeit hat sich Pohlmann nicht genommen und sein Bericht ist meiner Ansicht nach sehr oberflächlich.«

»Er hat halt große Erfahrung und sieht die Fakten sofort.« Kerstin glaubte selbst nicht, was sie sagte und das merkte auch Uwe.

Er schüttelte den Kopf. »Der Tote kam aus der Erde, Verwesung und andere Prozesse. Ja, das habe ich von dir gelernt, weil du dich bei der Arbeit mitteilst. Pohlmann hat nicht so gründlich gearbeitet, wie du es getan hättest.«

»Was denkst du, soll ich ein zweites Gutachten erstellen?«

Uwe machte eine abwehrende Geste. »Herr Gott, diese Entscheidung kann ich mir nicht anmaßen. Die Polizei wird bei den Ermittlungen schon die richtigen Schlüsse ziehen, auch wenn Pohlmanns Aussage zum Todeszeitpunkt ebenfalls nicht astrein war.«

»Und was hat er da falsch gemacht?«, fragte Kerstin.

»Ich habe jetzt schon einige ausgebuddelte Leichen gesehen, weil das ja dein Spezialgebiet ist und sich die Kollegen nicht um so einen Job reißen. Ich glaube, ich kann unterscheiden, ob ein Körper ein Jahr oder nur ein paar Monate in der Erde lag. Wie gesagt, unser Toter sah ja noch vergleichsweise gut aus, wenn der Gestank nicht gewesen wäre.«

»Stimmt, der Verwesungsgeruch ist nicht unbedingt ein Indiz«, gab Kerstin zu. »Aber es gibt Leichen, die sehen nach drei Jahren besser aus, als andere nach sechs Monaten.«

Uwe zuckte mit den Schultern. »Lass uns das Thema beenden. Vielleicht hat Pohlmann mit seiner Obduktion ja doch alles erkannt und richtiggemacht, mich würde es allerdings wundern.«

Kerstin nickte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch gar nicht von ihrem Kaffee getrunken hatte. Sie griff nach der Tasse und fühlte gleich, dass sie nur noch lauwarm war. Uwe sprang sofort auf.

»Sorry, meine Schuld, ich habe mal wieder zu viel gequatscht. Das kommt davon, wenn man im Betriebsrat ist und die Kollegen immer einnorden muss. Ich hole uns jetzt mal zwei frische Tassen. Die Zeit hast du doch noch?«

Bevor Kerstin etwas entgegnen konnte, war Uwe schon auf dem Weg zum Tresen.

*

Marek hatte Thomas am Nachmittag angerufen und ihn über die Fakten des neuen Falles informiert. Thomas hatte dann aber erst von Patrick Arnold erfahren, dass KHK Werner Tremmel am Nachmittag zu einer großen Runde eingeladen hatte. Der Tatorterkennungsdienst und die Gerichtsmedizin sollten präsentieren, was sich seit dem Leichenfund am Vortag ergeben hatte. Thomas trug den Beamer in den Besprechungsraum im zweiten Stock der Keithstraße 30. Er schloss den Laptop an und richtete die Leinwand aus. Die Damen aus dem Sekretariat hatten sich gefreut, dass er die Bewirtung selbst übernahm, je eine Kanne Kaffee und Tee kochte und das Geschirr in den Besprechungsraum brachte. Er baute alles auf, sah dabei immer wieder auf die Uhr und hoffte, dass nicht Werner Tremmel der Erste war, der im Raum erschien.

Dann klopfte es an der offenen Zimmertür. Dr. Pohlmann trat ein. Er gab Thomas die Hand, suchte lange nach einem geeigneten Platz, um dann auf das Laptop zu starren.

»Ich habe richtige Folien dabei«, sagte er schließlich. »Wir hatten hier doch immer einen Overheadprojektor.«

»Hatten wir«, bestätigte Thomas.

Er ging zu einem der Wandschränke und fand das Gerät dort auch. Er stellte es auf den Tisch neben den Laptop. Die Lampe des Projektors funktionierte noch. Dann waren Stimmen auf dem Flur zu hören. Thomas blieb sitzen. Als erster betrat Hans Schauer den Raum, gefolgt von Torsten Regener. Thomas erhob sich und begrüßte die Kollegen, die er seit Jahren kannte.

»Unsere Schlecht-Wetter-Typen sind da, Schauer und Regener, lange nicht gesehen.«

»Der Witz ist älter als dieser Overheadprojektor dort auf dem Tisch«, entgegnete Torsten.

Sie gaben sich die Hände, hatten aber nicht viel Zeit für einen Plausch, weil Patrick zwei Minuten später erschien. Ihm folgten Werner Tremmel und Marek, die im Gespräch waren.

»Soll ich Roose anrufen, damit er seinen Urlaub um einen läppischen Tag verkürzt«, raunte Werner Tremmel gerade. »Wir brauchen hier volle Unterstützung und zwar von der Chefetage.«

»Die haben Sie ja mit mir«, entgegnete Marek, »aber wenn ihnen das nicht reicht, müssen Sie das selbst mit meinem Chef klären.«

»Das werde ich auch.«

Werner Tremmel nickte heftig, dann sah er Thomas neben Laptop und Overheadprojektor sitzen und verstummte. Thomas ließ sich nicht irritieren, stand auf und bot den Anwesenden Kaffee und Tee an. Alle setzten sich an den U-förmigen Tisch und Werner Tremmel eröffnete die Sitzung, nachdem er Thomas noch ein paar Sekunden mit seinem Blick durchbohrt hatte.

»Danke, dass Sie alle erschienen sind. Die Leiche von Ken Börder wurde erst vor knapp achtzehn Stunden aufgefunden, wir sind also noch in einer sehr frühen Phase der Ermittlungen. Bevor die einzelnen Fraktionen über ihre Untersuchungsergebnisse berichten, würden wir gerne ein kurzes Bild des Opfers geben, soweit diese Fakten noch nicht bekannt sind. Patrick, du hast das Wort.«

Patrick Arnold übernahm, nachdem Thomas die Präsentation aufgerufen hatte, die schon auf dem Desktop des Laptops bereitlag.

»Der Tote heißt Ken Börder, geboren am 3. Mai 1979 in Würzburg.«

Die erste Folie zeigte eine Fotografie des lebenden Ken Börders, die nicht von seinem Personalausweis oder Führerschein stammte. Patrick fuhr fort. »Der Vater ist unbekannt, die Mutter im Jahre 2009 verstorben. Ken Börder hatte eine vier Jahre ältere Halbschwester, die 1984 an einer nicht öffentlichen Badestelle im Main ertrunken ist. Nach diesem Vorfall kam Ken Börder für drei Jahre ins Heim, zog dann aber wieder zur Mutter zurück.« Patrick wechselte auf die zweite Folie. »Ken Börder machte nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung zum Speditionshelfer. In den Jahren 1997 bis 2001 verpflichtete er sich für vier Jahre bei der Bundeswehr. Den kompletten Dienst leistete er in der Balthasar-Neumann-Kaserne im Kraftfahrausbildungszentrum und im Sanitätszentrum ab. Dort erwarb er auch den Führerschein der Klasse CE für Lastzüge und Sattelkraftfahrzeuge. Dieser Führerschein wurde 2001 in einen regulären EU-Führerschein übertragen, da Ken Börder nach seiner Bundeswehrzeit eine Stellung bei einer Berliner Spedition annahm. Die Firma meldete 2003 Insolvenz an, Ken Börder wurde allerdings schon Mitte 2002 entlassen. Seither galt er als arbeitssuchend. Ken Börder ist nach 2003 mehrfach straffällig geworden.«

Patrick gab eine Kurzzusammenfassung von den Rechercheergebnissen, die Thomas und er am Vormittag von Lars Meier erhalten hatten. Er nannte auch die Namen der Männer, die mit Ken Börder in Verbindung standen, betonte den von Rainer Eckermann aber nicht übermäßig. Er erwähnte auch nicht, dass Rainer Eckermann die Wohnung von Ken Börder aufgelöst hatte. Werner Tremmel hatte vor, seinen Haupttatverdächtigen erst zum Ende der Sitzung zu verkünden.

»Ken Börder war zuletzt in Charlottenburg, in der Bunger Allee 17, wohnhaft«, fuhr Patrick fort. »Der Vermieter hat Herrn Börder allerdings im März dieses Jahres abgemeldet, ohne eine Folgeadresse anzugeben. Dies ist möglich, weil die Meldebehörde annehmen muss, dass die betreffende Person anderweitig gemeldet ist, wenn der angemietete Wohnraum vom Mieter oder Vermieter gekündigt wurde.«

Mit dieser Information schloss Patrick seinen kurzen Vortrag. Werner Tremmel bedankte sich. Es war üblich, erst alle Fakten zu präsentieren und so war Marek jetzt an der Reihe. Er steckte seinen Datenstick selbst in den USB-Port des Laptops und wartete, bis Ordner und Datei erkannt wurden. Dann öffnete er die Präsentation.

Marek wiederholte die wesentlichen Fakten, die er Werner Tremmel bereits am Leichenfundort mitgeteilt hatte. Angaben zur Kleidung des Toten, die Tatsache, dass Ken Börder eine große Menge Bargeld bei sich gehabt hatte, weitere Informationen über den Inhalt der Brieftasche. Auf dem Beamer erschienen die Fotografien einzelner Geldscheine, Vorder- und Rückseite von Personalausweis und Führerschein und einige Bilder von der Brieftasche selbst. Auf der zweiten Folie präsentierte Marek die unscheinbare Armbanduhr. Das Lederarmband hatte in der feuchten Erde gelitten. Das Uhrglas war leicht zerkratzt, die Einfassung dunkel angelaufen. Die dritte Folie zeigte den Schlüsselanhänger, ein etwa fünfmalzwei Zentimeter großer Boxhandschuh aus Leder mit angenähten weißen Schnüren. Am Schlüsselring hing ein moderner Bohrmuldenschlüssel mit quadratischem Griff. Es war der fehlende Schlüssel zu Ken Börders Wohnung, den Hausmeister Blöhmer gegenüber Werner Tremmel erwähnt hatte.

»Alle persönlichen Gegenstände des Toten, also Brieftasche samt Inhalt, Schlüsselanhänger mit Schlüssel und die Uhr haben wir in der Kriminaltechnik untersucht. Die Sachen liegen jetzt für eine DNA-Analyse bereit und können von Herrn Dr. Pohlmann angefordert werden. Sofern nicht gewünscht ist, dass die Kriminaltechnik diese Untersuchungen durchführen lässt.«

Dr. Pohlmann nickte. »Ich werde mich zu gegebener Zeit darum kümmern.«

»Danke«, sagte Werner Tremmel mit einem Lächeln in Richtung des Gerichtsmediziners.

Marek fuhr mit seinen Ausführungen fort. »In der unmittelbaren Umgebung des Leichenfundortes haben wir keine Objekte gefunden, keine Grabewerkzeuge, keine Waffen und auch keine weiteren persönlichen Gegenstände, die möglicherweise dem Toten zuzuordnen wären. Wir haben auch die dem Toten fehlenden Gliedmaßen nicht auffinden können.«

»Moment«, warf Werner Tremmel ein. »Aber es wurde doch ein Finger gefunden.«

»Das ist richtig.«

Marek sah Dr. Pohlmann an, der ein, zwei Sekunden brauchte, bis er begriff, dass in diesem Moment sein Urteil gefragt war.

»Mittelfinger«, sagte er schließlich. »Auf dem Feldweg habe ich den Mittelfinger der rechten Hand sichergestellt. Außerdem fehlten dem Toten noch der Ringfinger sowie der kleine Finger, ebenfalls an der rechten Hand. Es handelt sich dabei ...«

»Entschuldigung Herr Dr. Pohlmann«, unterbrach Werner Tremmel den Gerichtsmediziner. »Ich würde vorschlagen, der Kollege Quint beendet erst seinen erkennungsdienstlichen Vortrag, bevor wir zum Ergebnis der Obduktion kommen.«

»Selbstverständlich«, antwortete Dr. Pohlmann und lächelte in die Runde.

»Ich bin auch gleich fertig«, sagte Marek. »Also, der Leichenfundort, die Lichtung ist eine sogenannte Wildschweinsuhle. Der Untergrund ist daher stark durchwühlt. Wir haben das Terrain heute Morgen von einem Fachmann begutachten lassen. Die Spuren konnten nur den dort verkehrenden Wildtieren zugeordnet werden. Hierbei handelt es sich neben den besagten Wildschweinen noch um Rotwild.«

»Irgendwelche Raubtiere?«, fragte Patrick. »Ich meine wegen der fehlenden Finger. Es soll doch neuerdings Wölfe in der Gegend geben.«

»Nein, keine Wolfsspuren«, antwortete Marek, »aber mir wurde gesagt, dass Wildschweine Allesfresser seien.«

»Wurde der Arm des Toten denn von den Wildscheinen freigelegt?«, fragte Werner Tremmel.

»Das ist zumindest anzunehmen. Der Tote war ursprünglich dreißig, höchstens vierzig Zentimeter tief vergraben. Der Boden war durch die starken Regenfälle der vergangenen Tage sehr weich. Dies zusammengenommen würde es erklären, dass die Wildscheine an den Körper herangekommen sind.«

»Aber es kann nicht sein, dass das Opfer in eine Schlammgrube gefallen und darin ertrunken ist?« Werner Tremmel sah Dr. Pohlmann kurz an.

»Das ist ausgeschlossen«, sagte Marek. »Wir haben die Erdstruktur der Grube untersucht. Innerhalb eines Bereiches von vierzig mal hundertsechzig Zentimetern war die Erde aufgelockert und dadurch auf Grund der Feuchtigkeit auch schlammiger als die unmittelbare Umgebung der Grube. Wir konnten zwar keine Grabespuren feststellen, wie sie von einem Spaten oder einer Hacke stammen, aber es ist anzunehmen, dass das Erdreich mit einem derartigen Werkzeug ausgehoben wurde.«

»Ein Spaten?«

»Oder eine Hacke, sicherlich nicht mit den bloßen Händen«, erklärte Marek. »Die Erde ist lehmhaltig.«

Werner Tremmel nickte. »Gut, was haben Sie noch, was haben die Hundertschaften gefunden, die Sie durch die Gegend marschieren lassen haben?«

»Es waren nur zwanzig Bereitschaftspolizisten«, entgegnete Marek. »Das Ergebnis war allerdings sehr mager. Wir haben nicht einmal Zigarettenkippen gefunden. Wir haben einen Radius von etwa fünfhundert Metern um die Leichenfundstelle abgesucht. Dann haben wir uns noch auf die Zuwege konzentriert, immer in der Annahme, dass das Opfer und ein möglicher Täter über die normalen Wege zum Leichenfundort gelangt sind. Aber auch hier haben wir nichts gefunden. Der Fußweg zum späteren Leichenfundort ist mit fünfhundertdreiundsechzig Metern ja relativ lang. Daher haben wir uns dann noch die Frage gestellt, wie schwierig es ist, einen Körper über diese Distanz zu tragen. Für eine Einzelperson sicherlich ein mühsames Unterfangen, man muss Pausen einlegen, den Körper des Toten ablegen. Hierbei könnten Spuren verursacht worden sein, nach denen wir gesucht haben, leider ohne Befund.«

»Warum gehen Sie von einem Einzeltäter aus?«, fragte Werner Tremmel.

»Ich habe nicht von einem Täter oder von Tätern gesprochen«, betonte Marek. »Es geht nur darum, die Hypothese zu stützen, falls der Mann nicht am Fundort getötet wurde.«

»Die Hypothesen in diesem Fall überlassen Sie doch bitte den Mordermittlern.« Werner Tremmel zögerte. »Aber ich vergaß, Sie sind ja auch so ein abgebrochener ...« Er beendete den Satz nicht, blickte kurz zu Thomas, und schüttelte den Kopf.

Marek überging den Seitenhieb. »Dann haben wir auch gleich aufgezeichnet, welche generellen Möglichkeiten bestehen, in die Nähe des Leichenfundortes zu gelangen. Es gibt einige befahrbare Forstwege und kleinere Straßen aus Richtung Potsdam oder aus Richtung Beelitz, die in das Waldgebiet führen. Soweit die bisherigen Erkenntnisse meines Teams zu dem vorliegenden Fall.« Marek sah Torsten Regener und Hans Schauer an, die beide nickten.

»Danke.« Werner Tremmel überlegte, schien noch nach einer kritischen Frage zu suchen, die er Marek stellen konnte, aber ihm fiel nichts mehr ein. »Patrick?«

Patrick Arnold schüttelte den Kopf.

»Wie hat der Körper denn in der Grube gelegen?«, fragte Thomas.

Werner Tremmel verzog sofort das Gesicht, wollte schon protestieren, aber Marek war schneller.

»Stimmt, diesen Punkt hätte ich fast vergessen.« Marek blätterte zur nächsten Folie. »Hier haben wir eine kleine Skizze. Der Körper muss sich ursprünglich flach, auf dem Rücken liegend in der Grube befunden haben. Dann hat sich der Torso aber um gut dreißig Grad gedreht, so dass die rechte Seite, Rumpf und Arm höher lagen. Die Beine haben diese Drehbewegung allerdings nicht mitgemacht.«

»Dreißig Grad? Wie kann das passieren?« fragte Werner Tremmel ungläubig.

»Eine mögliche Erklärung ist die gut besuchte Suhle, die einen Seitendruck auf die Umgebung ausgeübt hat.« Marek deutete auf die Skizze. »Vielleicht wäre die Leiche früher oder später vollständig wieder ans Tageslicht gekommen.«

»Merkwürdige Vorstellung.« Werner Tremmel sah kurz zu Thomas. »Und haben Sie noch etwas so Wichtiges vergessen?«

Marek schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre vorläufig alles. Sie erhalten natürlich noch den schriftlichen Bericht.«

»Darum will ich auch bitten. Aber am besten warten sie noch bis Roose einmal drüber geschaut hat.«

Marek nickte und sparte es sich, das letzte Wort zu haben.

Werner Tremmel sah in die Runde. Sein Blick blieb auf Dr. Pohlmann stehen. »So und jetzt dürfen Sie das Bild komplettieren, Herr Dr. Pohlmann. Nachdem der Erkennungsdienst ja nicht so viel zu bieten hatte, baue ich auf die Ergebnisse der Obduktion.«

»Sehr gerne.«

Dr. Pohlmann erhob sich, ging um den Tisch herum zum Overheadprojektor und suchte nach dem Einschalter. Thomas war ihm behilflich. Das Projektionslicht erhellte die Leinwand, nachdem das Beamerlicht erloschen war. Die Folie war nicht gleich scharf, Thomas drehte an der Stellschraube. Dr. Pohlmann räusperte sich. Bei der Folie handelte es sich offensichtlich um die erste Seite des Obduktionsberichtes. Die Schrift war aber so klein, dass kaum etwas zu erkennen war. Dr. Pohlmann räusperte sich erneut.

»Ich möchte zunächst etwas über den Todeszeitpunkt sagen. Der Verwesungszustand des aufgefundenen Körpers macht es sehr schwer, den Todeszeitpunkt exakt einzugrenzen. Dennoch schätze ich unter Vorbehalt, dass die Leiche etwa zwölf Monate in der Erde gelegen hat. Vor zwei Jahren gehörte ich zu einer Gruppe von deutschen Gerichtsmedizinern, die in Knoxville eine Body Farm besuchen durften. Das dortige Freiluftforschungszentrum gehört zur University of Tennessee. Ich habe daher Kenntnisse der einzelnen Verwesungsstadien menschlicher Körper unter Berücksichtigung unterschiedlicher Witterungsverhältnisse. In den Tropen ergibt sich natürlich ein anderes Verwesungsprofil als in unseren Breiten. Ich habe hier ...«

»Dr. Pohlmann, entschuldigen Sie«, unterbrach Werner Tremmel den Gerichtsmediziner. »Natürlich sind Ihre Referenzen zur Bestimmung des Todeszeitpunktes wichtige Details in diesem Fall und werden später sicherlich noch von Interesse sein. In dieser frühen Phase des Falles sollten wir uns aber nur die nackten Tatsachen ansehen. Sie sagen, Ken Börder ist vor etwa einem Jahr gestorben?« Werner Tremmel sah Patrick Arnold an.

Dr. Pohlmann brauchte ein paar Sekunden, um den Faden wiederaufzunehmen, den Werner Tremmel durchtrennt hatte. »Maximal zwölf Monate ja, das ist meine persönliche Einschätzung. In meinem Gutachten habe ich den Todeszeitpunkt allerdings in einen Zeitraum zwischen sechs und zwölf Monaten festgelegt, was mir seriöser erschien. Ich schätze auch, dass das Opfer unmittelbar nach seinem Tod in der Erde vergraben wurde.«

»Sechs bis zwölf Monate«, warf Werner Tremmel erneut ein. Er überlegte. »Vielleicht können wir Ihre Einschätzung bald präzisieren.« Er sah wieder zu Patrick Arnold.

Dr. Pohlmann nickte. »Dann komme ich jetzt zu den entscheidenden Fakten. Die Todesursache ist eine Fraktur des Dens axis und ein Riss der Bänder des Dens axis, wobei es zu einer Durchtrennung der Medulla oblongata und des Rückenmarks kam. Oder anders ausgedrückt, Zerstörung der Nervenzentren für Atmung und den Blutkreislauf auf Grund eines fatalen Genickbruches. Am Kopf und Hals des Opfers konnte ich Hinweise auf einen kräftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand feststellen. Hierzu konnte ich die Ansätze eines Hämatoms nachweisen, das sich auf Grund des sofortigen Todes nicht vollständig ausgebildet hat.«

»Genickbruch, Schlag mit einem stumpfen Gegenstand«, wiederholte Werner Tremmel. »Können Sie die mögliche Tatwaffe benennen?«

»Ein schweres Kantholz oder eine Keule«, sagte Dr. Pohlmann sofort. »Genauer kann ich allerdings nicht benennen. Wenn eine in Frage kommende Tatwaffe gefunden wird, kann ich einen Abgleich vornehmen und diese Tatwaffe verifizieren. Das ist die übliche Vorgehensweise.«

Dr. Pohlmann nahm seine erste Folie vom Overheadprojektor und suchte in seinen Unterlagen nach der Nächsten. Er fand sie und legte sie auf. Diesmal war der Inhalt der Folie etwas strukturierter. Eine Aufzählung, die der Gerichtsmediziner zu zitieren begann.

»Magen- und Darminhalt des Opfers weisen auf eine Mahlzeit zwischen drei und sechs Stunden vor dem Tod hin. Außerdem konnten wir im Magengewebe leichte Alkoholzerfallsprodukte nachweisen, die darauf schließen lassen, dass das Opfer zum Zeitpunkt seines Todes alkoholisiert war. An der rechten Hand des Opfers fehlen drei Finger. Der Mittelfinger wurde aufgefunden und weist der Länge nach Zahn-, aber keine tieferen Bissabdrücke auf. Der Finger wurde unterhalb des dritten Gliedes abgequetscht. Am Knochen wurden Zahnspuren gefunden. Das umgebende Fleisch des Fingerschaftes ist zum Teil ausgerissen, zum Teil durch einen Biss durchtrennt. Und der Mittelfinger wurde auch in einem Zustand fortgeschrittener Verwesung vorgefunden.« Dr. Pohlmann machte eine kurze Pause, wies dann wieder auf den Inhalt seiner Folie. »Der Ringfinger und der kleine Finger der rechten Hand des Opfers liegen der Gerichtsmedizin nicht vor. Es sind aber ähnliche Bissmuster an den Fingerstümpfen der rechten Hand zu identifizieren, wie sie für den aufgefundenen Mittelfinger zutreffen.«

»Kann das der Hund des Försters gewesen sein?«, fragte Werner Tremmel.

»Diese Frage habe ich mit einem Kollegen besprochen«, antwortete Dr. Pohlmann bedächtig. »Die Finger sind voraussichtlich nicht von einem reinen Fleischfresser abgetrennt worden. Mit Hinweis auf die Suhle könnte es sich eher um den Bissstatus eines Wildschweines handeln. Hier könnte man natürlich weiter recherchieren, wenn das gewünscht wird, aber ich gebe zu bedenken, dass der Verlust der drei Finger der rechten Hand des Opfers sehr wahrscheinlich post mortem erfolgt ist.«

»Das kling ja alles nicht sehr appetitlich«, sagte Werner Tremmel. »Haben Sie noch eine Folie für uns?«

»Mehrere mit Fotografien der von mir erwähnten Punkte.«

»Lieber nicht. Es reicht, wenn ihr Bericht später mit diesen Bildern gespickt ist.«

»Das ist mir ganz recht«, sagte Dr. Pohlmann etwas zögerlich. »Es gibt nämlich ein paar Verletzungen am Körper des Toten, die ich abschließend noch nicht bewerten möchte.«

»Was für Verletzungen?«, fragte Werner Tremmel sofort.

»Keine Verletzungen, die unmittelbar etwas mit der Todesursache zu tun haben. Dennoch können sie in Bezug auf die Tatwaffe durchaus im Zusammenhang mit dem mortalen Genickbruch stehen. Bevor ich hier allerdings eine Aussage machen möchte, ist es seriöser abzuwarten, bis mir die Tatwaffe vorliegt.«

»Die Tatwaffe, sie sprechen von der Keule«, folgerte Werner Tremmel.

»Ja, es könnte eine keulenförmige Tatwaffe sein oder ein stark abgerundetes Kantholz. Ich würde mit dem Abschlussbericht meiner Obduktion gerne warten, bis möglicherweise die Tatwaffe gefunden wurde. Wenn dies nicht möglich ist, werde ich meinen Bericht natürlich auch so spätestens bis Dienstag in der Endfassung vorlegen.«

»Dienstag!« Werner Tremmel sah in die Runde. »Vielleicht können wir Ihnen sogar schon in den nächsten Tagen die Tatwaffe zur Untersuchung geben. Patrick, lass bitte hören, was wir bereits heute Vormittag herausfinden konnten und was den Fall sehr wahrscheinlich schnell zum Abschluss bringen wird.«

Patrick erhob sich, schaltete selbst den Overheadprojektor aus und den Beamer wieder ein und öffnete auf dem Laptop eine neue Präsentation. Dann ging er nach vorne.

»Wir haben eben den Namen Rainer Eckermann genannt. Heute Vormittag haben sich Fakten ergeben, die Rainer Eckermann, 36 Jahre alt, geboren am 4. Juli 1979, wohnhaft in Berlin-Tegel zum Hauptverdächtigen im Todesfall Ken Börder machen.«

Patrick machte einen Schritt nach vorne, um auf die erste Folie seiner Präsentation zu schalten. Thomas war schneller. Auf der Beamerleinwand erschien das Gesicht eines Mannes, darunter alle persönlichen Daten sowie die vollständige Wohnanschrift.

»Wir haben den letzten Wohnsitz unseres Opfers aufgesucht und eine Zeugenbefragung durchgeführt. Ken Börder wurde im Februar dieses Jahres vom Hausmeister der Wohnanlage, in der das Opfer ein Appartement gemietet hatte, zuletzt gesehen. Es ist stark anzunehmen, dass Ken Börder somit auch seit Februar verschwunden ist …«

»Wir nehmen sogar an, dass das der ungefähre Todeszeitpunkt ist«, unterbrach Werner Tremmel Patrick Arnold und wandte sich an Dr. Pohlmann. »Sie liegen also mit sechs Monaten eher richtig, als mit einem Jahr.«

Dr. Pohlmann nickte, wirkte aber etwas irritiert. Werner Tremmel deutete auf seinen Mitarbeiter. »Entschuldige, bitte mach weiter.«

Patrick berichtete jetzt von dem Gespräch mit Hausmeister Blöhmer, von dem Streit zwischen Rainer Eckermann und Ken Börder an jenem Tag Mitte Februar, an dem es in Berlin Schneefall gegeben hatte. Der Streit selbst war nicht das ausschlaggebende Indiz, sondern die Tatsache, dass sich Rainer Eckermann um den Nachlass des Toten gekümmert und das Gerücht verbreitet hatte, dass Ken Börder sich ins Ausland abgesetzt habe.

»Danke Patrick«, sagte Werner Tremmel. »Ich sehe Zeit in Verzug und darum habe ich bei der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Herrn Rainer Eckermann beantragt. Leider gab es hier ein paar Verzögerungen, aber ich denke …«

»Entschuldigung«, warf Marek ein. »Haftbefehl, sagten Sie, aber Sie haben den Mann doch bereits in Gewahrsam, nehme ich an?«

Werner Tremmel grinste. »Ja, genau das unterscheidet uns von der Einheit Kowalski. Wenn wir heute Vormittag Herrn Eckermann in seiner Wohnung angetroffen hätten, dann wäre es ganz bestimmt zu einer vorläufigen Festnahme gekommen. Da das aber nicht der Fall war, habe ich entschieden auf den Haftbefehl zu warten.«

»Aber Sie haben den Mann bereits zur Fahndung ausgeschrieben?«, bohrte Marek weiter.

»Genau das nicht, nicht ohne Haftbefehl.« Werner Tremmel verzog das Gesicht. »Ich habe es schon erlebt, dass ein Verdächtiger ganz schnell eine Horde Anwälte am Start hatte und noch schneller wieder auf freiem Fuß war, mit der Folge, dass dieser Verdächtige danach untergetaucht ist.«

»Ist das denn bei Rainer Eckermann zu erwarten?« Marek sah Patrick an. »Das Milieu, aus dem Opfer und Tatverdächtiger stammen, lässt doch nicht den Schluss zu, dass hier so schnell Anwälte zur Stelle sind, so organisiert sind doch nur wenige Kriminelle. Außerdem nehmen Sie doch selbst an, dass es eine Beziehungstat war, auch wenn Opfer und Tatverdächtiger eine kriminelle Vergangenheit haben.«

Werner Tremmel presste kurz die Lippen aufeinander. »Sind Sie jetzt fertig? Das wird mir langsam zu bunt.« Er atmete hörbar ein. »Wir führen die Ermittlungen. Ich entscheide, wie vorgegangen wird. Morgen kommt es zur Verhaftung, das garantiere ich Ihnen, obwohl ich Ihnen gar nichts garantieren muss. Ich sollte wirklich ein ernstes Wort mit Ihrem Chef sprechen. Roose weiß wenigstens, wo seine Grenzen sind. Der Erkennungsdienst macht seine Arbeit und wir und nur wir ermitteln in diesem Mordfall. Haben Sie das verstanden?«

Marek nickte. Er hätte noch einwenden können, dass die Indizien nicht klar genug auf einen Mordfall hinwiesen, sondern dass es sich so lange noch um einen Todesfall handelte, bis eine Täterschaft bewiesen war. Mark ließ es bei dem Nicken, das einer Entschuldigung für seine kritischen Fragen gleichkam.

Werner Tremmel schwieg einige Sekunden, blickte dann erneut in die Runde. »Ich danke Ihnen für Ihre Beteiligung an diesem Kick Off. Die Sitzung ist beendet.«

*

Die Runde hatte sich überraschend schnell aufgelöst. Als erster hatte Dr. Pohlmann seine Folien zusammengerafft und war aus dem Raum gestürmt. Und auch Werner Tremmel hatte den Befehl zu einem Nachbriefing gegeben, dem Patrick Arnold und Thomas sofort folgen mussten. Die drei Mordermittler verschwanden über den Flur in eines der Büros im zweiten Stock der Keithstraße. Marek hatte eigentlich gehofft, noch ein paar Worte mit Thomas sprechen zu können, aber dazu kam es nicht. Der Sitzungsraum wurde unaufgeräumt zurückgelassen, als sich auch Marek, Hans Schauer und Torsten Regener auf den Weg machten. Marek wollte den Nachmittag nutzen und noch zurück in den Tempelhofer Damm fahren. Die Kollegen zogen es vor, einige ihrer reichlichen Überstunden abzubauen. Torsten war mit dem eigenen Auto da und wollte Hans am Kurfürstendamm absetzen.

Marek hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. In der Yorckstraße blieb er in einem Stau hängen. Er war kurz davor umzudrehen und ebenfalls Feierabend zu machen. Dann ging es überraschenderweise doch voran. Er brauchte noch zwanzig Minuten bis ins Büro. Ulrich Roose würde am Montag wieder zur Arbeit erscheinen. Bis dahin wollte Marek noch so viel wie möglich von dem abarbeiten, was in den letzten vier Wochen liegengeblieben war.

Während sein Rechner hochfuhr musste er wieder an das Gespräch mit Mia denken. Sie hatte den Job tatsächlich noch bekommen, arbeitete sogar schon seit zwei Wochen hier in Berlin. Genau das war es, was Marek grübeln ließ. Warum hatte sie nichts gesagt, welchen Grund hatte sie, sich vor ihm zu verstecken? Wenn es am Ende alles so schnell gegangen ist, warum hatte sie dann sein Angebot nicht angenommen, in der Übergangszeit bei ihm zu wohnen? Sie konnte doch so rasch noch keine eigene Wohnung gefunden haben. Warum hatte sie ein Hotel vorgezogen? Sie musste ja im Hotel wohnen oder bei einer Freundin. Marek überlegte. Wen kannte Mia in Berlin sonst noch. Marek konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals eine Freundin erwähnt hatte. Dann fiel ihm doch ein Name ein. Susanne Seifert war eine Arbeitskollegin aus Münster, die es nach Berlin gezogen hatte, kurz bevor auch Marek wieder zurückgekehrt war. Susanne Seiferts Mutter lebte mit ihrem zweiten Mann bereits in Berlin, und auch Susanne hatte der Liebe wegen, den Weg in die Hauptstadt gefunden. Marek dachte kurz darüber nach, konzentrierte sich dann aber auf den Computermonitor vor ihm auf dem Schreibtisch.

Der Bildschirmschoner hatte sich eingeschaltet. Marek hatte eigentlich Wichtigeres zu tun, als über Mia zu nachzudenken. Es war doch aus zwischen ihnen. Natürlich war es aus, das hatte er doch längst akzeptiert, aber das war es auch nicht. Es war die Kränkung, die Marek jetzt in seinem Inneren spürte, die Ausgrenzung. Er schüttelte den Kopf, er musste sich von diesen Gedanken befreien. Was wollte er noch von Mia, nichts, gar nichts. Er hatte jetzt ganz andere Gefühle. Er musste kurz an Kerstin denken. Sie hatten seit gestern Abend nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl Marek ihr doch von dem Leichenfund berichten wollte. Und von Dr. Pohlmanns heutigem Auftritt. Dann kehrten seine Gedanken doch wieder zu Mia zurück. Er griff zum Telefon, hielt kurz inne und wählte schließlich die Festnetznummer, die er immer noch im Kopf hatte. Das Freizeichen erklang, er ließ es lange klingeln, bis schließlich abgenommen wurde.

»Hallo«, kam es zögerlich.

»Mia? Bist du tatsächlich in Münster«, rutschte es Marek heraus.

»Wie, was meinst du damit?«

Marek fing sich sofort wieder. »Ich dachte nur, du hättest deinen Festnetzanschluss bereits gekündigt, aber da hatte ich die Nummer schon gewählt. Darum war ich überrascht, als du doch abgenommen hast.«

»Gekündigt, nein? Der Nachmieter übernimmt meinen Anschluss. Das Telefon wird nur umgemeldet.« Sie zögerte. »Ich räume hier gerade meine letzten Sachen zusammen.«

»Ganz alleine? Du hättest doch etwas sagen können.«

»So viel ist es nicht mehr und außerdem ...«

»Ja?«, fragte Marek, als Mia nicht weitersprach.

»Nichts«, antwortete sie. »Es sind nur ein paar Kleinigkeiten. Ich war heute auch noch einmal bei meinen alten Kollegen, habe Kuchen vorbeigebracht. Ich war ja von einem auf den anderen Tag verschwunden. Zum Glück gab es beim Stellenwechsel keine Probleme, nur der Alte hat noch einen Spruch abgelassen, aber das war mir dann auch egal.« Sie zögerte erneut.

Marek verstand, dass sie jetzt wissen wollte, warum er anrief. Er dachte nach, änderte dann blitzschnell seinen Plan. Er hatte nicht das Recht, Mia Vorwürfe zu machen. Sie brauchte ihm keine Begründung für ihr Verhalten zu geben, es ging ihn nichts an, nicht mehr und dennoch.

»Ich wollte unser Treffen um einen Tag vorziehen«, hörte er sich sagen. »Am Mittwoch ist mir etwas dazwischengekommen. Wie wäre es bereits am Dienstag, gleicher Ort, gleiche Zeit.«

»Dienstag, nächsten Dienstag.« Mia schien zu überlegen.

»Ja, am Vierten.«

»Eigentlich passt es Dienstag nicht so gut, aber ich bekomme das hin. Mir ist wichtig, dass wir uns treffen.«

»Mir auch, mir ist es auch wichtig. Ich freue mich.«

»Dann also am Dienstag im do Brasil um halb sieben.«

Es klang so, als wenn Mia das Gespräch beenden wollte, und Marek hatte nichts, um es am Leben zu erhalten.

»Bei mir geht es leider erst um acht.«

Mia zögerte. »Gut, dann erst um acht.«

»Schön, wir treffen uns drinnen.« Sie verabschiedeten sich, Marek legte auf.

Er hätte nicht anrufen müssen, es hatte nichts geändert, außer dass er Mia schon am Dienstag sehen würde. Für ein Gespräch, das ihr wichtig war. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken und zog sich die Computertastatur heran. Der Bildschirm erwachte zum Leben. Er konzentrierte sich auf das Bild. Das Mailprogramm hatte sich im Autostart geöffnet und empfing ihn mit den neusten Nachrichten. Die obersten Mails waren von Ulrich Rooses Account an Marek weitergeleitet worden. Es war die Arbeit, die Marek heute noch erledigen wollte. Dann stach ihm aber ein Name ins Auge. Er öffnete die Nachricht, überflog sie und griff sofort wieder zum Telefon.

»Hi!«, meldete sich Thomas. Seine Stimme klang müde. Dann raffte er sich aber auf, noch bevor Marek etwas sagen konnte. »Weißt du, dass Tremmel ein Arschloch ist.«

»Wieso, warst du ihm zu vorlaut? Deine Frage war doch berechtigt.«

»Das mag sein, aber nur Tremmel darf die wichtigen Fragen stellen, es sei denn er fordert einen direkt dazu auf. Patrick hat er aufgefordert, mich aber nicht. Wärt ihr nicht schon dagewesen, dann hätte er mich noch vor der Sitzung rausgeschmissen. Jetzt habe ich es aber quasi schriftlich. Es ist definitiv nicht mein Fall.«

»Weil du andere Fälle hast?« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.

»Ja, aber ...« Thomas ließ es so stehen. »Der Fall ist schon interessant und ich glaube, wenn die Ermittlungen erst so richtig losgehen, kommt Tremmel auch nicht an mir vorbei. Das wäre sonst Ressourcenverschwendung. Patrick hat mich ja auch schon gebeten, mit ihm zusammen das Umfeld unseres Opfers weiter abzuklopfen.«

»Dann wird es aber mal Zeit, dass die Maschinerie losläuft, aber das ist gar nicht der Grund, warum ich anrufe. Hast Du Jürgens Mail auch schon gelesen?«

»Was, Jürgen hat sich gemeldet?«, rief Thomas. »Ich habe Feierabend gemacht, bin gleich los, nachdem Tremmel mir den Einlauf gegeben hat. Und, hat mein Leid bald ein Ende?«

»Sei lieber nicht so euphorisch«, meinte Marek. »Jürgen scheint es in Kunduz ganz gut zu gefallen. Wenn wir Pech haben, verlängert er ein zweites Mal und bleibt bis Ende des Jahres oder noch länger in Afghanistan.«

»Sag nicht, dass er das geschrieben hat?«

»Nein, natürlich nicht. Er schreibt aber wieder, dass er noch nie so dankbar aufgenommen wurde, und, und, und. Diesmal klingt es noch euphorischer. Ich glaube Jürgen hat keine Lust mehr auf uns und seinen Job im Präsidium. Du kannst es ja selbst mal lesen.«

»Ja schon, aber wenn ich das so höre, habe ich auch bald keine Lust mehr. Mich kotzt das alles an ...«

»Aber du kannst Jürgen nicht unbedingt die Schuld daran geben«, sagte Marek.

»Das habe ich ja auch gar nicht gesagt. Ich bin eben gerade etwas angepisst. Und was schreibt er noch?«

»Er plant Heimaturlaub.«

»Na klasse, wann denn?«, rief Thomas.

»Genau kann er das noch nicht sagen. Er schätzt im September oder Oktober, eher Oktober.«

»Und wie lange?«

»Höchstens zwei Wochen. Er hat ein paar private Dinge zu klären, will sich dann aber auch Zeit für uns nehmen«, erklärte Marek.

»Da machen wir eine Sause, das werde ich organisieren.« Thomas lachte. »Und dann hetze ich ihn noch auf Tremmel, wenn der Mistkerl mich bis dahin nicht schon rausgeschmissen hat.«

Sie schwiegen ein, zwei Sekunden.

»Dann hat Jürgen noch etwas angedeutet, aber das solltest du selbst mal lesen, wie er das meint.«

»Bitte was? Rück schon damit raus. Hat er sich auf seine alten Tage vielleicht noch verliebt und plant einen neuen Stamm in Afghanistan zu gründen?« Thomas lachte erneut.

»Auf seine alten Tage kommt schon hin«, antwortete Marek. Er zögerte. »Könnte sein, dass Jürgen im nächsten Jahr ganz aufhören will.«

»Wie, aufhören? Womit?«

»Ruhestand, Rente, Pensionierung. Spätestens Mitte nächsten Jahres. Wie alt wäre Jürgen dann?«

»Weiß ich nicht, muss ich rechnen.« Thomas atmete hörbar ein. »Mitte nächsten Jahres? Er hat im Mai Geburtstag ...«

»Das passt ja und er geht auf die Sechzig zu und hat nach über dreißig Jahren im Polizeidienst den Anspruch auf Ruhestand und einer entsprechenden Pension verdient, auch wenn es nicht die vollen Bezüge sind. Jürgen wird sich das schon genau ausgerechnet haben ...«

»Ist doch alles scheiße. Ich muss ihm unbedingt schreiben oder noch besser einmal anrufen. Bis Oktober kann ich nicht warten.« Thomas schnaubte. »Es ist verflixt. Jürgen hätte mir schon gesagt, wie ich mit Tremmel umgehen muss, damit ich überhaupt wieder einen Stich sehe hier im LKA 1.«

»Wenn Jürgen nicht nach Afghanistan gegangen wäre, gäbe es uns in der alten Form doch noch. Wenn, wenn, wenn ...«, sagte Marek. »Da hättest du nie mit Tremmel zu tun gehabt. Und ich ... obwohl Roose ist schon in Ordnung und die Arbeit auch, nur auf Dauer ...«

Blut und Scherben

Подняться наверх