Читать книгу Kowalskis Mörder - Ole R. Börgdahl - Страница 4
Kowalskis Mörder
ОглавлениеEin Motorroller fuhr knatternd am Haus vorbei. Die Geräusche des Zweitakters entfernten sich, wurden noch einmal lauter, als der Rollerfahrer von der Starnhäuser Straße in den Potsdamer Weg abbog und wieder Gas gab. Marek Quint drehte sich um, schob sich das Kissen unter den Kopf und zog die Bettdecke etwas höher. Er blinzelte mit dem linken Auge Richtung Wecker. Auf der Digitalanzeige war es zwei Minuten vor sechs. Er rückte noch einmal das Kissen zurecht und schlief wieder ein.
Um sechs Uhr zwölf am Sonntag den 7. Februar 2016 erwachte Marek erneut. Diesmal kamen die Geräusche nicht von der Straße. Ein Piepton kroch ihm langsam über die Ohren ins Bewusstsein. Es dauerte ein, zwei Minuten, bis er die Augen aufschlug und im Bett hochfuhr. Er horchte nach dem Piepton, der auch sofort wieder erklang, um dann für ein paar Sekunden auszusetzen. Marek schwang die Beine aus dem Bett, tastete nach seinen Hausschuhen, die er nicht fand. Barfuß ging er über das Parkett, das er erst vor einem Monat im Schlafzimmer verlegt hatte. Die Tür war offen. Er ging auf den Flur und horchte. Der Piepton erklang, als er gerade vor dem Geländer stehengeblieben war. Danach war wieder Stille.
Im ganzen Haus war es dunkel. Marek tastete sich am Geländer entlang bis zum Treppenabgang. Dort blieb er noch einmal stehen, wartete den Piepton ab, der sich erneut einstellte. Erst jetzt war er richtig wach. Er drehte sich um, schlug mit der Hand gegen den Lichtschalter neben der Tür zum Bügelzimmer. Die Energiesparbirne in der Flurlampe gab zunächst nur ein schwaches Licht ab. Marek ging die Treppe hinunter. Als er von der letzten Stufe auf den Fliesenboden trat, piepte es zum wiederholten Male. Im Wohnzimmer lag sein Handy, und von genau dort kam das Signal. Er schaltete die Strahlerreihe über dem Wohnzimmerschrank ein und eilte über den angenehm flauschigen Teppichboden zu der Schale auf dem Sideboard neben der Terrassentür.
Das Display seines Smartphones leuchtete auf, als der Signalton erklang. Marek nahm das Telefon unschlüssig in die Hand. Die Informationsleiste auf dem Display zeigte den Eingang einer SMS an. Marek schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Irgendeine blödsinnige Werbebotschaft hatte ihn an diesem Sonntagmorgen aus dem Schlaf gerissen. Er wollte das Handy ausschalten. Er zögerte, tippte dann doch auf das SMS-Icon. Im selben Moment begann das Telefon sich zu verselbständigen. Ein Programm wurde geladen. Marek versuchte das Schlimmste zu verhindern, aber es war schon zu spät. Das Display wurde blau, der Schriftzug HIKE-Messenger erschien in weißen Lettern. Das Programm installierte sich zu Ende, durchlief mehrere Stadien mit Erklärungen in verschiedenen Sprachen, die Marek so schnell nicht erfassen konnte.
Er versuchte den Akku aus seinem Smartphone herauszudrücken, aber er konnte den Gehäusedeckel mit seinen kurzen Fingernägeln nicht aufhebeln. Dann fror das Display ein, die Installation war offenbar abgeschlossen. Die Startseite verschwand, ein Text erschien. Die Schrift war sehr klein eingestellt. Marek kniff die Augen zusammen. In seinem Kopf arbeitete es, als er die Worte der Nachricht begriff.
*
Thomas Leidtner setzte sich in einen der beiden Sessel die zu Mareks Ledercouchgarnitur gehörten. Gähnend streckte er sich aus und sah kurz auf seine Armbanduhr. Es war viertel vor sieben. Mareks Anruf hatte ihn vor fünfundzwanzig Minuten erreicht. Er war in seine Kleider gestiegen und hatte sich sofort auf den Weg in die Starnhäuser Straße 27 nach Berlin-Frohnau gemacht.
Marek betrat das Wohnzimmer mit zwei Tassen Instantkaffee und stellte sie auf den Tisch vor Thomas ab. Marek hatte sich ebenfalls angekleidet. Thomas griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck.
»Verdammt, ist der heiß!« Er rieb sich die Unterlippe.
Marek achtete nicht darauf. Er hatte sein Smartphone in der Hand und hielt Thomas das Display hin. Thomas beugte sich nach vorne und las den Text.
»Das ist doch ein Scherz«, sagte er kopfschüttelnd, »oder glaubst du wirklich, das Jürgen ermordet wurde?«
»Das ist ja noch nicht alles«, sagte Marek. »Ich habe auch erst gedacht, wer schreibt denn so etwas: Kowalskis Mörder ist in Berlin. Dann kam aber noch etwas und dann habe ich dich angerufen.«
Marek tippte auf seinem Smartphone und hielt Thomas das Telefon erneut hin.
»Wir haben deine Freundin. Wir schreiben auf ihrem Telefon«, zitierte Thomas die Displayanzeige. »Ja, hast du das denn gecheckt, hast du Kerstin endlich erreicht?«
»Bis jetzt noch nicht, sie geht nicht ans Telefon, aber ich probiere es gleich noch einmal.«
»Und du sagtest, Kerstin sei verreist?«, fragte Thomas.
»Nicht verreist, sie ist dieses Wochenende bei einer Freundin.«
»Also doch verreist?«
»Die Freundin wohnt auch in Berlin, in Köpenick. Kerstin ist gestern Vormittag zu ihr gefahren. Sie wollten nachmittags ins Kino gehen und sich dann einen schönen Abend machen, ausgehen, auf eine Party oder so. Ich weiß nicht genau, was geplant war ...«
»Die Freundin wohnt in Köpenick?«, unterbrach Thomas ihn. »Dann lass uns da doch sofort hinfahren und vor Ort klären, ob das hier alles nur ein Scherz ist oder was das sonst sein soll.«
»Die Nachrichten wurden von Kerstins Handy gesendet«, erklärte Marek. »Es ist ihre Nummer, die als Absender angezeigt wird.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Natürlich! Ich habe die Nummer zwar erst nicht erkannt, weil Kerstin ihr altes Handy vor zwei Monaten bei der Bergung einer Wasserleiche verloren hat. Abgesoffen, Handy und SIM-Karte ...«
»Wasserleiche?«, fragte Thomas.
»Ja! Ist doch egal. Sie haben es im Schlick nicht wiedergefunden. Kerstin wollte sich dann das iPhone SE kaufen, aber das gibt es erst im März ...«
»Was? Was erzählst du da?« Thomas schüttelte den Kopf. »Dann bist du dir doch nicht sicher, dass es Kerstins Nummer ist, denn die ist ja beim Bergen einer Wasserleiche abgesoffen ...«
»Verdammt, nein! Ich bin mir sicher«, rief Marek. »Ich hatte noch ein altes Galaxy mit Prepaid-Karte. Die habe ich wieder aufgeladen, bis Kerstin ihr verdammtes SE bekommt und ihre alte Nummer wieder aktiviert wird. Sie hat es sogar schon bestellt.«
»Zeig mal die Nummer her.«
Marek nahm das Smartphone wieder an sich und öffnete sein Telefonbuch. Er hielt Thomas den geöffneten Eintrag schließlich hin, der sich die ersten sechs Zahlen zu merken versuchte.
»Und jetzt die Nummer, über die diese blöden Nachrichten gekommen sind«, sagte er.
Marek fuhr mit dem Finger über das Display und tippte bei der HIKE-App auf Absender. Die Nummer wurde angezeigt. Thomas starrte ein, zwei Sekunden darauf und nickte.
»Stimmt das ist ihre Nummer, wenn das ihre Nummer ist. Sind zumindest identisch.«
»Und wenn ich anrufe, nimmt sie nicht ab«, sagte Marek und wählte erneut Kerstins Handynummer. Wie bei den Malen zuvor schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
»Scheiße!«, rief Marek. »Du kannst sagen, was du willst, aber da stimmt doch was nicht.«
»Du sagtest, die haben gestern Party gemacht? Ist doch möglich, dass die beiden besoffen sind und dich nur verarschen wollen. Und wenn wir da aufkreuzen, dann pennen die gerade ihren Rausch aus.«
»Kerstin besäuft sich doch nicht.« Marek schüttelte den Kopf.
»Wie heißt denn die Freundin?«
»Steffanie Hartfeld.«
»Und kennst du sie auch?«
»Nein, nicht richtig.«
»Was heißt nicht richtig?«
»Ich kenne sie eigentlich gar nicht. Ich weiß nur, dass sie seit einigen Monaten wieder Single ist ...«
»Single!« Thomas grinste. »Dann lass uns sofort hinfahren.«
»Jetzt hör doch mal auf, verdammt«, rief Marek und ließ sich auch in einen der Ledersessel fallen.
»Sorry!«, sagte Thomas nur. »Was weißt du noch über diese Steffanie?«
»Sie hat sich vor ein paar Monaten von ihrem Mann getrennt. War wohl ein bisschen stressig, besonders die Zeit unmittelbar danach. Kerstin hat fast eine Woche lang jeden Abend mit ihr telefoniert.«
»Telefoniert«, wiederholte Thomas. »Probiere noch mal, Kerstin zu erreichen.«
»Habe ich doch gerade.«
»Mach einfach!«
Marek nickte und ließ sein Smartphone erneut wählen. Er hielt es sich erst ans Ohr, stellte dann aber den Lautsprecher an und legte das Telefon auf den Wohnzimmertisch, als wieder nur der Anrufbeantworter ansprang.
»Los, frag sie, was das soll«, rief Thomas.
Marek schüttelte den Kopf und unterbrach die Verbindung. »Ich habe so ein komisches Gefühl.«
»Dann lass uns fahren.« Thomas erhob sich aus seinem Sessel und blieb vor Marek stehen.
Marek rührte sich nicht, dann nahm er das Smartphone vom Tisch, suchte über das Display den Nummernspeicher und ließ das Telefon erneut wählen. Die Verbindung kam zustande, aber auch diesmal sprang ein Anrufbeantworter an. Eine beschwingte Frauenstimme war zu hören.
»Hi, Steffie hier, kann grad nicht ans Telefon gehen. Würde mich aber über eine Nachricht freuen. Tschüüüüß!«
»Ist sie das?«, fragte Thomas. »Kling doch ganz nett. Single sagst du, kannst mir ja mal ihre Nummer geben.« Thomas grinste.
»Ich finde das gar nicht lustig«, sagte Marek und unterbrach die Verbindung, bevor der Signalton des Anrufbeantworters zu hören war. »Außerdem habe ich ihre Handynummer nicht, war der Festnetzanschluss.«
»Köpenick, lass uns endlich fahren. Sicher klärt sich das alles und wir gehen gemeinsam einen Kaffee trinken, Kerstin, du, diese Steffanie und ich.«
»Das dauert zu lange«, sagte Marek. »Das dauert alles jetzt schon viel zu lange. Wir brauchen eine Stunde nach Köpenick.«
»Aber doch nicht am Sonntagmorgen?«
»Gut, lass es eine dreiviertel Stunde sein, wenn wir mit Blaulicht fahren.« Marek schüttelte den Kopf.
»Und was willst du dann tun?«, fragte Thomas und setzte sich wieder.
»Ich rufe jetzt ein Revier in Köpenick an. Ich habe die Nummer vorhin schon herausgesucht. Da soll mal eine Streife nachsehen, das geht schneller.«
»Und was glaubst du, sagt Kerstin dazu, wenn sie und ihre Freundin von einem Sondereinsatzkommando aus dem Bett geklingelt werden? Wenn die gestern auf Piste waren, dann schlafen die jetzt noch.« Thomas sah auf seine Armbanduhr. »Mann, es ist erst kurz vor sieben. Wenn wir sofort losfahren, dann sind wir um acht da, warten noch eine halbe Stunde und überraschen die Mädels mit frischen Brötchen, die wir unterwegs organisieren.« Thomas grinste erneut.
»Du kapierst das wohl nicht, da ist was nicht in Ordnung«, rief Marek.
»Hey, ich kann das aber nicht sehen, dass da was nicht in Ordnung ist.« Thomas gestikulierte in die Luft. »Oder nimmst du diese albernen Nachrichten wirklich für voll?«
»Ja, das tue ich.« Marek zögerte. »Nachdem ich bei dir angerufen habe ist nämlich noch etwas gekommen.«
Thomas verdrehte die Augen. »Lass mich raten, die haben eine Bombe unter Tremmels Arsch deponiert und werden die zünden, wenn wir nicht tun, was sie wollen. Frage ist nur, was die wollen.«
»Ich kann dir genau sagen, was die wollen.« Marek wischte über sein Smartphone und hielt es Thomas hin.
*
Marek kam zurück ins Wohnzimmer und legte sein Festnetztelefon auf das Sideboard. Thomas blickte von Mareks Smartphone auf.
»Was hast du den Kollegen erzählt?«
»Kerstin wird dringend im Krankenhaus gebraucht und man konnte sie nicht erreichen.«
»Die sind doch nicht blöd«, sagte Thomas kopfschüttelnd. »So dringend ist es doch in der Pathologie niemals.«
»Ich habe ja auch nichts von der Gerichtsmedizin erzählt, ich habe nur angedeutet, dass Kerstin Ärztin ist und ein Patient ihre Hilfe benötigt.«
»Sehr fantasievoll. Was sagen die, wie lange sie brauchen, um die Adresse zu checken?«
»Zehn Minuten. Sie wollen eine Streife schicken, die ohnehin gerade in der Gegend unterwegs ist.«
Thomas hielt Mareks Smartphone hoch. »Und was machen wir jetzt damit?«
»Hast du es an den Drucker gesendet?«
»Glaub schon, wenn ich es richtiggemacht habe.«
Marek drehte sich um, ging aus dem Wohnzimmer über den Flur ins Arbeitszimmer und kehrte dreißig Sekunden später mit zwei engbedruckten Seiten zurück. Er zog den zweiten Ledersessel neben Thomas’ Platz und setzte sich.
»Fassen wir das doch mal zusammen«, sagte er schließlich. »... Kowalskis Mörder ist in Berlin ... und ... Wir haben Deine Freundin ...«
»Das werden wir dann ja wohl gleich genauer wissen, wenn die Streife sich gemeldet hat.« Thomas sah zum Telefon, das auf dem Sideboard neben der Schale mit dem künstlichen Obst lag.
»Bleibt noch der angebliche Mord an Jürgen.« Marek überflog noch einmal den Ausdruck, der als PDF-Dokument an der HIKE-Nachricht angehängt war. »Meinst du, dass dieser sogenannte interne Bericht aus dem Auswärtigen Amt echt ist?«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Ist von der Aufmachung her etwas schlicht, keine Siegel oder so.«
»Soll ja auch nur ein interner Bericht sein. Kennst du jemanden, der uns die Echtheit bestätigen könnte?«
Thomas zuckte erneut mit den Schultern. »Ich kann bestimmt jemanden auftreiben, aber heute nicht mehr, es sei denn, wir gehen den offiziellen Weg.«
»Gut, gehen wir davon aus, dass das hier echt ist«, sagte Marek und tippte mit dem Finger auf das Papier. »Lass uns doch mal von vorne anfangen. Das ist jetzt gut ein Jahr her, dass Jürgen nach Afghanistan gegangen ist und als eine Art Entwicklungshelfer Afghanische Polizei-Offiziere in Kunduz ausgebildet hat.«
»Das war auch im Februar«, überlegte Thomas. »Ich war vom sechzehnten bis zwanzigsten auf Teneriffa, gleich danach hat Jürgen seinen Ausstand gegeben und ich war ganz überrascht, als es plötzlich hieß, dass du ihn in den drei Monaten vertreten solltest.«
»Ich war auch überrascht, vor allem als Jürgen seine Mission verlängert hat und ich ihn weiterhin der kommissarische Leiter der Operativen Einheit sein sollte.«
»Du warst sein Vertreter, aber wir haben es gemeinsam geschafft, dass man uns aufgelöst hat.« Thomas überlegte. »Zu dem Zeitpunkt hätte Jürgen schon zurückkommen müssen, dann wäre mir Tremmel erspart geblieben.«
»Ist er aber nicht und ich finde, wir haben uns ganz gut selbst wieder ins Spiel gebracht.«
»Ja, meinetwegen, aber als Jürgen im September auf Besuch in Berlin war, habe ich ihm schon gesagt, dass es unsere Operative Einheit ohne ihn ziemlich schwer hat, gegen die anderen Kommissariate im Dezernat anzustinken. Da hat er mir allerdings nicht verraten, dass er seine Ausbildungsmission sogar noch ein zweites Mal verlängern wollte.«
»Ich ...« Marek zögerte. »Ich habe auch mit ihm gesprochen. Vielleicht hat er es dir nicht direkt gesagt, aber wenn er im Mai zurückkommt, will er ohnehin nicht weitermachen, das wollte er im September alles fix machen.«
»Was?«, rief Thomas. »Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Will er sich versetzen lassen? Davon hat er mir aber nichts erzählt, das kann nicht sein.«
»Ruhestand«, sagte Marek und überlegte. »Außerdem musst du doch davon gewusst haben. Erinnerst du dich an die E-Mail, die er uns im Juli oder August vergangenen Jahres geschrieben hat?«
»Er hat so oft geschrieben. Im Juli sagtest du?«
»Ja, du musst dich doch daran erinnern. Wir waren gerade an dem Stolle-Börder Fall dran ...«
»Der Tiefpunkt meine Karriere«, bemerkte Thomas.
»Und gleichzeitig die Auferstehung der Einheit Kowalski, wie sie Roose immer genannt hat«, warf Marek ein.
»Da hast du auch wieder recht. Und Jürgen hat damals geschrieben, dass er an Ruhestand denkt?« Thomas dachte nach. »Stimmt, du hast es mir am Telefon erzählt, dass Jürgen eine E-Mail geschickt hat. Die habe ich nie gelesen, weil ich an dem Tag besonders großen Stress mit Tremmel hatte und so richtig scheiße drauf war.«
»Kann sein, jedenfalls hatte Jürgen vor noch dieses Jahr in den Ruhestand zu gehen. Vom Alter her würde es ja passen.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Eigentlich passt das gar nicht zu ihm?«
»Aber als er im September noch einmal in Berlin war, hat er es auch erwähnt« erwiderte Marek. »Wir haben allerdings nur kurz darüber gesprochen.«
»Mir hat er es nicht noch einmal gesagt.« Thomas überlegte. »Ich glaube du hast das falsch verstanden. Jürgen hat immer gesagt, dass er den Job machen will, bis sie ihn zwangsweise in Rente schicken.«
»Dann habe ich es vielleicht wirklich falsch verstanden«, sagte Marek leise und blickte noch einmal auf das PDF-Dokument. »Im September ist Jürgen zurück nach Kunduz und im Dezember ist er dann ...«
»Ich glaube das noch immer nicht«, sagte Thomas kopfschüttelnd. Er überlegte. »Wann hat er sich zuletzt gemeldet? Er muss sich doch Weihnachten gemeldet haben?«
Marek zuckte mit den Schultern.
»Wo sind seine Mails?«, fragte Thomas und zückte sein eigenes Smartphone. »Ich habe doch bestimmt noch seine Mails.«
Marek beugte sich zu Thomas hinüber, der durch seinen Maileingang scrollte. Im Dezember fand er gar nichts, keine Weihnachtsgrüße. Im November auch nichts. Offenbar hatte sich KHK Jürgen Kowalski zuletzt am 10. Oktober des vergangenen Jahres gemeldet.
»Stimmt, die Nachricht habe ich auch bekommen«, sagte Marek. »Das war zwei Wochen, nach seinem Heimaturlaub.«
»Und danach hast du auch nichts mehr von ihm gehört?«
Marek durchsuchte jetzt ebenfalls den Mail-Eingang auf seinem eigenen Telefon, schüttelte dann aber den Kopf. »10. Oktober, die Mail hat er an uns beide geschickt.«
Marek sah einen Anhang an der Mail und öffnete ihn. Auf der Fotografie befand sich Jürgen Kowalski mitten in einer Gruppe von uniformierten Polizisten. Im Hintergrund war ein großes Gebäude zu sehen, an dem die deutsche und die afghanische Flagge gehisst waren. Neben Jürgen Kowalski stand eine kleine Frau mit Kopftuch und einem bodenlangen weißen Umhang. Marek erinnerte sich, dass er im September von seiner Dolmetscherin gesprochen hatte.
»Wir schreiben ihm einfach«, sagte Thomas, nachdem sie sich ein paar Sekunden lang die Aufnahme angesehen hatten. »Oder wir rufen an. Wie spät ist es da jetzt?«
Marek zuckte mit den Schultern. »Drei oder vier Stunden weiter, glaube ich.« Er sah auf seine Armbanduhr. »11:00 Uhr am Vormittag.«
»Das ist ja perfekt. Und ich habe sogar Jürgens Handynummer.«
Er suchte bereits in den Kontakten auf seinem Smartphone und fand auch die Nummer, die er sofort wählte. Marek sah ihn skeptisch an, während Thomas sich darauf konzentrierte, dass eine Verbindung zustande kam.
»Scheiße, tot«, fluchte er und ließ es gleich noch einmal wählen.
Marek suchte in der Zwischenzeit auf seinem eigenen Telefon nach einer anderen Nummer. Thomas fluchte erneut.
»Jürgen hat doch damals gesagt, dass es über Festnetz besser geht«, sagte Marek und hielt sich das Telefon ans Ohr.
»Und?«, fragte Thomas nach einer gefühlten Minute.
Marek hob die Hand, schüttelte dann aber sofort den Kopf. »Jetzt ist besetzt, aber es hat ziemlich lange geklingelt.«
»Warte doch, vielleicht ruft er zurück.«
Marek nickte. »Ich weiß jetzt, dass Jürgen immer in Deutschland angerufen hat und nicht umgekehrt. Er hatte da irgendeinen Zugriff auf ein Satellitentelefon oder so.«
»Satellitentelefon? Du meinst von der Bundeswehr?«
»Nein, die ist da ja nicht mehr. Jürgen hat in der Deutschen Botschaft in Kunduz gewohnt und konnte dort auch die Infrastruktur nutzen.«
»Dann rufen wir in der Botschaft an, die können doch sagen, wo Jürgen gerade ist und ihn vielleicht ans Telefon holen.«
Thomas fing sofort an auf seinem Smartphone zu googeln. Marek sah ihm zu, begann dann selbst auf seinem Gerät zu suchen.
»Ich habe da eine Nummer«, rief Thomas plötzlich.
»Die siebenundsiebzig sechsundsechzig am Ende?«
»Ja, genau, Vorwahl null, null, neun, drei.« Thomas tippte die Zahlen in sein Telefon, musste aber feststellen, dass ein Besetztzeichen erklang noch bevor er die vollständige Nummer gewählt hatte. Er versuchte es dreimal.
»Lass es, hier steht, dass es von Deutschland aus derzeit nicht möglich ist, eine Verbindung zu bekommen. In dringenden Fällen soll man sich an das Auswärtige Amt wenden, wenn man Kontakt zur Botschaft oder dem Botschafter aufnehmen will.«
»Das ist doch ein dringender Fall«, rief Thomas. »Lass uns beim Auswärtigen Amt anrufen.« Er stockte, und obwohl er den Vorschlag gemacht hatte, schüttelte er jetzt den Kopf. »Ich denke, es ist einfacher, Kerstin zu finden und diese Sache erst einmal zu klären.«
Marek nickte und tippte dabei etwas in sein Smartphone. »Ich schreibe Jürgen eine Mail. Vielleicht meldet er sich, noch bevor wir uns beim Auswärtigen Amt lächerlich machen. Ich nehme dich in Kopie.«
Thomas hatte sich noch einmal den PDF-Ausdruck genommen und studierte den Text. »Hier steht, der Verlauf der Entführung kam so überraschend, dass die Bundesrepublik Deutschland und insbesondere das Auswärtige Amt einen Nachrichtenstopp verhängt haben. Über den Vorfall soll bis auf weiteres nichts nach außen dringen ...«
»So etwas können die gar nicht verheimlichen«, sagte Marek. Er tippte wieder auf seinem Smartphone. »Irgendwo im Netz muss es einen Hinweis geben, das Teil hier ist nur so langsam. So ein Mist.«
Er sprang auf, griff sich im Vorbeigehen das Festnetztelefon vom Sideboard und verließ den Raum. Thomas folgte ihm ins Arbeitszimmer. Es dauerte ein paar Minuten, bis Mareks Laptop hochgefahren war. Dann saßen sie weitere zehn Minuten vor dem Rechner, ohne dass die Suche zu einem konkreten Ergebnis führte.
»Also glauben wir das jetzt, was hier abgeht?«, fragte Thomas schließlich.
»So lange wir Kerstin nicht erreichen ...«, antwortete Marek unschlüssig. Er überlegte. »Wenn es stimmt, dann stellt sich nur die Frage, ob nicht vielleicht auch der Innensenator gewusst hat, was mit Jürgen passiert ist, wenn überhaupt etwas passiert ist.«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Das sind doch zwei unterschiedliche Behörden, der Innensenator von Berlin und das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland. Das sind sogar zwei verschiedene Welten.«
»Ja, aber der Innensenator muss doch was gewusst haben. Die haben Jürgen doch auch nur freigestellt und nicht zum Auswärtigen Amt versetzt.« Marek überlegte. »Wie hieß noch der Typ, der uns damals den Reisebürofall wegnehmen wollte, der mich angerufen hat, dieser Referent?«
»Jürgen Haitmann«, sagte Thomas, »aber den kannst du nicht fragen, der nimmt dir die Sache doch noch immer übel. Der hat doch auch einen Anschiss bekommen, als wir Lorenz Mittag in Babelsberg geschnappt haben.«
»Wer könnte uns das mit Jürgen denn sonst noch bestätigen?«
»Na, vielleicht doch der Polizeipräsident«, meinte Thomas und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»So kommen wir nicht weiter. Also können wir das, was mit Jürgen passiert ist, glauben oder nicht.« Marek nahm das zweite Blatt. »Ob wir es glauben, ist allerdings entscheidend für das hier. Kennst du diesen Harald Prossmann?«
»Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, warum. Der ist auch beim Auswärtigen Amt. Das sind doch gerade die Typen, die uns mit Jürgen verarscht haben, wenn das Ganze selbst keine richtig große Verarsche ist. Was macht ein Staatssekretär eigentlich?«
»Das ist ein Beamter, der höchste Beamte in einem Ministerium«, erklärte Marek. »Kommt wahrscheinlich gleich nach dem Minister. Allerdings gibt es im Auswärtigen Amt drei Staatssekretäre. Michael Roth ist von der SPD und Staatsminister für Europa. Maria Böhmer ist das Gegenstück von der CDU.«
Thomas nickte. »Staatminister, was du alles weißt.«
»Ich habe das vorhin auch erst gegoogelt, da findet man wirklich alles.«
»Wenn das immer so stimmt«, stellte Thomas fest.
Marek zuckte mit den Schultern. »Wird schon alles richtig sein. Das darf man nicht unterschätzen, was alles plötzlich im Internet auftaucht und der Wahrheit entspricht.«
»Nur von der Sache mit Jürgen stand da nirgends etwas«, warf Thomas ein.
»Das hast du ja eben selbst überprüft«, sagte Marek und überlegte.
»Egal, was ist jetzt mit diesem Prossmann?«
Marek nickte. »Ja, Harald Prossmann ist ebenfalls von der SPD. Er steht eigentlich hinter Roth und Böhmer, aber er hat Ambitionen.«
»Ambitionen?«, wiederholte Thomas.
»Prossmann ist derzeit in den Medien stark vertreten, Er steht seit einem guten halben Jahr sogar unter Personenschutz, wobei nirgends ein direkter Grund dafür angegeben wird ...«
»Da haben wir es doch«, rief Thomas. »Mir kam der Name gleich so bekannt vor.«
»Das würde zu dem hier gut passen.« Marek tippte wieder auf die zweite Seite des Ausdrucks. »Prossmann arbeitet schon seit mehr als zehn Jahren im Auswärtigen Amt und ist ein Experte für die Beziehungen zu Afghanistan und den arabischen Ländern. Prossmanns politische Ambitionen haben anscheinend damit begonnen, dass er sich öffentlich gegen die Politik der Offenen Tür von Kanzlerin Merkel geäußert hat. Er warnt angeblich seit Jahren vor dem Terrorismus, der insbesondere aus den durch die Taliban und den IS unterwanderten Staaten ausgeht und der nach seinen Aussagen bis nach Europa schwappen wird oder sogar schon geschwappt ist.«
»So ganz Unrecht hat der damit ja nicht«, sagte Thomas.
»Ich glaube, es geht hier nicht um Recht haben, sondern darum, dass sich jemand mit entsprechenden Aussagen in die Öffentlichkeit rücken möchte.«
»Und das tut Prossmann?«
»Es sieht zumindest so aus. Seit gut zwei Jahren ist er politisch aktiver. Prossmann wird als SPD-Listen-Kandidat für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus gehandelt.«
»Wann findet die Wahl statt, doch heute nicht, oder?«
»Nein, nein, das ist noch ein bisschen hin, erst im September, aber wenn man da auftrumpfen will, muss man früh beginnen. Prossmann lehnt nicht nur die Politik der Kanzlerin ab, sondern agiert auch gegen den eigenen Mann, gegen unseren Regierenden Bürgermeister Michael Müller. Es wird sogar von einer Konkurrenzsituation innerhalb der Partei gesprochen.«
»Also ist der Mann wichtig, und wer wichtig ist, hat Feinde.« Thomas nahm Marek das Blatt Papier aus der Hand und überflog es selbst noch einmal.
»Jetzt, wo wir das so durchgekaut haben«, sagte Marek nach einer Minute des Schweigens, »glaube ich langsam auch, dass es nur eine Räuberpistole ist, irgendein Gag, der uns den Sonntagmorgen verderben soll.«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Der letzte Satz ist sowohl eine Drohung, als auch ein konkreter Auftrag an uns.« Er zitierte den Text. »Wir bekommen Prossmann, du deine Freundin.«
»Nicht an uns, sondern an mich, es ist ja schließlich meine Freundin«, sagte Marek eindringlich.
»Gut, aber du hast mich da reingezogen. Du hast mich schließlich angerufen.« Thomas stutzte. »Durftest du das überhaupt?«
»Wenn nicht, ist es nicht meine Schuld«, sagte Marek. »Die haben nämlich den üblichen Satz vergessen, dass ich die Polizei nicht einschalten und zu niemandem über die Sache reden darf.«
»Gut, dann werden die es dir sagen, wenn es doch ein Fehler war, mich einzuschalten«, entgegnete Thomas.
»Aber was soll ich denn jetzt unternehmen«, sagte Marek fast flehentlich. »Soll ich diesen Harald Prossmann in meine Gewalt bringen und ihn gegen Kerstin austauschen?«
Thomas seufzte, dann erstarrten beide, als der Festnetzapparat zu klingeln begann. Marek griff nach dem Telefon und nahm das Gespräch an. Es dauerte keine Minute. Er nickte mehrmals und bedankte sich schließlich.
»Was ist, waren sie das?«, fragte Thomas sofort.
Marek antwortete nicht gleich, sondern lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Es war das Revier in Köpenick. Die haben nicht viel gemacht. Die haben unten geklingelt, aber es hat niemand geöffnet. Sie konnten nicht ins Haus rein. Außen haben sie sich dann nur noch die Fenster angesehen. Die Gardinen waren zugezogen, alles ganz normal ...«
»Und haben die auch durch die Fenster geschaut?«, warf Thomas ein.
»Ging nicht, Steffanie Hartfeld wohnt im vierten Stock.«
»Kein Licht nichts?«, fragte Thomas.
Marek zuckte mit den Schultern.
»Hausdurchsuchung, die sollen sich vom Hausmeister oder so die Wohnungstür öffnen lassen.«
»Das geht doch nicht«, sagte Marek. »Die haben geklingelt, die haben geschaut. Es war niemand da, fertig.«
»Und das heißt was?« Thomas schüttelte den Kopf.
»Das heißt noch gar nichts«, antwortete Marek.
»Das glaubst du doch selbst nicht. Ruf noch mal auf dem Revier an, die sollen das volle Programm fahren. Sag einfach, Gefahr in Verzug.«
»Gefahr in Verzug«, wiederholte Marek und ihm wurde jetzt wieder bewusst, dass hinter den ominösen Nachrichten mehr stecken konnte.
Thomas nahm ihm das Telefon aus der Hand und begann eine Nummer einzutippen. Er ließ es klingeln, stellte den Lautsprecher ein. Das Freizeichen ertönte dreimal.
»LKA Fahndung, Sie sind mit der Zentrale verbunden«, meldete sich eine Beamtin.
Thomas autorisierte sich kurz. »Ich möchte bitte einen roten Opel Astra Kombi Typ K zur Fahndung ausschreiben. Die Halterin ist Frau Dr. med. Kerstin Sander. Es geht nur darum, festzustellen, wo sich das Fahrzeug derzeit befindet. Falls die Kollegen Frau Dr. Sander an ihrem KFZ antreffen, bitte ich um Kontaktaufnahme.«
»Sander, Kerstin, Dr. med.«, wiederholte die Beamtin. »Haben Sie auch das Kennzeichen des Fahrzeugs?«
Marek nannte ihm das Kennzeichen von Kerstins Opel, das Thomas an die Beamtin weitergab.
»Könnten Sie bitte auch gleich feststellen, ob auf eine Frau Steffanie Hartfeld ebenfalls ein KFZ zugelassen ist?«
»Einen Moment bitte.« Ein leises Tastaturtippen war zu hören. »Hartfeld, Steffanie, wohnhaft im Bezirk Köpenick, Kladden Straße 27.« Die Beamtin nannte auch noch das Geburtsdatum von Steffanie Hartfeld. Marek nickte.
»Kladden Straße, ja, das ist sie«, bestätigte Thomas der Kollegin. »Um was für ein Fahrzeug handelt es sich?«
»Ebenfalls ein Opel Astra, Typ K, aber in weiß. Und dieser Wagen soll auch zur Fahndung ausgeschrieben werden?«
»Ja, bitte. Es geht mir wie gesagt nur um den derzeitigen Standort der Fahrzeuge.« Bevor Thomas auflegte, gab er noch seine Handynummer an die Beamtin des Fahndungsdezernats weiter.
»Und jetzt müssen wir uns noch um die Wohnungsdurchsuchung kümmern«, sagte Thomas, nachdem er aufgelegt hatte. »Was machen wir also?«
»Du hast es doch selbst vorgeschlagen«, antwortete Marek. »Wir fahren da jetzt sofort hin.«
Marek war schon aufgesprungen, als sein Smartphone mit einem Signalton den Eingang einer neuen Nachricht ankündigte. Er verharrte in der Bewegung. Auf dem Display des Telefons leuchtete das Symbol der HIKE-App auf.
*
»Da hast du deine Antwort«, sagte Thomas und öffnete die PDF-Datei, die an der jüngsten HIKE-Nachricht angehängt war.
»Wenn ich tue, was die wollen ...« Marek atmete tief ein und schüttelte dann den Kopf. »Verdammt, das kann ich doch nicht machen, wie soll ich an diesen Prossmann herankommen. Ich kann doch nicht einfach so zu dem Team der Personenschützer stoßen. Die müssen doch von oben eine offizielle Mitteilung bekommen, sonst geht da gar nichts.«
Thomas scrollte auf Mareks Smartphone. »Die haben Prossmanns Tagesablauf mitgeschickt. Ein ganz schön voller Terminkalender und das auf einem Sonntag. Und hier sind sogar die Namen seiner Bodyguards, eine Sicherungsgruppe des BKA. Das sind Zweierteams. Ach, schau an, den Einsatzleiter kenne ich sogar, das ist doch der Kai, Kriminaloberkommissar Kai Bokel.«
Marek blickte auf.
»Kai Bokel hat die Tagschicht«, fuhr Thomas fort, »zusammen mit KK Lutz Hohenbach. Den kenne ich allerdings nicht.«
»Was soll ich jetzt machen?«, fragte Marek. »Und woher haben die überhaupt diese ganzen Informationen?«
Thomas überlegte. »Entweder ist das immer noch ein riesen Fake, oder die sind wirklich mächtig. Du musst da mitspielen, es sei denn Kerstin meldet sich in den nächsten zehn Minuten, oder die Fahndung findet sie.«
Marek nahm Thomas das Smartphone aus der Hand und wählte Kerstins Nummer aus dem Telefonspeicher. Er wartete einige Sekunden. »Verdammt!«, rief er und schleuderte das Telefon auf den Sitz des Bürostuhls. Marek sah Thomas an. »Wieso zehn Minuten?«
Thomas deutete auf das Smartphone. »Prossmann hat seinen ersten Termin um Viertel nach acht. Wenn du dabei sein willst, musst du dich bei Kai Bokel melden.«
»Und wenn er meine Mitarbeit ablehnt?«
»Du musst es probieren. Sie werden es wissen, wenn du nichts unternommen hast.«
»Und wie komme ich an diesen Kai Bokel heran?«
Thomas erhob sich und nahm Mareks Smartphone von der Sitzfläche des Bürostuhls. »Die wissen alles«, sagte er und scrollte wieder in dem PDF-Dokument aus der letzten HIKE-Nachricht. Er hielt Marek das Telefon schließlich hin. »Ruf ihn einfach an. Die haben seine Nummer ja gleich mitgeliefert. Die haben wirklich an alles gedacht.«
»Moment, und was mache ich, wenn er mich nicht nimmt?«, fragte Marek. »Ich muss in jedem Fall nach Köpenick, egal ob die Fahndung Kerstin findet oder nicht. Und wenn sie nur ihr Auto finden, muss ich erst recht hin.«
»Du hast einen klaren Auftrag«, rief Thomas. »Du musst dich bei Kai Bokel melden und du musst an Prossmann herankommen ...«
»Um dabei zu helfen, ihn zu entführen oder zu ermorden oder was immer die von mir verlangen?« Marek schüttelte den Kopf.
»Nein, du hast es doch selbst in der Hand. Du spielst deren Spiel mit und am Ende sorgst du dafür, dass Prossmann nichts passiert. Das kannst du allerdings erst machen, wenn wir wissen, was mit Kerstin los ist, oder wenn sie eindeutig in Sicherheit ist.« Thomas machte eine Pause. »Pass auf, ich werde mich darum kümmern. Ich fahre nach Köpenick. Ich bringe Kerstin in Sicherheit, wenn das nötig ist. Du spielst das Spiel mit. Nimm jetzt das Telefon und rufe Kai Bokel an.«
Marek setzte sich an den Schreibtisch, nahm Zettel und Bleistift zur Hand und schrieb die Telefonnummer zunächst aus dem PDF-Dokument auf das Papier. Dann tippte er die Nummer in sein Telefon, speicherte sie unter Kontakte und ließ sie anschließend wählen. Während die Verbindung aufgebaut wurde, stellte er den Lautsprecher ein und sah Thomas an, der jetzt mithören konnte. Marek wandte sich erst ab, als Kriminalkoberkommissar Kai Bokel abnahm. Marek stellte sich vor und kam ohne Umschweife auf sein Anliegen zu sprechen. Marek drehte sich wieder zu Thomas um, als sie Kai Bokels Reaktion hörten.
»Klasse, dass das so schnell geklappt hat. Quint war Ihr Name?«
»Ja, vom LKA hier in Berlin.« Marek hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, aber er kam gar nicht dazu, irgendetwas zu begründen.
»Finde ich toll, dass ihr euch spontan für solche Sondereinsätze zur Verfügung stellt. Ein Kollege fällt nämlich heute Vormittag aus. Vielleicht kennen Sie ja Lutz Hohenbach, dem passt es heute erst am Nachmittag. Sein Kleiner spielt nämlich bei einem Fußballturnier. Das müsste er canceln, wenn Sie sich nicht gemeldet hätten. So ist es aber optimal.«
»Lutz Hohenbach, den Kollegen kenne ich leider nicht«, sagte Marek. »Dann habe ich ja jetzt etwas gut bei ihm.«
»Ja, und bei mir natürlich auch.« Kai Bokel lachte. »Heute Nachmittag sind wir besser aufgestellt. Wenn Lutz dann zum Dienst kommt, reicht es, wenn Sie bis halb drei bleiben. Sie brauchen also keine der üblichen Zwölf-Stunden-Schichten zu machen.«
»Oh, das habe ich nicht gewusst«, sagte Marek und tat überrascht. »Ich habe mich tatsächlich auf eine Zwölf-Stunden-Schicht eingestellt.«
»Nein, nein, das mache ich schon«, erklärte Kai Bokel, »obwohl wir uns sonntags in der Regel immer aufteilen können. Ein Mann am Vormittag, einer am Nachmittag, wenn unser Kunde den Sonntag gemütlich zu Hause verbracht hätte. Leider hat Herr Dr. Prossmann seine heutigen Termine kurzfristig eingeplant.«
»Ich habe kein Problem, heute eine Zwölf-Stunden-Schicht zu machen«, sagte Marek schnell und dachte dabei an seinen unfreiwilligen Auftrag.
»Wenn Sie meinen, ich hatte den Nachmittag eigentlich auch schon verplant. Wir können das später ja noch einmal besprechen, vielleicht ist das ja auch nichts für Sie und Sie sind ganz froh, wenn Ihre Zeit um ist.« Kai Bokel lachte. »Übrigens, kennen Sie den Herrn Staatssekretär Dr. Prossmann eigentlich?«
»Ich habe nur ein kurzes Dossier erhalten«, antwortete Marek. »Politiker, Auswärtiges Amt, das ist schon alles. Gibt es eine aktuelle Bedrohung?«
»Eine aktuelle Bedrohung?«, wiederholte Kai Bokel und schien kurz zu überlegen. »Wenn es die nicht gäbe, wären wir nicht am Start. Ich denke, das können wir später auch noch einmal besprechen, aber es ist schon klar, dass Sie wissen wollen, woran Sie sind und wie hoch das Gefährdungspotential für Sie ist.«
»Gut, das sollten wir unbedingt noch alles genau klären«, bestätigte Marek. »Was muss ich machen, wo muss ich mich einfinden. Ich habe noch keine Adressen.«
»Wir sammeln Sie auf. Wir treffen uns an Dr. Prossmanns ersten Termin. Das ist noch mehr was Privates, wo ich sonntags oft mit ihm alleine hingehe. Da können wir dann alles Weitere besprechen. Kennen Sie die Schwimmhalle in der Finckensteinallee?«
»In Lichterfelde, das ehemalige Hallenbad der amerikanischen Andrews Barracks?«, fragte Marek. »Ich dachte, das wäre wegen Baufälligkeit geschlossen.«
»War es auch, aber seit gut anderthalb Jahren ist es wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Herr Dr. Prossmann hat sich da wohl auch engagiert«, erklärte Kai Bokel.
»Gut, ist notiert Finckensteinallee, um wie viel Uhr?«
»Können Sie so gegen acht da sein, Finckensteinallee 73 auf dem Parkplatz? Sie können Ihren Wagen dann auch dort stehen lassen, später mit einem Taxi zurückkommen und ihn abholen. Das zahlt natürlich alles Vater Staat. Sie müssen nur die Belege sammeln, wenn Sie im Einsatz außergewöhnlichen Ausgaben haben.«
»Was könnten das denn für Ausgaben sein?«, fragte Marek. »Dann muss ich nämlich noch sehen, dass ich genug Bargeld dabeihabe.«
»Ich denke, außer dem Taxi wird da heute nicht viel zusammenkommen«, überlegte Kai Bokel. »Ich kann Ihnen auch Geld geben, wenn Sie es brauchen. Ich bin das ja gewohnt und immer entsprechend bestückt.« Er lachte wieder.
»Gut, verstanden, das Taxigeld werde ich heute wohl noch zusammenbekommen. Dann also in einer Stunde«, stimmte Marek zu.
»Prima, danke, dann sehen wir uns.«
Sie verabschiedeten sich, Kai Bokel legte auf. Das Besetztzeichen hallte durch Mareks Arbeitszimmer. Er schaltete das Telefon aus.
»Das ist doch sehr merkwürdig«, stutzte Thomas.
»Was?«, fragte Marek.
»Der hat deinen Anruf erwartet.«
»Das habe ich auch gerade gedacht. Er wusste zumindest, dass sich jemand zur Unterstützung seines Teams melden würde.«
»Wie machen die das? Was steckt wirklich dahinter?« Thomas schüttelte den Kopf.
Marek überlegte. »Mir ist das egal, wie die das machen. Ich gehe jetzt in die Offensive.«
»Wir gehen in die Offensive. Du musst in die Finckensteinallee und trittst dort deinen Dienst an. Dann wirst du schon sehen, wie es weitergeht. Ich werde nach Köpenick fahren. Wenn ich Kerstin gefunden habe, gebe ich dir Bescheid. Unterwegs werde ich mich bei der Fahndung melden, vielleicht haben die ja auch schon etwas herausgefunden, melden sich aber nicht, weil die nicht wissen, wie es bei uns brennt.«
Marek nickte. Er nahm sein Smartphone und öffnete die HIKE-App, um sich noch einmal die bislang eingegangenen Nachrichten anzusehen.
Thomas trat neben ihn. »Genau, das wollte ich auch noch mal prüfen«, sagte er. »Was ist das für eine merkwürdige Anwendung?«
»Ein Messenger«, antwortete Marek und deutete auf das Laptop. »Ich wollte das vorhin schon nachsehen.«
»Ein Messenger?«, wiederholte Thomas. »So etwas wie WhatsApp, warum benutzen die nicht gleich WhatsApp oder was gibt es da noch?« Thomas setzte sich an den Schreibtisch vor das Laptop.
»Ich kannte bislang auch nur WhatsApp«, sagte Marek.
Thomas googelte bereits. »Da lernt man was«, sagte er. »WhatsApp ist ein sogenannter mobiler Instant-Messenger und hier gibt es eine ganze Liste von Programmen. KakaoTalk, klingt doch lustig und HIKE ist auch darunter und natürlich Skype.« Thomas drehte sich zu Marek um. »Letzte Woche haben wir doch mit den Kollegen aus München eine Skype-Konferenz abgehalten. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass so ein Programm auf unseren Rechnern installiert ist.«
»Ich habe während des Studiums viel geskypt und natürlich mit Freunden auf WhatsApp. Was steht da denn nun über diese HIKE-App?«
»Moment.« Thomas wählte den Link, eine neue Seite öffnete sich, auf der er zu lesen begann. »Da steht leider nicht viel. Das ist eine indische Software, Bharti und Softbank. Der eine ist indisch, der andere japanisch, soll auf allen Betriebssystemen laufen, hat eine 128-bit-SSL-Verschlüsselung, was immer das heißt.« Thomas klickte weiter durch das Netz. »So richtig berühmt ist HIKE allerdings nicht«, sagte er schließlich. »Unter den Top Ten der WhatsApp-Alternativen wird HIKE jedenfalls nicht gelistet. Wie kommt jemand auf dieses Ding?«
»Indien, Japan, Afghanistan«, stellte Marek fest.
»So ein Quatsch, was haben Indien und Japan mit Afghanistan zu tun, oder doch?« Thomas hatte Google-Maps geöffnet. »Naja, zwischen Afghanistan und Indien liegt nur noch Pakistan.«
»Jetzt lass doch den Quatsch. Die haben irgendeinen Messenger genommen, der nicht wie WhatsApp von jedem Trottel benutzt wird.«
»Hey, ich habe auch WhatsApp-Freunde, wir sind doch keine Trottel«, rief Thomas lachend. »Die App kann auch sehr praktisch sein.«
»Ich habe WhatsApp mal gehabt, aber dann wurde mir das zu blöd«, sagte Marek. »Im Studium wirst du ständig von Leuten angefunkt, die du eigentlich nicht kennst. Seit meiner Rückkehr nach Berlin habe ich es bislang nicht vermisst.«
»Na gut, du hast ja jetzt HIKE und gleich einen neuen Freund«, sagte Thomas grinsend.
»So lustig finde ich das gar nicht.« Marek verzog das Gesicht.
Thomas klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn wir uns jetzt trennen, sollten wir in Kontakt bleiben.« Er überlegte. »Du reaktivierst einfach deinen WhatsApp-Account und ich nehme dich auf meine Freundesliste auf oder ich installiere mir dieses HIKE und du leitest die Nachrichten einfach an mich weiter. Bei WhatsApp geht das auch.«
Marek schüttelte den Kopf. »Bist du dir sicher, dass der Absender der ursprünglichen Nachricht nicht mitbekommt, wenn man das macht?«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Das müsste man ausprobieren, in dem ich dir eine HIKE-Nachricht schicke und du sie an ...«
»Nein, wir haben keine Zeit, irgendetwas auszuprobieren«, rief Marek.
»Dann installiere dir WhatsApp oder hast du es vielleicht noch auf deinem Telefon?«
Marek hatte sein Smartphone schon in der Hand. Er wählte die App über Google-Play aus und versuchte sie zu laden. Google-Play gab eine Fehlermeldung und Marek startete die Installation noch einmal. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen aufs Display.
»Verdammt ich kann WhatsApp nicht laden, ohne HIKE zu verlieren.«
»Was?«, fragte Thomas und stellte sich neben Marek.
»Nicht was, die beiden Apps beißen sich.«
»Probiere es noch mal«, rief Thomas. »Vielleicht kann man das ja umgehen.«
Marek tat es, dann zuckte er mit den Schultern. »Geht einfach nicht. Was ist, wenn du dir HIKE zulegst?«
»Schon in Arbeit«, sagte Thomas. »Das geht ja fix. Jetzt gib mir noch deine Nummer. Der kann hier zwar mein gesamtes Telefonbuch übernehmen, aber das wollen wir ja nicht.«
Marek hielt sein Telefon hin und Thomas tippte die Nummer in das Kontaktfeld der HIKE-App.
»So, jetzt probieren wir das mal. Ich habe dir gerade eine Nachricht geschickt.«
Marek sah selbst wieder auf das Display seines Smartphones. »Verdammt, was passiert da denn jetzt? Der hat das gleich weitergeschickt, und zwar an Kowalskis Mörder.«
»Was, das kann doch nicht sein?« Thomas nahm Marek das Telefon aus der Hand. »Das muss eine Einstellung sein, die man bestimmt rausnehmen kann.«
Thomas tippte entschlossen auf dem Smartphone, bis Marek es ihm wieder abnahm.
»Das ist mir zu gefährlich. Wir lassen das mit der App. Was hast du mir geschrieben? Wissen die jetzt von dir?«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Immer wieder sonntags. Das ist alles, was ich dir gesendet habe. Die haben aber jetzt meine Nummer. Telefonieren können wir dann auch wohl vergessen.«
Marek überlegte. »Ich weiß gar nichts mehr, scheiß Technik, scheiß Kontrolle. Ich schalte jedenfalls mein GPS aus, wahrscheinlich haben die mit diesem Messenger jetzt volle Kontrolle über mein Handy.«
»Wie wollen wir dann in Kontakt bleiben, über Babyfon?«
»Spinn nicht rum. Wir müssten uns auf die Schnelle zwei Pre-Paid-Handys besorgen, aber die Läden sind heute ja dicht.«
»Wie ist es mit einer Tanke, da bekommt man doch alles«, schlug Thomas vor.
»Quatsch. Du suchst nach Kerstin. Wenn du sie gefunden hast, bringt ihr euch in Sicherheit. Ich bleibe so lange an diesem Prossmann dran, bis meine Schicht zu Ende ist.«
»Aber trotzdem«, sagte Thomas schnell, »wenn ich Kerstin habe, schreibe ich dir einfach, dann ist die Sache doch ohnehin erledigt, dann haben die kein Druckmittel mehr ...«
»Und wenn sie kein Druckmittel mehr haben«, unterbrach Marek Thomas, »dann gehen sie mit allem was sie haben auf Prossmann und mich los. Nein, nein, das lässt du bleiben. Du nimmst keinen Kontakt zu mir auf. Du hast Prossmanns Terminplan und weißt dadurch immer, wo ich gerade bin.«
»Was ist mit E-Mail?« Thomas ließ nicht locker.
»Wenn die mein Handy kontrollieren, dann wissen die auch, wann ich E-Mails bekomme, von wem die sind und was drinsteht.«
»Dann leihst du dir einfach immer von Kai Bokel das Handy, logst dich in deinen Account ein und wir bleiben in Kontakt.« Thomas überlegte. »Ich gebe dir zu jeder vollen Stunde Bericht.«
»Was soll ich Kai Bokel denn sagen, wenn ich mir jedesmal sein Telefon ausleihen will?«, fragte Marek und schüttelte den Kopf.
»Du behauptest einfach, dass du über deinen Anbieter ab und zu kein Netz hast. Das kann doch passieren. Und dein Diensthandy hast du eben nicht dabei, vergessen.«
»Ich weiß nicht.« Marek überlegte. »Ich garantiere dir aber nicht, dass ich zu jeder vollen Stunde nachsehe. Es muss sich ergeben und es darf nicht auffallen. Und außerdem, weiß du, ob Kai Bokel nicht auch in der Sache drinsteckt.«
»Das glaube ich nicht. Warum sollte er?«, fragte Thomas.
»Weil das alles hier so verrückt ist«, rief Marek. Er überlegte erneut, dann nahm er Zettel und Stift vom Schreibtisch und notierte etwas. Er gab Thomas den Zettel. »Du kannst mir gerne etwas schreiben, aber nimm diese E-Mail-Adresse. Das ist mein alter Hochschul-Account, den können die unmöglich kennen.«
Thomas besah sich die E-Mail-Adresse. »Und der ist noch aktiv, du bist doch schon fast zwei Jahre exmatrikuliert oder wie heißt das?«
»Letzte Woche habe ich noch Mails darüber bekommen, der ist aktiv, das kannst du mir glauben.«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Okay, du bist der Boss. Ich kann dich über E-Mail erreichen, du kannst mich über E-Mail wissen lassen, was vor sich geht. Kannst du mir noch die HIKE-Nachrichten per E-Mail senden, die du bislang bekommen hast?«
»Wie denn, ich habe sie ja nur auf meinem Handy und ich fasse die nicht mehr an, weiterleiten oder so, mache ich nicht.«
»Dann leite mir doch einfach dein Festnetz auf mein Handy weiter, falls die Fahndung sich meldet oder sogar Kerstin selbst.«
Marek nickte. »Gut, das kann ich machen.«