Читать книгу Kowalskis Mörder - Ole R. Börgdahl - Страница 5

Wasserratte

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Marek hatte noch zwanzig Minuten gewartet, nachdem Thomas in Richtung Köpenick aufgebrochen war. Er hatte versucht sich zu entspannen, was ihm aber nicht gelungen war. Er war zu sehr darauf konzentriert, was als nächstes passieren würde. Er hatte seine Telefone im Blick, aber niemand meldete sich. Es kam keine weitere HIKE-Nachricht und auch die Kollegen des Fahndungsdezernates ließen nichts von sich hören. Marek schnallte sich schließlich das Holster mit seiner Dienstpistole um und verließ das Haus.

Um Viertel vor acht bog er auf den Parkplatz ein, der zur Schwimmhalle in der Finckensteinallee gehörte. Das kastenförmige Backsteingebäude besaß am Eingangsbereich einen Säulengang, unter dem Marek an einem Ende zwei Reliefskulpturen erkennen konnte, die eine riesige Holztür flankierten. Der Baustil ließ sich eindeutig der Zeit zwischen 1933 und 1945 zuordnen, was aber in Berlin kein ungewöhnlicher Anblick war. Marek beugte sich über das Lenkrad und sah nach oben durch die Windschutzscheibe. Über dem Säulengang befanden sich eine Reihe großer Sprossenfenster. Das Gebäude schloss mit einem Flachdach ab.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals an diesem Ort gewesen zu sein. Er war aber auch kein begeisterter Schwimmer und wenn, dann bevorzugte er im Sommer die Freibäder oder Badeseen, die es in und um Berlin reichlich gab. Er parkte seinen Wagen nahe einer Hecke direkt neben der Einfahrt, gut fünfzig Meter von dem Gebäude entfernt. Er ließ die Seitenscheibe herunter und atmete die feuchte Morgenluft ein. Dann sah er sich auf dem Parkplatz vor der Schwimmhalle um. Direkt vor der flachen Eingangstreppe hinauf zum Säulengang standen ein silberner Opel Astra und ein blauer VW Passat. Marek notierte sich die Kennzeichen, danach drehte er sich im Fahrersitz nach hinten um. Etwas abseits, am anderen Ende des Parkplatzes, war auch noch ein weißes E-Klasse Coupé abgestellt. Marek fügte ein weiteres Kennzeichen seiner Liste hinzu. Danach nahm er sein Smartphone und fotografierte auch noch jedes einzelne der Fahrzeuge.

Er öffnete die HIKE-App und hängte alle Aufnahmen an eine neue Nachricht. Er überlegte, was er Kowalskis Mörder berichten sollte. Jetzt hatte er dem unbekannten Absender bereits einen Namen gegeben, einen Arbeitstitel, so wie sie es im Präsidium machten, wenn ein neuer Fall dokumentiert wurde. Kowalskis Mörder! Dabei war gar nicht sicher, ob Jürgen Kowalski überhaupt tot war. Marek dachte noch einmal über all das nach, was er vor einer knappen Stunde mit Thomas besprochen hatte. Sie hatten zwar länger nichts von Jürgen Kowalski gehört, aber das musste nichts bedeuten.

Marek schüttelte unbewusst den Kopf. Es gab eigentlich keine Beweise für dies alles hier, oder doch? Woher wusste KOK Kai Bokel, dass für den Personenschutz von Harald Prossmann ein Ersatzmann kommen würde. Er zögerte. Was sollte er Kowalskis Mörder schreiben? Einen Lagebericht? Noch war Marek die Lage unbekannt. Er begann zu tippen, keine ganzen Sätze, eher eine Telegramm-Nachricht.

»Bin in der Finckensteinallee. Treffen mit Personenschutz Prossmann 8:00 Uhr. warte auf Anweisungen. was ist geplant?«

Er schickte die Nachricht ab und starrte bestimmt ein, zwei Minuten lang auf das Display seines Smartphones. Er hatte die Signaltöne für ankommende Nachrichten nahezu auf lautlos gestellt, darum gab es nur ein leises Ping, als sich das Display wieder erhellte und das HIKE-Symbol erschien. Marek öffnete die Nachricht.

»Es ist immer etwas geplant«, lautete die knappe, nichtssagende Antwort.

Er wollte erneut schreiben, um genauere Instruktionen zu erbitten. Er tat es nicht. Eine Bewegung ließ ihn aufschauen. Zwei Fahrradfahrer näherten sich dem Eingang der Schwimmhalle. Ein älteres Paar, er mit Glatze und sie mit einer Wollmütze, unter der zwei geflochtene, graue Zöpfe hervortraten. Sie fuhren weiter zur Stirnseite des Gebäudes. Erst jetzt sah Marek, dass sich dort ein Fahrradständer befand. Er zählte elf Räder, die bereits dort abgestellt waren.

Es klingelte schrill. Marek sah nach rechts. Zwei Frauen kamen auf ihren Fahrrädern aus einem schmalen Weg, der hinter einem Gebüsch auf den Parkplatz führte. Sie stiegen vor dem Fahrradständer ab, man begrüßte sich, schloss die Fahrräder an. Sporttaschen wurden von den Gepäckträgern geschnallt. Der Mann mit der Glatze nahm einen Picknickkorb von der Halterung seines Lenkers. Die Fahrradfahrer machten sich auf den Weg in die Schwimmhalle. Marek hob sein Smartphone an. Sie kamen direkt auf ihn zu, ohne ihn zu bemerken. Er machte zwei, drei Fotos, dann erreichten die vier den Eingangsbereich und betraten die Schwimmhalle durch die von den Skulpturen flankierte Holztür.

Plötzlich war es wieder ruhig. Marek hatte schon den Griff der Fahrertür in der Hand, als ein roter Mercedes SLK schnittig auf den Parkplatz fuhr. Mit quietschenden Reifen hielt er auf das weiße E-Klasse Coupé zu und parkte direkt neben dem anderen Fahrzeug. Ein Mann um die vierzig, im Anzug mit Rollkragenpullover, stieg eilig aus, während sich der Heckdeckel des SLK automatisch öffnete. Im Vorbeigehen griff er nach einer Sporttasche, schlug den Kofferraumdeckel wieder zu und eilte Richtung Schwimmhalle. Marek notierte sich auch das Kennzeichen des SLK. Er fotografierte den Wagen und auch den Mann, der nicht auf seine Umgebung achtete und wie die Fahrradfahrer ebenfalls in der Schwimmhalle verschwand. Marek schaute schließlich auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor acht.

*

Um genau zwei Minuten nach acht hielt Thomas in zweiter Reihe vor dem mehrstöckigen Mietshaus in Berlin Köpenick, das ihm Marek als Wohnadresse von Steffanie Hartfeld genannt hatte. Die gesamte Straße war bis auf die letzte Lücke zugeparkt. Thomas schaltete wie gewohnt das Warnblinklicht ein, legte seine Dienstwagenmarke hinter die Windschutzscheibe und stieg aus. Dann besann er sich anders, er war ja nicht im Einsatz, wenigstens nicht offiziell. Er setzte sich wieder ans Steuer und fand in einer Seitenstraße doch noch einen freien Parkplatz.

Er kehrte zu dem Mietshaus zurück, blieb einen kurzen Moment vor dem Hauseingang stehen, ging aber gleich weiter, nachdem er Steffanie Hartfelds Namen auf einem der Klingelschilder entdeckt hatte. Bei der Fahrt durch die Straße hatte er einen schmalen Durchgang gesehen. Er ging hinein, kletterte über das geschlossene Gatter eines Fahrradunterstandes und gelangte so in einen recht großen Hinterhof, der üppig bepflanzt war. Beete, Stauden und Sträucher, ein kleiner Kinderspielplatz mit einem Klettergerüst, einer Rutsche und einer Sandkiste, in der vergessene Plastikförmchen und ein blauer Kindereimer lagen. In der Mitte des Hofes stand eine mächtige Eiche, die ihre blattlosen Äste nach oben zu den Fenstern des dritten und vierten Stocks reckte.

Gleich links von dem Durchgang stand eine ganze Flotte von Mülleimern für Papier, Restmüll und Bioabfall. Daneben hingen auf einer Stange mehrere gelbe Säcke, die einen süßlichen Geruch verströmten. Dem Arrangement der Mülltonnen schloss sich gleich der Abgang zu einem Keller an. Thomas sah sich um, ging dann die wenigen Stufen hinunter zu einer Tür, die allerdings verschlossen war. Er eilte wieder hinauf in den Hof, fand aber ein paar Meter weiter einen zweiten Kellerzugang. Diesmal war die Tür unten sogar nur angelehnt. Thomas blickte erneut zu den Fenstern hoch, die auf den Hinterhof gingen, konnte aber keinen Beobachter ausmachen.

Er schlüpfte durch die Tür und betrat einen kalten Flur, der leicht nach Waschmittel und stark nach Heizöl roch. Nach wenigen Schritten traf er auf eine weitere unverschlossene Tür, die auf einen anschließenden Flur führte, von dem einige Kellerräume abgingen. Der Heizölgeruch ließ nach, als er auf die Treppe stieß, die hinauf ins Parterre des Mietshauses führte. Eine dritte Tür oben, am Ende der Kellertreppe, war ebenfalls kein Hindernis mehr und Thomas stellte wieder einmal fest, dass es oft sehr einfach war, in die alten Berliner Mietshäuser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu gelangen. In den verwinkelten Hinterhöfen gab es immer einen oder mehrere Zugänge. Mit etwas Glück war eine Tür nicht verschlossen und auf dem Weg ins Haus begegnete einem auch niemand, und wenn doch, dann konnte man sich meist in einer Nische oder einem der Kellerräume verbergen.

Oben ging Thomas zunächst durch den Hausflur. Eine Zwischentür ließ sich nur von innen öffnen. Er blockierte sie mit einem Kinderfahrrad, das neben der Tür an der Flurwand lehnte. Er ging weiter zu den Briefkästen neben der Eingangstür, die in der Regel von außen offen war, damit der Postbote oder die Zeitungszusteller an die Briefkästen herankamen. In Steffanie Hartfelds Postkasten steckte die Gratisausgabe eines Anzeigenblattes. Thomas zog sie heraus und griff von oben in den Briefschlitz. Er konnte allerdings nicht feststellen, ob noch nicht entnommene Post im Kasten steckte.

Er klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging wieder durch die Zwischentür zurück in den Hausflur. Gleich neben dem Kellerabgang befand sich das Treppenhaus, das hinauf zu den oberen Stockwerken führte. Einen Aufzug gab es nicht. Thomas erklomm die knarrende Treppe. Als er den vierten Stock erreichte, war er leicht außer Atem. Er gönnte sich eine kleine Pause, bevor er Steffanie Hartfelds Klingel drückte. Ein Drei-Klang-Gong war in der Wohnung zu hören. Eine Minute danach blieb es allerdings immer noch ruhig, keine Reaktion, keine Laute, die auf die Anwesenheit der Bewohner hinwiesen.

Thomas versuchte es ein zweites Mal, der Gong verhallte, danach wartete er eine weitere Minute. Er stellte sich dicht vor die weiße Holztür, die etwas verzogen war und die Türzarge nicht ganz ausfüllte. Er horchte erneut nach Geräuschen. Er besah sich das Türschloss und begann leicht gegen das Türblatt zu drücken. Er zog seitlich am Türknauf und verstärkte den Druck. Der Spalt zwischen Zarge und Türblatt wurde größer, bis die Holztür mit einem Quietschen aufsprang.

Thomas kontrollierte sofort die Schließe, konnte aber keinen Schaden feststellen. Die Wohnungstür war offenbar nur eingerastet, aber nicht richtig abgeschlossen gewesen. Er zog die Tür leise hinter sich zu, horchte noch einmal und begann seine Erkundungstour. Auf dem kleinen Schuhschrank im Flur legte er die Zeitung ab, die er von unten mitgebracht hatte. Dabei kontrollierte er gleich die vielen kleinen Dinge, die in einer zweckentfremdeten Obstschale lagen. Zwei Paar Handschuhe, ein Leuchtarmband, wie man es beim Joggen im Dunkeln trug, eine angebrochene Packung Kaugummi, ein Einkaufsbon vom letzten Dezember. Steffanie Hartfeld hatte ihre Weihnachtseinkäufe noch kurz vor dem Fest bei einem Aldi-Markt erledigt.

Thomas stellte sich vor den Schuhschrank, griff links und rechts und zog das Möbel ein Stück von der Wand. Er fand außer einer Staubschicht allerdings nichts, was hinter den Schrank gerutscht war. Dann öffnete er noch die beiden Klappen, hinter denen sich mehrere Paare Damenschuhe befanden, Stiefel, Pumps, Sportschuhe, Pantoffeln und sogar ein Paar Sandalen. Es war sicherlich nur eine kleine Auswahl der Schuhe, die Steffanie Hartfeld tatsächlich besaß.

Thomas richtete sich wieder auf und kontrollierte noch das aus drei Haken bestehende Schlüsselboard, das über dem Schuhschrank hing. Ein Ring mit einfachen Schlüsseln, die zu den Innentüren der Wohnung gehörten. Ein Fahrradschlüssel mit Bicycle-Anhänger. Der dritte Haken war leer. Thomas warf einen Blick auf die Garderobenstange, die sich hinter einem bodenlangen Vorhang befand. Die Jacken und Mäntel würde er sich zum Schluss vornehmen. Er ging weiter durch den Flur und verschaffte sich zunächst einen Überblick über den Schnitt der Wohnung, um auch festzustellen, ob wirklich niemand zu Hause war. Steffanie Hartfeld standen gut sechzig Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Eine sehr kleine Küche, ein Bad mit Wanne und Duschvorhang, keine Gästetoilette, ein kleines Schlafzimmer mit Fenster zum Hinterhof und ein relativ großes Wohnzimmer, das wohl auch als Arbeitszimmer diente.

Thomas begann mit der Küche. Es gab keine Geschirrspülmaschine. Im Spülbecken stand ein einzelnes Glas mit einem weißen Fettrand, der von Milch stammen konnte. Im Kühlschrank stand tatsächlich eine angebrochene Tüte Milch. Außerdem fanden sich ein Glas Orangenmarmelade, Pakete mit Kräuterbutter verschiedener Geschmacksrichtungen, eine kleine Schale Margarine, in Papier eingewickelter Käse, der an der Frischetheke eines Supermarktes gekauft worden war, drei Becher Naturjoghurt. Thomas schloss die Kühlschranktür wieder. Er sah sich weiter um. Genauso wie der kleine Esstisch und ein einzelner Stuhl passte dies alles zu einem Singlehaushalt. Dann stellte Thomas fest, dass sein Schuh backte. Der Fliesenboden war an einer Stelle klebrig. Irgendetwas Zuckerhaltiges hatte getropft. Ansonsten war der Boden sauber. In einer Ecke der Küche hing ein Besen mit Kehrblech an der Wand, so dass sich auch nirgends Brotkrümel fanden.

Das fensterlose Bad prüfte Thomas im Schnelldurchgang. Alles war sehr sauber, keine Wasserflecke in der Badewanne, selbst der Duschvorhang war trocken, obwohl es immer noch nach einem Dusch- oder Schaumbad roch. Thomas sah sich die Fläschchen und Tuben auf der Ablage über dem Waschbecken an. In einem Glas stand nur eine einsame Zahnbürste. Auf einem Hocker lag eine Kulturtasche, die Kerstin aber vermutlich nicht gehörte, weil sie mit Metall- und Kunststoffhaarspangen angefüllt war.

Thomas schaltete das Licht im Bad wieder aus und ging über den Flur ins Schlafzimmer, in dem nur ein Einzelbett stand. Auf dem Teppichboden waren aber noch die Abdrücke eines Doppelbettes zu erkennen. Mit diesem Möbel musste das Schlafzimmer recht beengt gewesen sein, während jetzt zwischen Bett und dem dreiflügeligen Kleiderschrank ausreichend Platz war. Thomas öffnete den Schrank, warf aber nur einen kurzen Blick hinein. Ihm fiel ein rotes Abendkleid auf, an dem noch die Preisschilder hingen. Er verzichtete darauf, weiter in Steffanie Hartfelds Privatsphäre zu wühlen und verließ das Schlafzimmer wieder.

Das Wohnzimmer war der letzte Raum, den er sich näher ansah. Neben einer hellbezogenen Zweiercouch, einem dazu passenden Sessel, einem Beistelltisch und einer Schrankwand mit Fernseher, gab es in einer Ecke des Wohnzimmers noch einen kleinen Schreibtisch, bei dem eine der beiden Schubladen ein wenig vorstand. Thomas zog die Schublade vorsichtig auf. Der Inhalt war offensichtlich durchwühlt worden. Es war keine auffällige Unordnung, doch sein geschulter Blick erkannte sofort, dass jemand etwas in der Schublade gesucht hatte. Es war die Art, wie die Dinge, wie Papiere, ein Locher und ein Etui mit Schere und Brieföffner wieder in die Schublade einsortiert worden waren. Durch den Fund alarmiert öffnete Thomas auch die zweite Schreibtischschublade. Eine Schatulle mit einem teuren Federhalter. Der Schnappverschluss war geöffnet, der Inhalt aber vollständig.

Thomas griff mit der Hand in die Tiefe der Schublade, ertastete das raue Holz und fand nur einen alten Kassenbon vom MediaMarkt. Der Kauf eines billigen Handys mit Schutzhülle. Das Telefon selbst war aber auch nach weiterem Tasten nicht in der Schublade zu finden. In der Schrankwand neben dem Schreibtisch standen neben dem Zweiunddreißig-Zoll-Flachbildfernseher genau zwei Aktenordner. Und wieder ein Indiz. Die Klemmbügel, mit denen Rechnungen und andere Korrespondenz fixiert wurden, waren nachlässig über die Bügel geschoben, so dass sich das Papier in den stehenden Ordnern bog. Entweder war das alles die normale Ordnung von Steffanie Hartfeld oder jemand hatte sich genauso wie Thomas jetzt, in der Wohnung umgesehen.

Thomas zögerte mit seiner letzten Untersuchung, doch dann nahm er sich noch einmal jeden einzelnen Raum und alle Möbel und Gegenstände darin vor. Er suchte nach Spuren eines Kampfes, nach angetrocknetem Blut auf den Holzflächen, nach abgestoßenen Kanten, nach Kratzern. Er suchte nach Spuren auf dem Teppichboden, den Fliesen und an den Türrahmen. Er wiederholte seinen Rundgang ein zweites Mal. In der gesamten Wohnung waren allerdings keine Tatortspuren zu finden oder doch zumindest nicht mit bloßem Auge zu erkennen. Die Arbeitsplatte in der Küche wies allerdings einige Rillen auf, die von einem Messer stammen konnten, aber wahrscheinlich nur gewöhnliche Gebrauchsspuren waren.

Auf dem Weg aus der Wohnung kontrollierte Thomas als letztes die Garderobe und die Kleidungsstücke, die darin hingen. Er zog den Vorhang ganz auf, bückte sich als erstes und wühlte in einem Knäul von Schals, die am Boden der Garderobe in einer Klappbox lagen. Außer den Schals und einem Paar Wollhandschuhen fand er nichts. Er richtete sich wieder auf und verschob jetzt die Jacken und Mäntel, die auf der dünnen Garderobenstange hingen. Er musste aufpassen, denn die Stange war auf der rechten Seite ein Stück aus der Halterung gerutscht.

Er war vorsichtig, als er die Taschen der einzelnen Kleidungsstücke durchsuchte, um die Garderobe nicht zum Absturz zu bringen. Erst jetzt fiel ihm die dunkelrote Wellensteyn Jacke mit dem schwarzen Pelzbesatz auf. Eine solche Jacke derselben Marke und derselben Farbe hatte Kerstin noch letzte Woche getragen. Es konnte ein Zufall sein. Thomas schlug die Jacke auf und roch am Innenfutter, in das das Label Belvedere eingenäht war. Ein Hauch Chanel Nr. 5, Kerstins Parfum, was ebenfalls ein Zufall sein konnte.

Thomas dachte an die Ablage im Badezimmer. Welches Parfum benutzte Steffanie Hartfeld? Er konnte sich weder an einen Flakon, noch sonst an irgendein Parfum erinnern. Vielleicht bewahrte sie es im Schlafzimmer auf. Er schloss das Innenfutter der dunkelroten Wellensteyn Belvedere diesmal um seinen Kopf und atmete erneut tief ein. Und da war er, dieser leichte Geruch, den Uneingeweihte vielleicht nicht einmal wahrnahmen.

Thomas testete weitere Kleidungsstücke, die in der Garderobe hingen. Hier nahm er bei zwei Mänteln und einer schwarzen Lederjacke sofort ein anderes Parfum wahr. Es war eindeutig ein anderer Geruch. Kerstins Jacke hing in Steffanie Hartfelds Garderobe. Der Februar war kalt und Kerstin wäre ohne dieses Kleidungsstück niemals freiwillig nach draußen gegangen. Thomas überlegte. Es gab aber noch andere Erklärungen. Kerstin hatte eine zweite Jacke dabei und die Wellensteyn hier nur bei ihrer Freundin Steffanie vergessen. Es gab noch keinen Grund alarmiert zu sein und auch der Zustand der Wohnung, die kaum sichtbare Unordnung, mochte eine einfache Erklärung haben.

Thomas überlegte. Er zückte sein Smartphone und hatte auch den Zettel mit Mareks E-Mail-Adresse zur Hand. Er übernahm die Adresse erst einmal in seinen Kontakten. Dann begann er eine Nachricht zu schreiben. Nach den ersten Worten zögerte er und sah auf die Uhr. Marek würde die Nachricht zur nächsten vollen Stunde abfragen, wenn überhaupt, und wenn er Kai Bokels Handy benutzen konnte. Thomas löschte, was er geschrieben hatte und begann von vorne. »WOHNUNG IN KÖPENICK LEER. NICHTS AUFFÄLLIGES. SUCHE WEITER.«

*

Marek stand draußen vor dem Säulengang und betrachtete die Reliefskulpturen, die die Eingangstür zur Schwimmhalle in der Finckensteinallee zierten. Diese Art der Kunst war noch häufig in Berlin zu sehen. Es waren die Gegenstücke der sogenannten entarteten Kunst. Das ganze Gebäude trug den Stempel der Zeit und dennoch war die Schwimmhalle zweckmäßig und musste von dem ideologischen Gedankengut losgelöst werden. Es war heute eben nur ein Schwimmbad, das seit kurzer Zeit wieder der Öffentlichkeit zugänglich war.

Marek ging ein Stück weiter an die Stirnseite des Gebäudes vorbei hinter die Schwimmhalle. Hier gingen die Sprossenfenster von der Decke bis hinunter zum Boden. Wasser spiegelte sich in den Scheiben. Im Inneren brannte Licht. Marek vermied es, vor eines der Fenster zu treten. Er ging einen kleinen Weg entlang, der von der Schwimmhalle wegführte und hinter einer Hecke verlief. Am anderen Ende näherte er sich wieder dem Gebäude und kam schließlich zurück auf den Parkplatz. Er ging zu seinem Wagen und wollte gerade einsteigen, als ein bulliger Audi Q7 vorfuhr.

Der Wagen bremste zunächst, rollte dann ein Stück weiter, direkt auf Marek zu und kam einige Meter vor ihm zum Stehen. Die Fahrertür öffnete sich. Ein Mann im blauen Anzug mit dunkelblauer Krawatte stieg aus und musterte Marek ein, zwei Sekunden.

»Bist du KOK Marek Quint?«

»Kollege Bokel?«, stellte Marek die Gegenfrage.

Kai Bokel lächelte, schlug die Fahrertür hinter sich zu und streckte Marek die Hand entgegen.

»Sorry, wir haben uns ein wenig verspätet. Wartest du schon lange?«

Marek schüttelte den Kopf. »Kein Problem, ich war extra ein paar Minuten früher hier, um mir die Lokation anzusehen.«

Kai nickte und trat näher an ihn heran. »Ich hätte den Klotz abgerissen, zu viel braune Geschichte und die Architektur ist auch nicht gerade nach meinem Geschmack, aber darauf kommt es heute wohl nicht mehr an.«

»Meinst du die Reliefskulpturen am Eingang?«, fragte Marek und sah sich zur Schwimmhalle um.

»Die auch.« Kai überlegte. »Unser Kunde hat sich allerdings für die Sache hier stark gemacht, dafür, dass die noch mal Geld in das marode Schwimmbad gesteckt haben. Darum ist er jetzt auch Ehrenschwimmer hier.«

»Ehrenschwimmer?«, fragte Marek.

»Der schwimmt hier kostenlos, wann immer er will und heute will er, wie eigentlich jeden Sonntag. Das ist aber nur der erste von sechs Terminen heute. Mir wäre es lieber, der hätte sich einen ruhigen Sonntag gemacht, aber so sind Politiker eben.«

»Verstehe.« Marek nickte.

Dann schaute er über Kais Schulter durch die Windschutzscheibe ins Innere des Q7. Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann, den Kopf gesenkt, den Blick auf das Display seines Smartphones gerichtet. Er schien die Umgebung außerhalb des Wagens ausgeblendet zu haben.

»Ist das Harald Prossmann?«, fragte Marek. »Ich habe wie gesagt sein Dossier gelesen. Den Personenschutz nimmt er ja schon länger in Anspruch, oder.«

»Ja schon, aber keine Bange«, sagte Kai lächelnd. »Es gibt zwar ein gewisses Gefährdungspotential, aber bisher ist nichts passiert, außer vielleicht ein paar Buhrufe enttäuschter Wähler, wobei Prossmann sich meines Wissens noch keiner Wahl zu einem öffentlichen Amt gestellt hat.«

»Dann hat er also doch schon einen gewissen Bekanntheitsgrad. Buhrufe muss man sich ja auch erst einmal erarbeiten.«

»Da ist was dran«, sagte Kai nickend. »2016 könnte sein Jahr werden. Manchmal erzählt Herr Prossmann mir über das Hauen und Stechen in seiner Partei und dass die Zeit für den nächsten Schritt reif ist.«

»Dann kennst du ihn also schon besser?«

»Geht so.« Kai überlegte. »Ich denke, wir beginnen jetzt mal mit einem kurzen Briefing für den ersten Akt. Nachher haben wir noch Zeit die nächsten Stationen durchzusprechen.«

»Ist mir recht«, sagte Marek.

»Also, Herr Dr. Prossmann geht schwimmen und ich darf ihm im Wasser Gesellschaft leisten. Du wirst im Eingangsbereich warten und dich umsehen, wer so rein und raus will. Oder hast du vielleicht deine Badehose mitgebracht?« Kai grinste erneut.

»Nein, ist mir schon recht, ich bin eigentlich nicht so eine Wasserratte.« Er sah zur Schwimmhalle hinüber. »Da sind aber schon Leute drin.«

»Die Frühstücksrentner«, sagte Kai. »Die sind harmlos. Die sind meistens schon fertig, wenn wir beginnen, unsere Bahnen zu ziehen. Prossmann macht immer exakt achthundert Meter, sechzehn Bahnen.«

»Außer deinen Frühstücksrentnern ist aber mindestens noch eine weitere Person ins Gebäude gegangen, ein Mann, Mitte oder Ende dreißig, hatte es ganz schön eilig, ist eben erst mit dem roten SLK dort drüben angekommen.« Marek deutete auf den Mercedes.

»So etwas können wir natürlich nicht verhindern. Darum sind wir meistens auch zu zweit, damit einer von uns ein wenig aufpassen kann«, erklärte Kai.

»Soll ich den Mann überprüfen, während ihr im Wasser seid?«

»Nein, nein, nicht nötig, außerdem mag Prossmann das nicht, es soll alles ganz natürlich sein.«

»Verstanden«, sagte Marek nickend. »Wie geht es dann heute weiter, soll ich euch später zum nächsten Termin folgen?«

»Nein, ich sagte ja vorhin schon, dass du deinen Wagen hier stehen lassen sollst. Du musst bei uns mitfahren. Herr Prossmann sitzt allerdings immer vorne. Du steigst also hinten ein, aber selbstverständlich auf meiner, also auf der Fahrerseite. Wir sind hier gegen halb zehn fertig ...«

Kai stockte, als sie hörten, wie die Beifahrertür des Audis geöffnet wurde. Sie drehen sich beide um. Harald Prossmann stieg aus dem Wagen. Er warf noch einen letzten Blick auf sein Handy, steckte es dann in die Innentasche seine Jacketts.

»Wir reden später weiter«, sagte Kai schnell und ging auf Harald Prossmann zu, der den beiden Kriminalbeamten jetzt seine Aufmerksamkeit schenkte.

»Herr Dr. Prossmann, das ist für heute unsere Verstärkung, Kriminaloberkommissar Marek Quint vom LKA Berlin.«

Prossmann sah Marek ein paar Sekunden lang an, schien ihn zu mustern. Er nickte schließlich. »Danke für Ihre Unterstützung Herr Kommissar.« Es klang freundlich, aber auch distanziert. Harald Prossmann wandte sich sofort wieder an Kai Bokel. »Ich glaube, wir sind jetzt wirklich etwas spät dran, nicht wahr?«

»Stimmt, Herr Dr. Prossmann.«

Kai betätigte die Fernbedienung am Autoschlüssel. Die Heckklappe des Q7 sprang auf und fuhr langsam in die Höhe. Der Personenschützer ging zum Wagen und nahm zwei kleine Sporttaschen aus dem Kofferraum. Danach schloss sich die Heckklappe wieder automatisch. Harald Prossmann war bereits auf dem Weg Richtung Schwimmhalle. Kai holte ihn wieder ein und öffnete für Prossmann die schwere Holztür, die an den Reliefskulpturen vorbei ins Gebäude führte.

Marek sah sich noch einmal auf dem Parkplatz um. Dann folgte er den beiden Männern. Er betrat kurz nach ihnen den Eingangsbereich der Schwimmhalle. In dem weiß gefliesten Raum roch es nach Chlor. Auf der rechten Seite gab es einen Automaten mit Süßigkeiten und Getränken. Davor standen drei Metalltische mit den zugehörenden Stühlen. Der Kassenschalter mit dem Drehkreuz zu den Umkleidekabinen befand sich auf der linken Seite. Eine junge Frau thronte auf einem erhöhten Stuhl hinter der geöffneten Glasabtrennung des Schalters.

Harald Prossmann blickte kurz zur Seite und grüßte die junge Frau tonlos. Er wollte gerade den Magnetstreifen seiner Dauerkarte durch das Lesegerät des Drehkreuzes ziehen, als er kurz innehielt und sich dann wieder dem Schalter zuwandte. Kai hatte das Drehkreuz bereits passiert. Er blieb ebenfalls stehen. Harald Prossmann lächelte. Er ging zum Schalter und legte seine Arme auf den Tresen.

»Ein neues Gesicht?«, fragte er. Seine Stimme klang anders, schmeichlerischer, als noch vorhin auf dem Parkplatz. »Darf ich erfahren, wie Sie heißen?«

Die junge Frau nickte. Sie schien überrascht zu sein. Bevor sie antworten konnte, hatte Prossmann ihr Namensschild entdeckt.

»Nadine! Ein schöner Name. Und Sie sind neu hier?«

Sie schüttelte den Kopf, wollte etwas erwidern, aber Prossmann war erneut schneller.

»Aber ich habe Sie noch nie hier gesehen. Obwohl, ich komme ja auch nur sonntags zum Schwimmen her. Sie machen bestimmt sonst in der Woche Dienst?«

»Nein, ich bin doch fast jeden Sonntag ... Ich kenne Sie, Herr Dr. Prossmann«, sagte Nadine schüchtern, als wenn es etwas Verbotenes sei.

»Sie kennen mich?«, wiederholte Harald Prossmann ungläubig, aber es klang gespielt.

Kai stand immer noch direkt hinter dem Drehkreuz. Er konnte nicht mehr zurück in den Eingangsbereich. Ein Personenschützer hatte in unmittelbarer Nähe der Schutzperson zu sein. Marek erkannte Kais Unbehagen. Er ging ein paar Schritte auf Harald Prossmann zu, der sich aber sofort umdrehte und ihn drohend ansah. Marek blieb stehen. Prossmanns Gesichtsausdruck entspannte sich erst, als er sich wieder der jungen Frau zuwandte.

»Sie kennen mich wirklich?« Harald Prossmann schüttelte den Kopf. »Ich kann mich aber nicht an Ihr hübsches Gesicht erinnern, das ist natürlich unverzeihlich, liebe Nadine.«

»Das liegt vielleicht daran, dass Sie nicht zu mir an den Schalter zu kommen brauchen, Sie haben ja eine Dauerkarte, Herr Dr. Prossmann.« Nadine lächelte zögerlich.

Harald Prossmann nickte. »Das ist natürlich eine gute Erklärung.« Er hielt der jungen Frau die Karte hin. »Das ist aber keine Dauerkarte, sondern eine Ehrenkarte. Da bin ich sehr stolz drauf, obwohl ich immer sage, dass ich gerne auch Eintritt zahlen würde. Jeder Euro zählt, um das Schwimmbad in Stand zu halten, aber sie lassen mich nicht.« Harald Prossmann zuckte mit den Schultern.

Nadine lächelte, wusste aber anscheinend nicht, was sie darauf erwidern sollte.

»Ich verspreche Ihnen, am nächsten Sonntag aufmerksamer zu sein, meine liebe Nadine. Wir sehen uns.«

Harald Prossmann hielt seine Ehrenkarte noch immer in die Höhe, ging zwei Schritte rückwärts, wandte sich dann um und passierte endlich das Drehkreuz. Er ging an Kai Bokel vorbei, der ihm links in den Gang folgte. Marek ging ebenfalls zum Drehkreuz, blieb stehen, beugte sich vor und blickte den beiden Männern nach, die schließlich durch eine Glastür verschwanden. Nach wenigen Sekunden war im Eingangsbereich der Schwimmhalle nur noch das Knurren der Automaten zu hören.

Marek hatte seine Anweisungen. Er ging zu einem der Automaten, schaute sich das Angebot an und entschied sich für ein Twix. Mit dem Schokoladenriegel in der Hand setzte er sich an den mittleren der drei Tische. Sein Blick fiel auf die große Panoramascheibe, die den Eingangsbereich von der Schwimmhalle trennte. Er erhob sich wieder, zog den Stuhl dichter an die Scheibe heran, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er biss von seinem Twix ab und begann die Welt hinter der Panoramascheibe zu sondieren.

Er zählte die Startblöcke. Es gab zehn Schwimmbahnen zu je fünfzig Metern Länge. Die Anzahl der Schwimmer war überschaubar. Die Mitglieder der Frühstücksrentnergruppe belegten vier der zehn Bahnen. Zwei Männer mit weißen Gummibademützen machten noch Tempo, lieferten sich anscheinend ein Rennen und waren dabei fast gleich auf. Marek verfolgte die beiden noch eine weitere Bahn lang, ohne einen möglichen Sieger ausmachen zu können. Die Schwimmer verursachten leichte Wellen auf der ansonsten glatten Wasserfläche. Und dann war da auch noch der Bademeister, ein bärtiger, junger Mann, der gelangweilt auf einem Plastikgartenstuhl in der Nähe des Beckenrands saß. Plötzlich erhob er sich, ging einmal die Fünfzig-Meter-Bahn entlang und denselben Weg zurück, bis er sich wieder in seinen Stuhl setzte. Er blieb dort leicht vorgebeugt sitzen, ohne weiter das Gesicht zu verziehen.

Mareks Blick wanderte zu einer Gruppe von Frauen, die sich in einer Ecke in der Nähe des Beckenrands mit ruhigen Armbewegungen über Wasser hielten. Das leichte Nicken ihrer Köpfe verriet, dass sie sich unterhielten. Dann wurden sie von einem Mann angesprochen, der bereits im Bademantel am Beckenrand stand. Die Damen wandten sich zu ihm um und sprachen mit ihm. Zwei weitere Mitglieder der Frühstücksrentnergruppe traten dazu. Einer Dame wurde aus dem Wasser geholfen, man reichte ihr ein großes Handtuch und brachte ihr die Badelatschen. Die Gesichter der Männer und Frauen zeigten, dass sie lachten, eine fröhliche Runde am frühen Sonntagmorgen.

Marek suchte noch einmal nach den Schwimmern, die ihren Wettkampf beendet hatten und jetzt auf dem Rücken schwimmend langsam durchs Wasser glitten. Dann wurde auf der Zuschauertribüne ein Handtuch geschwenkt. Marek nahm die Bewegung war und blickte nach oben. Offenbar hatten sich die übrigen Frühstücksrentner dort versammelt. Ein Mann, der bereits wieder seine Straßenkleidung angezogen hatte, machte die Untenstehenden auf sich aufmerksam, gestikulierte und sprach mit ihnen. Marek konnte nicht genau erkennen, was auf der Zuschauertribüne vor sich ging. Jemand brachte Geschirr und Besteck, ein langer Tisch wurde eingedeckt, Stühle dazugestellt. Einige der Rentner setzten sich.

Dann liefen zwei Männer an der Panoramascheibe vorbei. Sie trugen kleine Handtücher über den Schultern. Marek erkannte den SLK-Fahrer, der seine Badelatschen auszog und kurz ins Wasser sprang, aber sofort wieder über die Leiter aus dem Becken stieg. Der andere Mann kniete sich zur Wasseroderfläche hinunter und benetzte sich Oberkörper und Gesicht. Der SLK-Fahrer hatte bereits einen der Startblöcke betreten und lockerte sich mit schwingenden Armen. Als sein Kontrahent ebenfalls den Startblock betrat, rechnete Marek schon mit einem Wettschwimmen. Die beiden Männer sprangen jedoch nacheinander ins Wasser, tauchten ab, streckten sich und zogen ohne Eile die erste Bahn. Eine Kehre, erneutes Tauchen. Dann zog der SLK-Fahrer an, machte ein paar kräftige Kraulbewegungen und ließ sich schließlich wieder im Wasser gleiten.

Der Schwimmer auf der Nebenbahn tat es ihm nach ein paar Sekunden gleich. Sie wiederholten die Prozedur einige Male, bis sie wieder den Anfang der Bahn erreichten. Mit einer flüssigen Bewegung glitten sie aus dem Wasser, betraten erneut die Startblöcke und dann wurde es ernst. Irgendein Zeichen ließ die beiden schlanken, muskulösen Körper der Männer explodieren. Sie stießen sich kraftvoll von den Startblöcken ab, peitschten ins Wasser und nahmen dort rasch Tempo auf.

Marek verfolgte gespannt das Rennen. Nach zwei Bahnen hatte der SLK-Fahrer das Nachsehen. Die Männer lockerten sich im Wasser, stiegen heraus, gingen auf die Startblöcke und waren mit einem Satz erneut im Wasser. Es ging erneut über zwei Bahnen, wieder schlug der SLK-Fahrer als zweiter an. Erst im dritten Durchgang errang er den Sieg, der den beiden Schwimmern nicht das Wichtigste zu sein schien.

Marek hatte genug gesehen. Harald Prossmann und Kai waren noch nicht in der Schwimmhalle erschienen. Marek nahm sein Smartphone. Er überlegte, öffnete dann die HIKE-App und begann eine Nachricht für Kowalskis Mörder zu tippen. Er beschrieb grob die Personen, die sich in der Schwimmhalle aufhielten und das Harald Prossmann jeden Moment dazu kommen würde. Marek zögerte, stellte dann aber doch die Frage, ob es jemanden gäbe, mit dem er in oder außerhalb der Schwimmhalle Kontakt aufnehmen solle. Er schickte die Nachricht ab. Wenig später betraten Harald Prossmann und Kai das Hallenbad.

Harald Prossmann trug einen blauen Bademantel. Marek sah noch, wie er sein ständig präsentes Smartphone in die rechte Seitentasche gleiten ließ. Kai ging ein paar Schritte vor ihm und hatte lediglich ein weißes Handtuch über den Oberkörper geworfen. Die beiden Männer gingen direkt zu den Duschen. Mareks Handy gab in diesem Moment einen Signalton von sich. Kowalskis Mörder hatte geantwortet.

»Niemanden ansprechen! Bereithalten! Wir melden uns!«

*

Thomas hatte sich auf den einzelnen Stuhl in Steffanie Hartfelds Miniküche gesetzt. Die Analoguhr an der Wand tickte auffallend laut. Es war zwanzig nach acht, als er sein Smartphone zückte und zunächst Kerstins Handynummer wählte. Dann las er Steffanie Hartfelds Handynummer von dem Zettel ab, den Marek ihm aufgeschrieben hatte. Marek hatte die Nummer in Kerstins altem Notizbuch gefunden, das sie in ihrem inzwischen gemeinsamen Arbeitszimmer aufbewahrte. Thomas horchte jeweils angestrengt, ob irgendwo in der Wohnung ein Klingeln zu vernehmen war. Die beiden Frauen und auch ihre Telefone waren nicht an diesem Ort, das schien erst einmal sicher zu sein. Es meldete sich auch keine von beiden auf den Anruf. Thomas ließ es sogar lange genug klingeln, bis jeweils die Mailbox ansprang. Er sah sich in der kleinen Küche um. Er wollte sich gerade in Richtung Kühlschrank erheben, als er selbst einen Anruf erhielt. Kurz blinkte die Weiterleitung von Mareks Festnetzanschluss auf.

»Hallo?«, meldete Thomas sich erwartungsvoll und wurde von einer Männerstimme enttäuscht.

»Hier ist die Polizei, wer ist da bitte?«, fragte der Anrufer mit fester Stimme.

Thomas atmete durch. »KOK Leidtner.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich. Polizeimeister Seemann hier. Sie hatten die Suche nach einem Kraftfahrzeug, einem roten Opel Astra Kombi, Typ K, beauftragt.« Der Polizeimeister nannte das Kennzeichen. »Die Halterin ist eine Frau Dr. Kerstin Sander.«

»Das ist er, haben Sie den Wagen gefunden?«

»Ja, darum rufe ich doch an.«

»Wo?«, fragte Thomas.

»Köpenick, Kladden Straße 27«, antwortete der Kollege.

»Moment!« Thomas stutzte, ging mit dem Telefon in der Hand ans Küchenfenster und blickte hinunter auf die Straße. Zwei Streifenwagen standen quer auf dem Bürgersteig, einer der Beamten beugte sich in seinen Wagen und telefonierte, während sich ein zweiter Beamter das Kennzeichen eines roten Opel Astras notierte und dann um den Wagen herumging.

»Und das zweite Fahrzeug?«, fragte Thomas. »Wir suchen auch noch einen weißen Astra. Halterin ist eine Steffanie Hartfeld.«

»Das ist uns bekannt«, bestätigte Polizeimeister Seemann. »Bislang allerdings Fehlanzeige. Wir konzentrieren uns derzeit noch auf Köpenick oder haben Sie einen Tipp, wo sich das Fahrzeug befinden könnte?«

»Nein, keine Ahnung, das ist ja gerade das Problem.« Thomas überlegte. »Frau Hartfeld kann allerdings überall in Berlin unterwegs sein. Sie sollten ...«

Thomas wurde durch ein Geräusch abgelenkt, das aus dem Flur der Wohnung kam. Er drehte sich in dem Moment um, als die Küchentür aufgestoßen wurde.

»Polizei! Ist da jemand?«

Ein uniformierter Beamter tastete sich einen Schritt in die Küche vor. Er wurde vom Flur aus durch seinen Kollegen abgesichert.

»Hallo, würden Sie bitte vom Fenster wegtreten. Zeigen Sie mir Ihre Hände.«

Thomas gehorchte streckte die Arme etwas in die Höhe, hielt das Telefon mit zwei Fingern und zeigte seine Handflächen.

»KOK Leidtner vom LKA«, gab er sich schließlich zu erkennen.

Mit der freien Hand zog er seine Marke aus der Hosentasche. Der Uniformierte senkte die Waffe und nickte. Thomas führte das Handy wieder ans Ohr.

»Ich bin oben in der Wohnung Kladden Straße 27, ich komme herunter.«

*

Harald Prossmann hatte seinen blauen Bademantel an einen der Haken neben der Dusche gehängt. Er drehte die Armatur auf und stellte sich sofort unter den kräftigen Wasserstrahl. Kai wartete noch, bis Prossmann fertig war, hängte sein Handtuch neben den Bademantel und stellte sich dann ebenfalls unter die Dusche. Anschließend gingen die beiden Männer hinüber zu den äußeren Schwimmbahnen auf der Hallenseite mit den bodentiefen Fenstern.

Marek aß den letzten Rest seines Twix und beobachtete wie Harald Prossmann und Kai die Badelatschen am Beckenrad auszogen. Prossmann lockerte sich mit ein paar Rumpfbeugen. Es sah so aus, als bereite er sich auf einen Wettkampf vor. Kai wandte sich inzwischen um und sondierte zum wiederholten Male die Schwimmhalle. Dann trafen sich seiner und Mareks Blick. Kai nickte unmerklich in Richtung der Frühstücksrentner, die sich sammelten, um gemeinsam die Halle zu verlassen. Ein letzter Schwimmer verließ gerade das Wasser. Während der Mann die Leiter hinauf stieg, sah er zu Harald Prossmann hinüber, der nun neben seinem Startblock ins Becken geglitten war und sich im Wasser mit ausgiebigen Streckbewegungen weiter aufwärmte.

Der verbliebene Frühstücksrentner hatte schließlich wieder festen Boden unter den Füßen und nahm seine Schwimmhaube ab, unter der er volles graues Haar hatte. Er griff sich seinen weißen Bademantel, der feinsäuberlich auf einer flachen Heizung an der Wand zu den Umkleidekabinen lag und zog ihn langsam über. Dabei schaute er weiterhin interessiert zu Harald Prossmann. Der Mann verschnürte sorgsam den Bademantel und es schien so, als wolle er gleich der kleinen Gruppe Frühstücksrentner in den Gang zu den Umkleidekabinen folgen. Dann hielt er aber noch einmal inne, wandte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.

Marek hatte den Mann beobachtet. Er erhob sich jetzt von seinem Stuhl und stellte sich direkt an die Panoramascheibe. Sein Blick wanderte zu Kai, der gerade seinen Startblock bestieg, kurz in die Hocke ging und dann mit einem eleganten Kopfsprung ins Wasser eintauchte. Harald Prossmann hatte inzwischen mit leichten Kraulbewegungen begonnen und war bis zur Mitte seiner Bahn geschwommen. Kai holte ihn auf der Nebenbahn mit drei kräftigen Zügen ein, drosselte dann aber sein Tempo und hielt sich schräg hinter Prossmann, der jetzt seinerseits anzog. Die erste Bahn war geschafft. Harald Prossmann tauchte zur Wende unter, stieß sich vom Anschlag ab und kam nach vier, fünf Metern wieder an die Oberfläche.

Währenddessen war der Rentner im weißen Bademantel auf die andere Seite des Schwimmbeckens geschlendert und blieb genau vor Harald Prossmanns Bahn stehen. Er bückte sich und sah schräg über die Wasseroberfläche. Dann schlug er den Bademantel zurück und setzte sich seitlich auf den Startblock.

Harald Prossmann näherte sich mit kräftigen Kraulbewegungen. Kai war weiterhin schräg hinter ihm, schien dann aber eine mögliche Gefahr zu registrieren. Augenblicklich erhöhte er sein Tempo, zog mühelos an Harald Prossmann vorbei und bremste erst zwei Meter vor dem Anschlag ab.

»Bravo!« Der Mann im weißen Bademantel klatschte. »Jetzt müssen Sie noch die Bande berühren, damit es gilt.«

Kai Bokel antwortete nicht. Harald Prossmann war aus dem Rhythmus gekommen. Er schnaube zweimal ins Wasser, bremste dann ab und erkannte, warum ihn Kai überholt hatte.

»Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, rief der Rentner im weißen Bademantel Harald Prossmann zu. »Aber ich habe gerade gedacht, den kenne ich doch.«

»Darf ich Sie auffordern ...«, begann Kai, wurde aber von Harald Prossmann unterbrochen, der mit zwei kurzen Zügen nähergekommen war.

»Lassen Sie mal«, sagte Prossmann zu Kai. »Ist ja ein öffentliches Bad hier.« Er lächelte den Rentner an. »Kennen wir uns denn?«

»Was? Nee, dass wohl nicht so direkt, aber Sie sind doch der Prossmann von den Sozis, äh, sorry, von den Sozialdemokraten?«

»Richtig, dann kennen wir uns also doch«, entgegnete Harald Prossmann während er sich mit Tretbewegungen über Wasser hielt.

Marek hatte seinen Posten verlassen. Er sah sich im Eingangsbereich der Schwimmhalle um. Links neben dem Kassenschalter führte eine Treppe hinauf zu einer Tür, über der das Wort Zuschauertribüne stand. Er nahm immer drei Stufen auf einmal, erreichte das obere Ende der Treppe und zog die Tür auf. Warme Luft strömte ihm entgegen, es roch noch stärker nach Chlor, das Wasserplätschern hallte von den Wänden. Marek blieb am Geländer der Zuschauertribüne abrupt stehen, um nicht sofort aufzufallen. Er sah hinunter auf die Szene, die sich am Beckenrand abspielte. Harald Prossmann und Kai Bokel waren noch im Wasser. Auf den Bahnen fünf und sechs lieferten sich der SLK-Fahrer und sein Gegner ein weiteres stilles Rennen. Sie glitten dynamisch durchs Wasser, ohne übermäßig Wellen zu schlagen. Marek schaute ihnen ein paar Sekunden zu. Die nächste Wende führten sie fast synchron durch.

Dann erhob sich der Rentner im weißen Bademantel vom Startblock. Marek konzentrierte sich wieder auf die Szene am anderen Ende der Schwimmhalle.

»Ich habe da mal eine Frage, wenn es gestattet ist, Herr Prossmann«, sagte er. Seine Stimme hatte jetzt einen provokativen Unterton.

Harald Prossmann schwamm zwei weitere Züge näher an den Beckenrand heran und nickte. »Bitte, nur zu, was kann ich für sie tun?«

»Danke, danke!« Der Rentner deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht erinnern Sie sich ja auch gar nicht mehr. Sagt Ihnen die Bordeauxstraße etwas?«

Harald Prossmann hob den Kopf etwas weiter aus dem Wasser. »Da muss ich wirklich überlegen, was Sie meinen.«

»Pankow«, sagte der Mann gedehnt. »Das ist jetzt allerdings schon sieben oder acht Jahre her.«

»Sieben oder acht Jahre«, wiederholte Harald Prossmann. »Ich bin jetzt wirklich etwas neben der Spur, guter Mann.«

»GOBe Bau, da müsste es doch jetzt bei Ihnen Klick machen. GOBe Bau, Gerhard Otto Berlin Bauunternehmung. Na, wie sieht es aus, sagt Ihnen das jetzt etwas?«

»Bordeauxstraße, Sie sprechen von dem Neubauvorhaben in der Französischen Siedlung. Marseille Straße, Toulon Straße, Rennes Straße?«

»Ganz toll, Sie haben es erfasst.« Der Rentner klatschte kurz in die Hände. »Ja, alles hat mit der Bordeauxstraße angefangen. Das war schon eine ganz schöne Schweinerei, was die mit den alten Leutchen da gemacht haben. Und die Politik stand auf Seiten von dieser Heuschrecke, diesem feinen Herrn Otto.«

»Waren Sie dort Mieter?«, fragte Harald Prossmann.

Jetzt konnte er sich tatsächlich an den Fall erinnern. Es war aber bestimmt schon neun Jahre her oder sogar noch länger. Die Neubebauung des Französischen Viertels wurde damals durch alle kommunalen Instanzen gepresst, ohne dabei auf die Interessen der alteingesessenen Anwohner Rücksicht zu nehmen. Er selbst hatte sich für die Neubebauung stark gemacht und die öffentliche Meinung damit beruhigen lassen, dass die alten Mieter nach Fertigstellung des ersten Bauabschnittes in die Bordeauxstraße zurückkehren könnten.

Das Projekt von Gerhard Otto sah aber keine Sozialwohnungen vor und so gab es auch keinen einzigen Rückkehrer in die Bordeauxstraße. Zwei der früheren Mieter hatten geklagt, wurden dann aber mit einer geringen Entschädigung abgefunden. Die meisten der Leute hatten aber schnell aufgegeben und die Öffentlichkeit hatte den Fall im ohnehin großen Bauboom des Berliner Aufbruchs schnell vergessen. In dieser Zeit gab es zudem weit größere Bauskandale.

Der Rentner im weißen Bademantel schüttelte langsam den Kopf. »Ich nicht, ich war kein Mieter der Bordeauxstraße, aber sehr wohl meine alte Frau Mama.«

Harald Prossmann nickte und hätte sich dabei fast im Wasser verschluckt. »Ich verstehe, es ist immer schwer, wenn alte Menschen eine Wohnung verlassen müssen, in der sie Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte gelebt haben.« Prossmann verstellte erneut seine Stimme und sprach jetzt mit einem betroffenen Unterton. »Ich hoffe nur, Ihrer Mutter geht es jetzt wieder gut, ich hoffe, sie ist darüber hinweggekommen, auch wenn es schwer war?«

Der Rentner rieb sich mit der rechten Hand das Kinn. »Sie ist vor zwei Jahren verstorben.«

»Oh, das tut mir leid.« Prossmann geriet mit Mund und Nase unter Wasser, aber er fing sich gleich wieder.

»Nein, nein, schon in Ordnung, sie war neunundachtzig, aber es war natürlich blöd, dass sie mit knapp achtzig aus ihrer Wohnung musste. Dreiundvierzig Jahre, sieben Monate und zwölf Tage, das ist schon mehr als ein halbes Leben.«

»Ich verstehe«, sagte Harald Prossmann nickend und musste erneut aufpassen, nichts von dem Chlorwasser zu schlucken. »Wir haben ja damals darauf gedrängt, dass die Mieter adäquaten Ersatz erhalten. Ich hoffe, das traf auch im Falle Ihrer Mutter zu?«

»Adäquat«, wiederholte der Rentner. »Ein tolles Fremdwort. Meine Mutter hatte es nicht so mit Fremdwörtern. Sie wollte einfach nur in ihrer alten Wohnung bleiben und dort irgendwann mal sterben. Sie hat auch keine neue Wohnung mehr bekommen. Es gab nichts Passendes und sie wollte nicht wieder von vorne anfangen, dreiundvierzig Jahre, da will man nicht mehr. Sie hatte zum Schluss ein fünfundzwanzig Quadratmeter Zimmer in einer Seniorenwohnanlage, natürlich war das eine Sozialwohnung. So richtig glücklich ist sie da allerdings nicht mehr geworden.« Der Mann stutzte. »Sind Sie denn heute noch der Meinung, dass das alles richtig war, mein lieber Herr Prossmann?«

Harald Prossmann überlegte und schüttelte dann langsam den Kopf. »Ich habe mich schon hinterher noch mal erkundigt, was aus den Leuten geworden ist. Einige haben es ganz gut getroffen, wegen der Abfindung und weil es ihnen nichts ausgemacht hat, umzuziehen. Ich habe in der Tat aber auch von anderen Fällen gehört. Man hätte den Leuten mehr Zeit geben müssen. Die Bordeauxstraße ist zu früh gefallen, man hätte bei den freien Flächen beginnen können, die erst viel später bebaut wurden.«

»Also geben Sie zu, dass es ein Fehler war?«

»Fehler?«, wiederholte Prossmann. »Man macht sicherlich immer auch Fehler, wenn man Entscheidungen treffen muss. Hinterher ist man oft klüger, das bleibt nicht aus. Nach meiner damaligen Sicht auf die Angelegenheit war es kein Fehler, das Bauvorhaben zu fördern. Es hat viel Gutes bewirkt, gerade für die Bezirke des ehemaligen Ostberlins, aber heute würde ich die eine oder andere Entscheidung nicht so treffen.«

»Sie geben es also doch zu?«

»Ja und nein. Im Falle Ihrer Mutter würde ich aus heutiger Sicht vielleicht anders entscheiden. Da hätte man sich intensiver kümmern müssen. Was mich allerdings noch mehr betroffen macht, ist die Tatsache, dass Sie mich nach all den Jahren wiedererkannt haben und ich Ihnen in so negativer Erinnerung geblieben bin.«

»Das war nicht schwer, sich an Sie zu erinnern«, sagte der Rentner. »Sie sind ja in letzter Zeit öfters mal in den Medien, wie man so schön sagt. Und verstehen Sie es nicht falsch, ich habe keinen Groll gegen Sie. Meine Mutter hätte ihre große Wohnung in der Bordeauxstraße ohnehin irgendwann aufgeben müssen. Es war nur blöd, dass es dann so schnell ging.«

»Dann kann ich jetzt also wieder meine Bahnen ziehen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen?«, fragte Harald Prossmann.

»Sicher, sicher! Tut mir leid, wenn ich Sie aufgehalten habe. Wenigstens haben Sie sich auf ein Gespräch eingelassen, das spricht schon mal für Sie.« Der Mann erhob sich vom Startblock.

Harald Prossmann nickte. »Keine Ursache.« Er begann mit den Armen zu rudern, um sich wieder aufzuwärmen. »Schönen Sonntag noch.«

»Ihnen auch, Herr Prossmann.«

Harald Prossmann tauchte unter, bis auf den Grund des Beckens und stieß sich dann vom Boden ab. Zurück an der Oberfläche begann er zu kraulen. Kai schloss sich ihm an und blieb dabei wieder zwei Körperlängen zurück. Marek hatte erst jetzt Gelegenheit, sich auf der Zuschauertribüne umzusehen. Er hörte das Klappern von Geschirr. In der Mitte der Tribüne waren die Stuhlreihen verschoben und durch einen langen, schmalen Tisch ersetzt worden. Eine Frau legte Servietten, Teller und Besteck auf, eine andere stellte diverse Marmeladen, Butter und Käse- und Wurstplatten daneben. Tüten mit Brötchen und ein aufgeschnittener Laib Brot wurden ebenfalls serviert.

Marek sah den Bemühungen der Frühstücksrentner mit knurrendem Magen zu. Er glaubte sogar aus der Ferne Brot und Brötchen riechen zu können. Er wollte hier nicht weiter stören und seinen Posten unten im Eingangsbereich wieder einnehmen. Er tat einen letzten Blick nach unten in die Schwimmhalle. Harald Prossmann schwamm weiter voraus, allerdings hatte Kai bis auf eine Körperlänge aufgeholt. Zwei Bahnen versetzt kam ihnen nur einer der Wettschwimmer entgegen. Marek sah sich sofort in der Halle um. Das Rennen war offenbar beendet. Der SLK-Fahrer hatte das Wasser verlassen, war aber nirgends zu sehen. Marek beugte sich vor, versuchte unter die Zuschauertribüne zu blicken. Hier war nur der Rentner im weißen Bademantel zu sehen, der gerade die Halle verließ.

Der bärtige Bademeister war ebenfalls wieder auf den Beinen. Er trug einen weißen Eimer, den er unter einen in die Wand eingelassenen Hahn stellte. Er ließ Wasser in den Eimer laufen, den er dann randvoll zu einer Roste in der Schwimmbeckenbegrenzung trug. Anschließend holte er sich noch einen Feudel und begann mit dem Wasser aus dem Eimer irgendeine Verschmutzung zu beseitigen.

*

Den roten Opel Astra Kombi hatte Kerstin erst vor acht Monaten als Jahreswagen gekauft. Thomas umrundete das Auto, das unauffällig zwischen einem VW-Käfer und einem Renault R5 parkte. Zunächst bemerkte er, dass das Handschuhfach offenstand, dann stellte er fest, dass der Wagen überhaupt nicht verschlossen war.

Thomas wandte sich an einen der uniformierten Beamten. »Wart ihr da schon dran?«

»Wie bitte?«

»Der Wagen ist nicht verschlossen.« Thomas deutete auf die Fahrertür und öffnete sie.

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Das war schon so, als wir ankamen. Hat der Kollege sich notiert. Wir haben aber innen noch nicht nachgesehen.«

Thomas nickte, schob die Fahrertür weiter auf und beugte sich in den Wagen. Er stützte sich auf den Fahrersitz. Das Handschuhfach war leer. An einer Seite klemmte lediglich eine Parkscheibe mit dem Logo der Charité Berlin. In der Ablage der Mittelkonsole lagen ein paar Münzen im Wert von höchstens zwei, drei Euro. Thomas griff unter Fahrer- und Beifahrersitz und förderte ein einzelnes Bonbonpapier hervor. Er stieg wieder aus und nahm sich über die hintere linke Tür die Rückbank vor. Dort lag eine ordentlich zusammengelegte Wolldecke, die ebenfalls das Logo der Charité trug. Mit der Hand fuhr Thomas unter die Decke und anschließend in den Fußraum und unter die Vordersitze. Ein Eiskratzer und ein Scheibenschwamm waren seine Fundstücke.

Er überlegte, wollte die Rückbank umklappen, stieg dann aber wieder aus dem Wagen und ging zur Heckklappe des Kombis. Durch die Scheibe konnte er nichts sehen, weil das Kofferraumrollo zugezogen war. Er öffnete die Heckklappe und starrte ein, zwei Sekunden auf die schwarze Damenhandtasche, die rechts in das Gepäcknetz geklemmt war. Er zögerte, löste die Tasche aus dem Netz und öffnete sie, um festzustellen, dass sie komplett leer war. Keine der üblichen Utensilien und auch kein Portemonnaie, keine Papiere, nichts. Der Uniformierte hatte sich hinter Thomas gestellt.

»Und, was gefunden?«

Thomas schüttelte den Kopf und zeigte die leere Handtasche. »Der Wagen war offen, da konnte jeder ran.«

»Glaube ich nicht«, sagte der Polizist ruhig. »Da war keiner an dem Wagen.«

»Wie wollen Sie das wissen?«, entgegnete Thomas.

»Erfahrung, das sähe anders aus. Erstmal ist nicht zu erkennen, dass der Wagen überhaupt aufgebrochen wurde. Und wenn, dann muss es bei den Jungs immer schnell gehen. Die klappen die Rückbank um, die gehen nicht über die Heckklappe nach hinten, wenn die schon im Wagen drin sind. Und dann hätten die die ganze Tasche mitgenommen und den Inhalt später ausgekippt und nur das geklaut, was von Wert ist. Der Wagen ist unberührt. Die Halterin hat nur vergessen abzuschließen ...«

»Und was ist mit dem Handschuhfach, das stand doch offen?«

»Das mache ich auch immer so, um zu zeigen, dass bei mir nichts zu holen ist.« Der Uniformierte zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie gar nicht erst abgeschlossen hat, bevor sie der Versicherung noch eine aufgebrochene Autotür melden muss und am Ende vermutlich doch auf dem Schaden sitzenbleibt. Hier in der Gegend ist das ganz clever, wenn man nicht zu viel abschließt und richtige Wertsachen sollte man ja ohnehin nicht im Auto lassen.«

Thomas überlegte und nickte dann. »Vielleicht haben sie damit recht. Sie hat nämlich bei einer Freundin übernachtet.« Thomas deutete zu dem Wohnhaus. »Sie hatte wahrscheinlich einen kleinen Koffer oder eine Tasche dabei, hat die Wertsachen aus der Handtasche umgepackt und hinterher tatsächlich vergessen ihren Wagen abzuschließen.«

Der Uniformierte schaute Thomas merkwürdig an. »Ist die Dame denn verschwunden?«

»So kann man das nicht sagen.« Thomas überlegte und entschied sich Mareks Version zu verwenden, warum sie nach Kerstin und ihrer Freundin Steffanie Hartfeld fahnden ließen. »Frau Dr. Sander ist Ärztin und in einer medizinischen Angelegenheit, die keinen Aufschub bedarf, wünscht man offenbar ihre fachliche Meinung. Leider konnte niemand sie bisher telefonisch oder sonst wie erreichen und so ...«

»Das haben wir oft, dass wir dringend nach irgendwelchen Personen suchen müssen«, unterbrach der Polizist Thomas kopfschüttelnd. »Und hinterher ist es dann doch nicht so wichtig. Die Leute sind am Wochenende gerne ungestört, warum lässt man sie nicht in Ruhe.«

»In diesem Fall möchten wir Frau Dr. Sander aber gerne finden.«

»Schon gut«, sagte der Streifenpolizist schnell. »Wir sind ja an der Sache dran, keine Bange. Was ist denn jetzt mit dem Koffer oder der Tasche. Sie kommen doch von oben, gibt es da keinen Hinweis, wo sich die Dame aufhält? Haben Sie ihr Gepäck denn in der Wohnung nicht gefunden?«

»Guter Hinweis«, antwortete Thomas. »So wie es aussieht werde ich wohl noch einmal nachsehen müssen.«

*

Marek sah sich auf der Zuschauertribüne der Schwimmhalle in der Finckensteinallee um. Hinter der Frühstücksgesellschaft, am anderen Ende der Tribüne gab es einen weiteren Ausgang. Er überlegte kurz, ging dann am Geländer entlang. Er musste ein paar Stufen hochsteigen, um an dem einladend gedeckten Tisch vorbei zu kommen. Es roch herrlich nach frischem Kaffee. Es machte Klack, als jemand ein Marmeladenglas öffnete. Marek sah sich nach dem Geräusch um. Eine Frau mit einem altmodischen Pagenkopf lächelte ihn an.

»Na, junger Mann, mögen Sie etwas selbstgemachte Quittenkonfitüre. Sie sehen so hungrig aus. Ein oder zwei Brötchen haben wir für solche Fälle immer übrig.«

Zwei andere Damen lachten und zogen gemeinsam einen der Stühle vor. Marek schüttelte den Kopf.

»Ich sehe nicht nur hungrig aus, ich bin es auch.« Er überlegte kurz. »Aber leider keine Zeit. Ich bin verabredet. Wo geht es denn dort eigentlich hin?« Er deutete zu der Tür am anderen Ende der Tribüne.

»Immer haben die jungen Leute keine Zeit.« Die Frau mit dem Pagenkopf und der selbstgemachten Konfitüre schüttelte den Kopf.

»Da können Sie nur hin, wenn Sie Badehose, Latschen und Handtuch dabei haben«, sagte eine andere Dame. »Da geht es zur Umkleide.«

»Danke, ich will nur kurz nachsehen, ob mein Bekannter dort ist«, sagte Marek und schob den angebotenen Stuhl wieder an den Frühstückstisch.

Er nickte den Damen noch einmal zu und strebte der Glastür entgegen. Jemand aus der Frühstücksgesellschaft rief ihm noch etwas hinterher, das er erst verstand, als er die Tür erreichte und feststellte, dass sie sich von der Tribünenseite aus nicht öffnen ließ. Es gab bestimmt einen Schlüssel. Marek wollte schon zurück gehen, als er hinter dem Glas der Tür eine Bewegung wahrnahm. Einen Augenblick später trat ihm der Rentner entgegen, der mit Harald Prossmann gesprochen hatte und immer noch seinen weißen Bademantel trug. Er zog die Tür ganz auf, schlüpfte an Marek vorbei und hielt ihm mit einem freundlichen Nicken die Tür geöffnet.

»Danke!«, sagte Marek.

Der Mann grinste. »Sie gehören doch bestimmt zu Prossmanns Aufpassern? Ich habe wohl gemerkt, dass Sie mich die ganze Zeit im Auge hatten, genauso wie die Frostbeule, die im Wasser gelauert hat.« Der Rentner lachte jetzt.

Marek klopfte ihm auf die Schulter. »Gut erkannt. Wir rufen Sie sofort an, wenn mein Kollege und ich mal freinehmen wollen. Sie verstehen sich ja ganz gut mit unserem Boss.«

Der Rentner lachte noch einmal heftig auf und musste danach seinen Bademantel neu schnüren. »Ja, junger Mann, so machen wir’s.«

Marek trat durch die Tür und ließ sie hinter sich zufallen. Er sah eine Metalltreppe hinunter, die vor einer weiteren Tür mit Glasausschnitt endete. Unten war nur ein schwacher Lichtschein zu sehen. Marek ging die Treppe zügig nach unten. Zum Glück war die zweite Tür nicht verschlossen und führte auf einen kurzen Gang der am Ende in einen zweiten, querverlaufenden Flur mündete. Es roch wieder stärker nach gechlortem Wasser. An der gefliesten Wand vor ihm deutete ein Schild zu den Umkleidekabinen. Rechts ging es zu den Männern.

Marek überlegte nicht lange und schlug diesen Weg ein. Die Geräusche aus der Schwimmhalle wurden lauter. Auf der linken Seite des gekachelten Flurs befand sich eine zweiflüglige Glastür, die in den Badebereich führte. Harald Prossmann verschnaufte gerade am Ende seiner Schwimmbahn, wartete allerdings nur auf den Anschlag von Kai, um sich sofort wieder vom Beckenrand abzustoßen. Mareks Blick wanderte durch die Schwimmhalle. Sonst war niemand mehr dort. Der Überstand der Zuschauertribüne verhinderte, dass er die Frühstücksrentner sehen konnte, dafür war ein gedämpftes Stimmengewirr und Lachen zu hören.

Marek ging den Flur wieder ein paar Meter zurück. Ein Wegweiser neben einer metallbeschlagenen Tür markierte den Zugang zu der Herrenumkleidekabine und zeigte auch noch einmal die Richtung zu der Damenumkleide an und zum Treppenaufgang, der zur Zuschauertribüne führte. Marek schaute auf seine Armbanduhr. Es war fünf nach halb neun. Dann betrat er den Raum, in dem das Licht eingeschaltet war. In der Mitte der Umkleidekabine teilte eine lange Bank den Raum. Rechts und links an den Wänden davor befanden sich die deckenhohen Schließfachschränke. Die Schranktüren im vorderen Bereich waren alle matt weiß lackiert und mit einem einfachen Schloss versehen. In fast allen Türen steckten die Pfandschlüssel mit ihren roten Handgelenkriemen.

Marek nahm sich zunächst die rechte Seite der Umkleidekabine vor. Er zählte zwei verschlossene Spinde bis die Reihe durch eine von innen mit Wasserdampf beschlagene Glastür unterbrochen wurde. Marek kontrollierte die Reihe zu Ende, kehrte dann zu der Glastür zurück und stieß sie auf. In dem gefliesten Raum dahinter befanden sich die Duschen. Die feuchte Luft roch nach parfümiertem Duschgel. Marek zählte fünfzehn Brausen, die U-förmig an den Wänden des Raumes angeordnet waren. Auf der linken Seite gab es sogar geschlossene Duschkabinen, die nur nach vorne offen waren.

Marek machte zwei Schritte in den Raum hinein. Der geflieste Boden war feucht. Seine Schuhe hinterließen Abdrücke, so dass er die Duschen mit einem großen Schritt rückwärts wieder verließ. Er sah sich weiter in der Umkleidekabine um. Auf der Bank in der Mitte lagen zwei Fahrradspangen aus Metall. Marek bückte sich und sah auch unter der langen Sitzfläche nach. Außer einem noch gefalteten Papiertaschentuch fand sich hier nichts.

Dann nahm er sich die linke Seite der Umkleidekabine vor. Er kam an insgesamt vier verschlossenen Schränken vorbei. Am Ende der Reihe und auch nur auf der linken Seite, gab es insgesamt acht breitere Schränke mit stahlarmierten Türen und deutlich aufwändigeren Sicherheitsschlössern. An drei dieser Schränke waren Schilder mit Vor- und Zunamen ihrer Besitzer geklebt, bei einem allerdings nur die Initialen H und P. Es war ein geprägtes Plastikschild.

Marek fuhr mit dem Finger über die Vertiefungen der Buchstaben. Dann entdeckte er, dass die Tür nicht verschlossen war. Der Schließzylinder sah allerdings unversehrt aus. Marek tastete die Unterseite der Schranktür ab. Er fand eine Riefe, eine rechteckige Vertiefung. An dieser Stelle hatte jemand ein Brecheisen oder etwas Ähnliches angesetzt. Marek zog die Tür auf. Die Innenverriegelung war aus dem Holz gebrochen. Der Schrank war vollkommen leer, soweit Marek es sehen konnte. Er fasste ins oberste Fach und ertastete ganz hinten einen Pappkarton. Er zog sofort die Finger zurück. Er stellte sich auf die Bank, die sich vor den Schränken befand und konnte den Pappkarton jetzt sehen, ein roter Schuhkarton mit Label der Marke Puma.

Marek überlegte fast eine ganze Minute lang, starrte dabei den roten Karton einfach nur an, dann griff er mit beiden Händen zu und zog das Ding vor. Er nahm den Karton auf, der nicht so leicht war, als wäre er leer. Dennoch stieg er mit dem Karton in den Händen von der Bank, ging in die Hocke und stellte ihn auf der Sitzfläche ab. Wieder verging eine halbe Minute, in der er unschlüssig war. Er atmete tief ein und nahm den roten Pappdeckel schließlich vom Karton. Eine durchsichtige Plastiktüte, aus der ein Kabel ragte, innen ein schwarzer Kasten.

»Den habe ich ja ganz vergessen. Prima, dann können Sie den Kram ja gleich mitnehmen.«

Marek schnellte hoch. In der Tür zur Umkleidekabine stand der Bademeister, der Marek jetzt überrascht ansah.

»Entschuldigung, Sie sind doch einer von Herrn Dr. Prossmanns Bodyguards. Das hat Ihr Kollege vor zwei Wochen hier liegengelassen. Ich glaube das ist so ein Sprechgerät, wie die das bei Mission Impossible benutzen, nicht wahr. Ich habe es in den defekten Schrank gelegt, weil ich dachte, dass das mal einer von Euch mitnimmt.«

Er deutete auf den Umkleideschrank mit dem Initialen H und P, vor dem Marek stand.

»Defekt?«, wiederholte Marek. »Der Schrank wurde doch wohl aufgebrochen?«

»Ja klar, das haben wir gemacht«, erklärte der Bademeister. »Er hat ihn ja nicht mehr aufschließen können. Das haben wir schon zweimal mit diesen blöden Sicherheitsschlössern gehabt. Muss wohl ein Produktionsfehler sein. Herr Dr. Prossmann benutzt jetzt einen der anderen großen Schränke, wenn der nicht auch irgendwann einmal klemmt.« Er stutzte. »Ich könnte allerdings mal sein Schild darauf schrauben, aber man hat ja auch so genug zu tun.«

Marek hatte verstanden und erkannte jetzt auch das Headset, das dort in dem Pappkarton lag. Er nahm es heraus, hielt es kurz hoch und steckte es in seine Jackentasche.

»Danke fürs Aufbewahren.«

»Keine Ursache.« Der Bademeister zögerte. »Waren Sie gerade mit ihren Drecklatschen im Schwimmbad?«

Marek sah auf seine Schuhe, die eigentlich frisch geputzt waren und glänzten. Und er dachte an die Duschen, die er vor wenigen Minuten betreten hatte. »Kann sein, ich bin den Gang ...«

»Haben Sie die rote Linie nicht gesehen, da ist für Straßenschuhe Schluss«, belehrte ihn der Bademeister. »Bitte auch die Duschen nur mit Badeschlappen betreten.«

Marek nickte. »Entschuldigung, wird nicht wieder vorkommen. Und wo geht es da hin?« Marek zeigte auf eine Tür, die sich auf der Stirnseite zwischen der linken und rechten Schrankreihe befand und die einen Spalt offenstand.

»Wenn Sie das unbedingt kontrollieren müssen, dann können Sie da meinetwegen mit ihren Straßenklamotten durch, da geht es nämlich ohnehin nach draußen. Aber da ist abgeschlossen.« Dann zeigte der Bademeister in die entgegengesetzte Richtung. »Ich muss jetzt wieder in die Schwimmhalle, bevor da noch jemand absäuft.«

Genauso plötzlich wie der Mann erschienen war, war er auch wieder verschwinden. Marek ging zur Durchgangstür und fühlte am Türspalt einen leichten Luftzug. Er stieß sie vorsichtig auf. Der Durchzug wurde stärker. Vor ihm lag ein drei bis vier Meter langer, dunkler Flur, an dessen Ende Tageslicht zu sehen war. Der Flur führte offenbar aus dem Gebäude heraus. Auf der linken Seite gab es eine weitere Tür. Ein Lichtstreifen flutete aus dem Türspalt.

Marek hörte Geräusche, dann verdunkelte etwas den Ausgang am Ende des Flurs. Im selben Moment wurde es aber wieder heller. Jemand hatte die seitliche Tür ganz geöffnet und trat in den Flur. Marek erkannte den SLK-Fahrer, dessen Haar noch feucht glänzte. Der Mann sah Marek nicht, sondern ging sofort Richtung Ausgang. Dort tauchte ein zweiter Mann auf. Er öffnete gerade die Ladetüren eines blauen Transporters, den er von hinten an den Ausgang gefahren hatte.

Marek ging weiter bis er ins Licht trat, das einen Abschnitt des Flures erhellte. Er sah in den Raum, aus dem das Licht kam. Der zweite Wettschwimmer, noch im Bademantel, machte sich dort an einem Karton zu schaffen, der in einem der Regale stand. Dann kam der SLK-Fahrer auf Marek zu. Er hielt einen Karton in der Hand. Ihm folgte der Fahrer des Transporters, der einen blauen Arbeitsoverall trug und ebenfalls mit einem Karton beladen war. Marek holte sein Smartphone hervor, öffnete die HIKE-App und hielt dem SLK-Fahrer das Telefon mit dem Display nach vorne hin. Der Mann blieb stehen, schien im ersten Moment überrascht zu sein, fasste sich dann aber wieder und schüttelte den Kopf.

»That funktioniert here not very gut, but draußen auf dem parking area it is much better«, sagte er mit amerikanischem Akzent und nickte mit dem Kopf hinter sich Richtung Ausgang.

Der SLK-Fahrer lächelte und zwängte sich an Marek vorbei in den Lagerraum. Der Transporter-Fahrer nickte nur und folgte seinem Kollegen. Marek bedankte sich und ging zum Ausgang. Draußen warf er einen Blick in den Transporter. An der linken Seitenwand hing ein Netz mit Wasserbällen daneben standen Kartons in denen sich gelbe und weiße Stoffkappen befanden, die seitlich aufgesetzte Ohrenschützer aus Plastik besaßen. Rechts zogen sich Kleiderstangen über die Wand des Transporters, auf denen trikotähnliche Frauenbadeanzüge aufgefädelt waren. Hinten im Transporter erkannte Marek noch zwei Wasserballtore und mehrere Rollen mit Bahntrennleinen, die abwechselnd rote und weiße Schwimmkörper besaßen.

Marek war sich sofort klar, dass er sich auf der falschen Spur befand. Er zögerte dennoch und überlegte, ob er es bei den Männern, die offenbar eine Frauenwasserballmannschaft betreuten, noch einmal versuchen sollte. Vielleicht handelte es sich nur um eine Tarnung und Kowalskis Mörder wollte sich nicht so schnell zu erkennen geben. Marek trat hinaus auf den Parkplatz. Er betrachtete sein Telefon und war sich unschlüssig, ob er eine weitere Nachricht absetzen sollte. Er hatte seine Anweisung, man würde ihn ansprechen, wenn es so weit war.

Die beiden Männer kehrten zum Transporter zurück. Der SLK-Fahrer lächelte Marek noch einmal nickend zu und stieg dann hinter seinem Kollegen auf die Ladefläche. Marek wandte sich ab und ging über den Parkplatz um die Schwimmhalle herum, zurück zum Haupteingang. Die junge Frau mit dem Namen Nadine saß gelangweilt am Schalter der Kasse und blickte nur kurz auf, als er die kleine Halle betrat. Er lächelte sie an und ging dann zurück zu dem Stuhl, der noch immer direkt vor der Panoramascheibe stand. Harald Prossmann und Kai Bokel zogen weiterhin ihre Bahnen. Prossmann hatte jetzt aber das Tempo herausgenommen und vom Kraulen auf Brustschwimmen umgestellt.

Marek drehte sich um und sah schräg nach oben zur Zuschauertribüne. Der Tisch der Frühstücksrentner schien jetzt komplett besetzt zu sein. Ein Mann mit grauem Haarkranz gestikulierte. Es wurde offenbar gelacht, die Stimmung war gut. Marek sah sich weiter in der Schwimmhalle um. Im Durchgang zu den Umkleidekabinen ließ sich der SLK-Fahrer kurz blicken. Er trug eine Rolle der Bahntrennleinen, legte sie neben der Glastür ab und verschwand wieder. Zehn Minuten später stiegen Harald Prossmann und Kai aus dem Wasser und verschwanden ebenfalls in Richtung Umkleidekabinen.

In Mareks Jackentasche begann plötzlich das Telefon zu vibrieren. Als er es herausnahm, zeigte die HIKE-App eine neue Nachricht an. Er überflog den Text. Kowalskis Mörder beglückwünschte ihn dafür, dass er es bislang ganz gut machte und auf seinem Posten war.

»... die Regeln ändern sich jetzt ...«, las Marek weiter. »... du weisSt, wo es heute noch hingeht. Halte die Augen offen. Melde dich, wenn sich für uns eine Gelegenheit bietet. Melde alles, von dem du glaubst, dass es uns nützen kann ...«

»... melde alles, das uns nützen kann ...«, ging es Marek durch den Kopf. Was sollte das hier werden. Ihm war von Anfang an klar, dass er das Werkzeug eines Verbrechers werden sollte. Es war allerdings etwas anderes, so konkrete Anweisungen zu erhalten, wie sie die letzte Nachricht beinhaltet hatte. Marek antwortet mit einem schlichten »Verstanden!«.

Kowalskis Mörder

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