Die Macht der Mehrsprachigkeit
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Olga Grjasnowa. Die Macht der Mehrsprachigkeit
Отрывок из книги
Zum Buch
Mehrsprachigkeit ist, wie die Schriftstellerin Olga Grjasnowa zeigt, ein Phänomen mit erstaunlich vielen Facetten. Oft gilt sie nur als Kennzeichen guter oder gar elitärer Bildung, dabei ist sie für immer mehr Menschen und Familien hierzulande eine Selbstverständlichkeit. In jedem Fall handelt es sich um eine Fähigkeit, die etwas über die individuellen Biografien wie auch über die sich wandelnde Gesellschaft insgesamt erzählt. Wie ist es, zwischen zwei oder sogar drei Sprachen hin und her wechseln zu können? Warum wird Französisch als Zweitsprache mehr geachtet als Türkisch? Sollte Mehrsprachigkeit nicht generell viel mehr Wertschätzung erfahren und gezielt gefördert werden? Und sorgen die immer leistungsstärkeren Übersetzungsapps und Englisch als die neue Lingua franca womöglich dafür, dass wir uns jeweils mit nur noch einer Sprache begnügen? Grjasnowas faszinierender Text ist Ausdruck ihrer Überzeugung, dass Sprache und Identität eng zusammenhängen – und dass jede Sprache einen ganz eigenen Zugang zur Welt eröffnet.
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Sprache ist nicht statisch, Familiensprachen und Muttersprachen können sich ändern, ob als Folge von Migration, Vertreibung und Kriegen oder einer Liebe wegen. Selbst im hohen Alter ist ein Sprachwechsel möglich. In meiner Familie wechselte man die Sprachen, Länder und Alphabete mehrmals, manchmal sogar innerhalb von wenigen Jahren und ohne überhaupt die eigene Wohnung zu verlassen. Familiengeschichten, Erinnerungen und Menschen gingen dabei verloren, manche Erinnerungen wurden willentlich ausgelöscht, andere konnten gerettet und weitergegeben werden. Dass ausgerechnet Deutsch die erste Sprache meiner Kinder werden würde, ist nicht frei von historischer Ironie.
Mir ist es wichtig, dass meine Kinder mehrsprachig aufwachsen. Vielleicht ist es der reine Überlebenswille, denn Sprachkenntnisse können Leben retten. Jede Sprache öffnet darüber hinaus ungeahnte Möglichkeiten und viele Türen – oft gerade dann, wenn man gar nicht damit rechnet. Sprachen ermöglichen uns, andere Menschen kennenzulernen, auf sie zuzugehen und sie im umfassendsten Sinne des Wortes zu verstehen. Dasselbe gilt für andere Kulturen und manchmal sogar für uns selbst. Mit jeder Sprache, die wir beherrschen, kommen wir besser in anderen Umgebungen, Situationen und Ländern zurecht – oder aber auch einfach nur mit den Nachbarn. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«2 Mit jeder weiteren Sprache überschreiten wir also diese Grenzen. Wir lernen andere Küchen, Autor*innen, Musiker*innen, Künstler*innen, Philosoph*innen kennen, zu deren Œuvre wir sonst keinen Zugang gehabt hätten.
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